Normen
FrPolG 2005 §56 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §61 Z3;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
FrPolG 2005 §56 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §61 Z3;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 8. Juni 2006 erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, ein für die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.
Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei im Juni 1979 in Österreich geboren. Allerdings sei er im Alter von zwei Monaten in die Türkei zurückgebracht worden. Erst fünf Jahre später - im Jahr 1984 - sei er nach Österreich zurückgekehrt. Die Pflichtschulausbildung habe er in Lustenau absolviert. Anschließend sei er für zwei Monate berufstätig gewesen. In der Zeit von Mai bis August 1995 habe sich der Beschwerdeführer in der Türkei aufgehalten. Nach seiner Rückkehr nach Österreich sei er einer Beschäftigung nachgegangen. Am 17. August 1995 sei dem Beschwerdeführer ein unbefristeter Sichtvermerk erteilt worden. Ab dem Sommer 1996 sei er arbeitslos gewesen. In diesem Jahr habe der Beschwerdeführer auch den Kontakt zu seinen Eltern, bei denen er bis dahin gewohnt habe, abgebrochen. Bis Frühjahr 1997 sei er unsteten Aufenthalts und in der Zeit vom 3. Mai 1997 bis 18. Februar 1998 inhaftiert gewesen. Wegen strafgerichtlicher Verurteilungen sei von der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn mit Bescheid vom 15. Jänner 1998 (nach den Bestimmungen des am 31. Dezember 2005 außer Kraft getretenen Fremdengesetzes 1997) ein für die Dauer von fünf Jahren gültiges Aufenthaltsverbot erlassen worden, dessen Gültigkeit im ersten Rechtsgang von der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg auf sechs Jahre verlängert worden sei. Infolge dessen sei der Beschwerdeführer am 16. November 1999 in die Türkei abgeschoben worden, wo er sich nach wie vor befinde.
Da der Verwaltungsgerichtshof den im ersten Rechtsgang ergangenen Berufungsbescheid der genannten Sicherheitsdirektion vom 19. Mai 1998 mit Erkenntnis vom 17. November 2005, Zl. 2005/21/0122 (vormals Zl. 99/21/0208), mit dem Hinweis, es bestünden Anhaltspunkte, dass der Beschwerdeführer über eine Berechtigung nach dem ARB 1/80 verfüge, aufgehoben habe, sei nunmehr über die Berufung des Beschwerdeführers neuerlich zu entscheiden.
Im weiteren gab die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid die Daten der Urteile des Landesgerichts Feldkirch vom 9. Oktober 1995 (Freiheitsstrafe von 10 Monaten, wobei ein Teil derselben von 8 Monaten bedingt nachgesehen worden sei) sowie vom 21. Juli 1997 (Freiheitsstrafe von 8 Monaten), ohne allerdings das diesen Verurteilungen zugrundeliegende Fehlverhalten festzustellen, wieder.
In ihrer rechtlichen Beurteilung führte die belangte Behörde aus, die Verurteilungen erfüllten die Voraussetzungen des Tatbestandes nach § 60 Abs. 2 Z 1 FPG. Somit gelte dies als bestimmte Tatsache im Sinn des § 60 Abs. 1 FPG und rechtfertige die Annahme, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährde sowie anderen im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderlaufe. Da - so die weiteren Folgerungen der belangten Behörde - die im § 60 Abs. 1 FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt getroffen werden könne, sei auch "das Aufenthaltsverbot im Grunde des § 86 Abs. 1 erster Satz FPG zulässig".
Des Weiteren legte die belangte Behörde noch dar, weshalb ihrer Ansicht nach auch die nach § 66 FPG durchzuführende Interessenabwägung der Erlassung des Aufenthaltsverbotes nicht entgegenstehe.
Zur Dauer des Aufenthaltsverbotes führte die belangte Behörde aus, dass es auf Grund des "schweren Gesamtfehlverhaltens" des Beschwerdeführers, das zu gerichtlichen Verurteilungen geführt habe, erforderlich erscheine, ein Aufenthaltsverbot in der Dauer von fünf Jahren auszusprechen, um die angestrebten Verwaltungszwecke, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, den Schutz der Gesundheit Anderer und die Verhinderung weiterer Straftaten, zu erreichen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 12. Juni 2007, Zl. B 1344/06-8, ablehnte und dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Dieser hat über die ergänzte Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Der Beschwerdeführer richtet sich gegen die von der belangten Behörde vorgenommene Gefährdungsprognose und führt dazu aus, die belangte Behörde habe kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und die für eine gesetzmäßige Beurteilung notwendigen Feststellungen nicht getroffen. Auch fehlten maßgebliche Feststellungen zu jenen Umständen, die eine Beurteilung ermöglicht hätten, ob die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes unzulässig wäre. Insbesondere wird in der Beschwerde in diesem Zusammenhang vorgebracht, dass dem Beschwerdeführer vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 hätte verliehen werden können.
Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.
