VwGH 2006/11/0086

VwGH2006/11/008618.5.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des M S in S, vertreten durch Mag. Egon Lechner, Rechtsanwalt in 6232 Münster, Entgasse 320, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates in Tirol vom 18. Juli 2005, Zl. uvs-2005/23/0623-7, betreffend Vorführung zum Amtsarzt und Unterbringung (weitere Partei: Bundesminister für Gesundheit),

Normen

PersFrSchG 1988 Art1 Abs3;
PersFrSchG 1988 Art1 Abs4;
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1 Z5;
UbG §3;
UbG §8;
UbG §9 Abs1;
UbG §9 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
PersFrSchG 1988 Art1 Abs3;
PersFrSchG 1988 Art1 Abs4;
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1 Z5;
UbG §3;
UbG §8;
UbG §9 Abs1;
UbG §9 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

1. zu Recht erkannt:

Der angefochtene Bescheid wird, soweit damit die Fesselung des Beschwerdeführers für rechtmäßig erklärt wird, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

2. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Begründung

Mit Bescheid vom 18. Juli 2006 wies der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol (UVS) die gegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt - Maßnahmen zur Öffnung der Tür zum Kellerabteil des Beschwerdeführers, Fesselung und Vorführung des Beschwerdeführers zum Amtsarzt sowie Verbringung in eine Krankenanstalt - am 26. Jänner 2005 durch Organe der Bezirkshauptmannschaft Schwaz gerichtete Maßnahmenbeschwerde gemäß § 67a Abs. 1 Z. 2 iVm. § 67c Abs. 1 und 3 sowie § 67d AVG ab.

Begründend führte der UVS im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe sich am 26. Jänner 2005, nachdem er seinen Arbeitsplatz frühzeitig verlassen und seine Lebensgefährtin aufgesucht hatte, in seinem Kellerabteil eingeschlossen. Die Lebensgefährtin habe am Vormittag die Gendarmerie verständigt und mitgeteilt, dass sich der Beschwerdeführer im Keller verschanzt habe, wo er Waffen lagere, und sie Angst habe, dass er sich etwas antue. Den eintreffenden Beamten habe die Lebensgefährtin erzählt, dass sie den Beschwerdeführer noch nie so erlebt hätte wie an diesem Tag. Er habe große Probleme mit seinem Schützenverein, seine frühere Ehefrau liege im Sterben, der Beschwerdeführer und sie lebten in Trennung. Die Beamten seien auch darüber informiert worden, dass der Beschwerdeführer im Kellerabteil viele Waffen aufbewahre. Nachdem es den Beamten nicht gelungen sei, den Beschwerdeführer zum Verlassen des Kellerabteils zu bewegen, seien Beamte der Verhandlungsgruppe sowie der Kobra angefordert worden. Den Beamten der Verhandlungsgruppe gegenüber habe sich der Beschwerdeführer nicht gesprächsbereit gezeigt und angegeben, dass er nur mit einem näher genannten Freund, einem Gendarmeriebeamten, reden würde. Nachdem dieser im Keller eingetroffen sei, habe er versucht, den Beschwerdeführer zum Öffnen der Tür zu bewegen, was jedoch misslungen sei. Das Gespräch habe ca. eine Stunde gedauert. Der Beschwerdeführer habe zwar angegeben, er werde um 15 Uhr "herauskommen", um diese Zeit habe er jedoch begonnen, so laut Marschmusik zu spielen, dass mit ihm kein Gespräch mehr habe geführt werden können. Der Beschwerdeführer habe keine Reaktion mehr auf Versuche, mit ihm Kontakt aufzunehmen, gezeigt. Im Hinblick auf die Angaben des mit dem Beschwerdeführer befreundeten Beamten, dass er diesen für einen unberechenbaren und, wenn es die richtige Situation betreffe, auch gefährlichen Menschen halte, sei die Tür zum Kellerabteil um 15.57 Uhr aufgesprengt worden. Die Beamten hätten das vollgeräumte, verwinkelte Kellerabteil betreten und auf den auf einem Bett sitzenden Beschwerdeführer zugegriffen. Dieser habe den Anweisungen der Beamten Folge geleistet, es seien ihm zu Sicherungszwecken Handschellen angelegt worden. In weiterer Folge sei der Beschwerdeführer um 16.15 Uhr der Amtsärztin der Bezirkshauptmannschaft Schwaz vorgeführt worden. Dort habe er sich sehr ruhig und situationsadäquat verhalten. Die Amtsärztin habe telefonisch dem psychiatrischen Krankenhaus in Hall mitgeteilt, dass sie den Beschwerdeführer für selbstmordgefährdet halte und aufgrund seiner Entrückung die Einweisungskriterien vorlägen. Daraufhin habe sie das Parere ausgefüllt, den begleitenden Beamten überreicht und diese angewiesen, den Beschwerdeführer in das Krankenhaus zu bringen. Sie habe weiters dem Beschwerdeführer erklärt, dass er ihrer Ansicht nach einer Behandlung bedürfe und sie ihn daher in das psychiatrische Krankenhaus Hall einweisen werde. Anschließend hätten die begleitenden Beamten den Beschwerdeführer ins Krankenhaus gebracht.