Die belangte Behörde erkannte zutreffend, dass sie im vorliegenden Fall wegen der Übergangsvorschrift des § 125 Abs. 1 FPG dieses Gesetz anzuwenden und mit Blick auf die dem Beschwerdeführer konstatierte Berechtigung nach dem ARB 1/80 die Zulässigkeit des Aufenthaltsverbotes anhand des § 86 Abs. 1 FPG zu prüfen hatte (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3. April 2009, Zl. 2008/22/0913, mwN).
Diese Bestimmung lautet (in der hier maßgeblichen Stammfassung, samt Überschrift):
"Sonderbestimmungen für den Entzug der Aufenthaltsberechtigung und für verfahrensfreie Maßnahmen
§ 86. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.
..."
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner ständigen Rechtsprechung schon hinsichtlich der Prüfung der Zulässigkeit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes für die nach § 60 Abs. 1 FPG vorzunehmende Gefährdungsprognose ("Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" oder "Zuwiderlaufen anderen im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen") darauf hingewiesen, dass dabei nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 24. November 2009, Zl. 2009/21/0267, mwN). Dies gilt umso mehr auch für die gegenüber § 60 Abs. 1 FPG einen strengeren Maßstab gebietenden Gefährdungsprognosen nach § 56 Abs. 1 FPG ("schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit") und § 86 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG ("tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die Ordnung oder Sicherheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt") sowie des fünften Satzes des § 86 Abs. 1 FPG ("nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit"; vgl. zum Ganzen näher das hg. Erkenntnis vom 20. November 2008, Zl. 2008/21/0603).
In Verkennung dieser Rechtslage traf die belangte Behörde allerdings keine Feststellungen zum (Fehl-)Verhalten des Beschwerdeführers, anhand derer die hier von ihr nach § 86 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG zur Anwendung gebrachte Gefährdungsprognose nachvollzogen hätte werden können. Darüber hinaus hat die belangte Behörde aber auch mit ihrer Ansicht, auf Grund der Bejahung der nach § 60 Abs. 1 FPG zu treffenden Gefährdungsprognose ergebe sich auch die Rechtmäßigkeit eines auf § 86 Abs. 1 FPG zu stützenden Aufenthaltsverbotes, die Rechtslage verkannt (vgl. zum System der "abgestuften Gefährdungsprognosen" nochmals das bereits erwähnte Erkenntnis vom 20. November 2008). Dass die bloße Tatsache des Vorliegens von Verurteilungen für sich genommen ein Aufenthaltsverbot nach § 86 Abs. 1 FPG nicht zu tragen vermag, ergibt sich im Übrigen bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, wonach strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne Weiteres die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes begründen können (vgl. Pkt. 3 des hg. Erkenntnisses vom 26. September 2007, Zl. 2007/21/0197).
Ausführliche Feststellungen zu dem dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Verhalten, insbesondere auch zu den diesbezüglichen Tatzeiten, wären aber auch deshalb notwendig gewesen, um beurteilen zu können, ob im vorliegenden Fall die gegenüber § 86 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG nochmals verschärfte Gefährdungsprognose des fünften Satzes des § 86 Abs. 1 FPG zur Anwendung zu bringen wäre. Aus dem im angefochtenen Bescheid enthaltenen Feststellungen ergibt sich nämlich, dass der Beschwerdeführer seit 1984 wieder in Österreich lebte. Ausgehend davon erfolgte die erste, im angefochtenen Bescheid herangezogene Verurteilung jedenfalls erst nach einer Aufenthaltsdauer von zehn Jahren (nämlich im Oktober 1995). Soweit im angefochtenen Bescheid an einer Stelle bloß pauschal darauf hingewiesen wird, der Beschwerdeführer habe "im Zeitraum Sommer 1994 bis Jänner 1995" strafbare Handlungen begangen, so ist auch anhand dessen eine Beurteilung, welcher Gefährdungsmaßstab im vorliegenden Fall anzulegen ist, nicht möglich, weil weder der konkrete Zeitpunkt der Einreise des Beschwerdeführers im Jahr 1984 noch jener der strafbaren Handlungen im "Sommer 1994" festgestellt wurde.
Derartige Feststellungen wären aber auch mit Blick auf § 61 Z 3 FPG, wonach ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden darf, wenn dem Fremden vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 verliehen hätte werden können, es sei denn, der Fremde wäre wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung rechtskräftig zu mindestens einer unbedingten einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, oder er würde einen der in § 60 Abs. 2 Z 12 bis 14 FPG bezeichneten Tatbestände verwirklichen, geboten gewesen. Der Beschwerdeführer wurde weder zu einer unbedingten einjährigen Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt, noch führte die belangte Behörde aus, er hätte durch sein Verhalten einen der in § 60 Abs. 2 Z 12 bis 14 FPG bezeichneten Tatbestände verwirklicht. Sohin käme der Beurteilung, ob dem Beschwerdeführer vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1995 verliehen hätte werden können, maßgebliche Bedeutung zu, was aber ebenfalls wegen des Fehlens ausreichender Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden kann.
Der angefochtene Bescheid war sohin wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am 27. Mai 2010
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