In rechtlicher Hinsicht führte der UVS, soweit hier von Interesse, aus, aufgrund der dargestellten näheren Umstände hätten die Beamten davon ausgehen können, dass sowohl das Leben des Beschwerdeführers durch Selbstgefährdung als auch das Leben Dritter bedroht sei. Die Voraussetzungen für eine Vorführung des Beschwerdeführers vor einen Amtsarzt und in weiterer Folge die Verbringung in das Krankenhaus seien folglich gerechtfertigt gewesen. Das Eindringen der Beamten in das Kellerabteil und das Anlegen von Handschellen sei erfolgt, um den Beschwerdeführer sicher aus dem Kellerabteil zu holen und um ihn dem Amtsarzt vorführen zu können. Ausgehend von der Selbst- und Fremdgefährdung sei das Anlegen der Handschellen als verhältnismäßig und notwendig zu qualifizieren, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen gut durchtrainierten Mann handle.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 1 B-VG vor dem Verfassungsgerichtshof. Nachdem dieser die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 28. Februar 2006, B 3143/05-3, abgelehnt und diese über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 18. Mai 2006, B 3143/05-5, dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten hatte, wurde sie vom Beschwerdeführer ergänzt.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

Zu Spruchpunkt 1.

1. Die maßgebenden Bestimmungen des Unterbringungsgesetzes, BGBl. Nr. 155/1990 idF BGBl. I Nr. 12/1997 (UbG), lauten (auszugsweise) wie folgt:

"Geltungsbereich

§ 2. Die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes gelten für Krankenanstalten und Abteilungen für Psychiatrie (im folgenden Anstalt), in denen Personen in einem geschlossenen Bereich angehalten oder sonst Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen werden (im folgenden Unterbringung).

Voraussetzungen der Unterbringung

§ 3. In einer Anstalt darf nur untergebracht werden, wer

1. an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und

2. nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer Anstalt, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann.

...

Unterbringung ohne Verlangen

§ 8. Eine Person darf gegen oder ohne ihren Willen nur dann in eine Anstalt gebracht werden, wenn ein im öffentlichen Sanitätsdienst stehender Arzt oder ein Polizeiarzt sie untersucht und bescheinigt, daß die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen. In der Bescheinigung sind im einzelnen die Gründe anzuführen, aus denen der Arzt die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachtet.

§ 9. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind berechtigt und verpflichtet, eine Person, bei der sie aus besonderen Gründen die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachten, zur Untersuchung zum Arzt (§ 8) zu bringen oder diesen beizuziehen. Bescheinigt der Arzt das Vorliegen der Voraussetzungen der Unterbringung, so haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person in eine Anstalt zu bringen oder dies zu veranlassen. Wird eine solche Bescheinigung nicht ausgestellt, so darf die betroffene Person nicht länger angehalten werden.

(2) Bei Gefahr im Verzug können die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person auch ohne Untersuchung und Bescheinigung in eine Anstalt bringen.

(3) Der Arzt und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben unter möglichster Schonung der betroffenen Person vorzugehen und die notwendigen Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren zu treffen. Sie haben, soweit das möglich ist, mit psychiatrischen Einrichtungen außerhalb einer Anstalt zusammenzuarbeiten und erforderlichenfalls den örtlichen Rettungsdienst beizuziehen."

2.1. Die im Beschwerdefall zu beurteilenden Maßnahmen dienten zunächst dem Ziel, den Beschwerdeführer zur Untersuchung zum Amtsarzt zu bringen (§ 9 Abs. 1 UbG), in der Folge, nach Ausstellung der Bescheinigung gemäß § 8 UbG durch die Amtsärztin, der Verbringung in die Anstalt.

Gegen diese Maßnahmen richtete sich die an den UVS erhobene Beschwerde gemäß § 67c Abs. 3 AVG. Dem gegenüber war die (eigentliche) Unterbringung in der Anstalt vom Gericht zu prüfen.

2.2. Auch wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen, die betroffene Person zur Untersuchung zum Arzt bzw. in der Folge in die Anstalt zu bringen, ist dabei zufolge § 9 Abs. 3 UbG der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten: Es ist unter möglichster Schonung der betroffenen Person vorzugehen und es sind die notwendigen Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren zu treffen. Was in diesem Sinne "notwendig" ist, muss an der jeweiligen Situation gemessen werden, sodass es erforderlich ist, dazu konkrete Feststellungen zu treffen. Diesen Anforderungen genügt der angefochtene Bescheid, soweit es um die Fesselung des Beschwerdeführers mit Handschellen geht, nicht:

2.2.1. Der Verwaltungsgerichtshof hat schon in seinem Erkenntnis vom 8. August 2002, Zl. 99/11/0327 (gleichfalls eine Verbringung in eine Anstalt nach dem UbG betreffend), ausgeführt, dass die Fesselung mit Handschellen im Rahmen einer Amtshandlung eine Vorgangsweise ist, die nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie "unbedingt erforderlich (unabdingbar) ist". Eine Fesselung mit Handschellen sei etwa dann nicht gerechtfertigt, wenn auf Grund der näheren Umstände eine konkrete Gefährdung der körperlichen Sicherheit der einschreitenden Behördenorgane nicht ernstlich zu befürchten sei oder es diesen auf eine maßvollere Weise als durch Anlegen von Handfesseln möglich wäre, dem Widerstand einer Person zu begegnen. Auch zur Hintanhaltung einer möglichen Selbstgefährdung bzw. Selbstbeschädigung ist eine Fesselung nur dann zulässig, wenn sie "unbedingt erforderlich" im dargestellten Sinn ist (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 26. Juli 2005, Zlen. 2004/11/0070, 0071, und vom 27. September 2007, Zl. 2004/11/0152). Dies gilt umso mehr für eine Fesselung der Hände auf dem Rücken.

2.2.2. Der Beschwerdeführer hat bereits in seiner Maßnahmenbeschwerde vorgebracht, er sei von den Beamten auf dem Rücken gefesselt worden, was er widerstandslos habe geschehen lassen. In der Gegenschrift der Bezirkshauptmannschaft Schwaz ist ebenfalls davon die Rede, dass der Beschwerdeführer nach seiner Festnahme mit Handschellen auf dem Rücken geschlossen worden sei, auch für den Transport in die Krankenanstalt seien seine Hände auf dem Rücken mit Handschellen geschlossen gewesen. Bei seiner Einvernahme in der Verhandlung vor der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer erneut vor, es seien ihm Handschellen angelegt worden, während der gesamten Fahrt in die Krankenanstalt seien ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt gewesen.

2.2.3. Ungeachtet dieser Beweisergebnisse hat die belangte Behörde Feststellungen darüber, ob der Beschwerdeführer auf dem Rücken oder mit den Händen nach vorne zeigend gefesselt wurde, unterlassen und sich mit der Feststellung begnügt, dem Beschwerdeführer seien "zu Sicherungszwecken Handschellen angelegt" worden. Ob der Beschwerdeführer durchgehend bis zur Einlieferung in die Krankenanstalt gefesselt war oder ihm, wie das die Aussage der Amtsärztin in der Verhandlung vor der belangten Behörde nahelegt, die Handschellen vor der amtsärztlichen Untersuchung abgenommen und danach erneut angelegt wurden, wurde ebenfalls nicht festgestellt.

Dieser offenbar auf einer Verkennung der Rechtslage beruhende Feststellungsmangel ist auch wesentlich:

Da eine Fesselung auf dem Rücken mit einem deutlich höheren Eingriff in die persönliche Handlungs- und Bewegungsfreiheit verbunden ist, ist daran ein strengerer Maßstab anzulegen als bei der Handfesselung nach vorne zeigend. Es müssen also besondere Gründe dafür vorliegen, um eine Fesselung auf dem Rücken als notwendig ("unbedingt erforderlich") beurteilen zu können (vgl. das bereits erwähnte hg. Erkenntnis vom 27. September 2007).

Solche Umstände hat die belangte Behörde freilich nicht festgestellt. Der in der Begründung des angefochtenen Bescheides enthaltene formelhafte Hinweis auf eine "Selbst- und Fremdgefährdung" reicht auch dann nicht für die Begründung der Erforderlichkeit einer Fesselung der Hände auf dem Rücken aus, wenn es sich beim Beschwerdeführer, wie die belangte Behörde festgestellt hat, um einen gut durchtrainierten Mann handelte.

Soweit die belangte Behörde erkennbar meint, die Fesselung sei notwendig gewesen, um einer Eigengefährdung des Beschwerdeführers entgegenzuwirken, ist im Übrigen klarzustellen, dass auf der Basis der Bescheidfeststellungen keine ausreichenden Hinweise dafür bestanden, dass sich der Beschwerdeführer nach dem Zugriff im Kellerabteil, bei dem er sich anscheinend ruhig verhielt, ohne Fesselung Schaden hätte zufügen können, ohne dass dies von den begleitenden Beamten zu verhindern gewesen wäre. Gleiches gilt für die Zeit der Verbringung in die Krankenanstalt.

2.4. Da die belangte Behörde verkannte, dass es der Feststellung, unter welchen konkreten Umständen, für welche Zeiträume und in welcher Art die Fesselung des Beschwerdeführers erfolgte, bedurfte, um deren Rechtmäßigkeit beurteilen zu können, belastete die belangte Behörde ihren Bescheid insoweit mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes. Der angefochtene Bescheid war deshalb diesbezüglich gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

3. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Zu Spruchpunkt 2.

Gemäß § 33a VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof die Behandlung einer Beschwerde gegen einen Bescheid eines unabhängigen Verwaltungssenates durch Beschluss ablehnen, wenn die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil sie von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Da die Voraussetzungen des § 33a VwGG in Ansehung des übrigen Inhaltes des angefochtenen Bescheides gegeben sind, konnte die Behandlung der Beschwerde diesbezüglich abgelehnt werden.

Wien, am 18. Mai 2010

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