VwGH 2003/20/0118

VwGH2003/20/011824.11.2005

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des N in W, geboren am 1. Februar 1976, vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Kirchengasse 19, gegen den am 11. Dezember 2002 verkündeten und am 4. Februar 2003 ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 221.944/0-IX/27/01, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FrG 1997 §57;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FrG 1997 §57;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171, 20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste am 2. März 2001 in das Bundesgebiet ein und stellte am 5. März 2001 einen Asylantrag. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass gegen seinen Vater im Irak wegen Kontakten zu "Leuten von assyrischen Parteien" ein Haftbefehl ergangen sei, weshalb die gesamte Familie (so auch der Beschwerdeführer) aus Furcht vor der im Heimatstaat praktizierten Sippenhaftung zur Flucht genötigt gewesen sei.

Mit Bescheid vom 28. März 2001 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und erklärte dessen Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung in den Irak gemäß § 8 AsylG für zulässig.

Die dagegen erhobene Berufung wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid am 11. Dezember 2002 gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung des Beschwerdeführers in die Autonomiegebiete im Nordirak gemäß § 8 AsylG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Der Beschwerdeführer gehöre - so die belangte Behörde - der "kaldäischen Volksgruppe" an, sei christlichen Glaubens und stamme aus Mosul. Er sei legal "mit seinem eigenen Reisepass" aus dem Irak ausgereist. Seinem weiteren Vorbringen, insbesondere der behaupteten Verfolgung wegen eines gegen den Vater bestehenden Haftbefehles aufgrund von dessen "Aktivitäten für die assyrische Bewegung", sei hingegen - aus näher dargelegten beweiswürdigenden Überlegungen - die Glaubwürdigkeit zu versagen.

Im Folgenden traf die belangte Behörde Feststellungen über die politischen Verhältnisse in den kurdisch dominierten Gebieten im Nordirak. Unter anderem hielt sie fest, es lägen keine Erkenntnisse dafür vor, dass die Bagdader Zentralregierung versuche, ihre Staatsgewalt auf diese Region (wieder) auszudehnen; ein erneutes militärisches Vorgehen Bagdads gegen die Kurdenparteien im Nordirak könne jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Unter der Überschrift "Zu den Folgen einer illegalen Ausreise aus dem Irak und Asylantragstellung" gab die belangte Behörde schließlich in ihren Feststellungen unter anderem Auszüge aus der Stellungnahme des UNHCR zur Rückkehrgefährdung irakischer Staatsangehöriger nach Asylantragstellung und Aufenthalt im Ausland vom Juni 2002 wieder, wonach der UNHCR an seiner Position festhalte, dass die Rückkehrgefährdung irakischer Staatsangehöriger nach illegaler Ausreise und Asylantragstellung im westlichen Ausland einzelfallbezogen festgestellt werden müsse. Die illegale Ausreise könne, möglicherweise mit weiteren Faktoren, in manchen Fällen zu einer Rückkehrgefährdung führen. Bei der Ermittlung der individuellen Gefährdungssituation des Einzelnen seien neben dessen Geschichte und Situation vor der Ausreise aus dem Irak, insbesondere die genauen Umstände der Ausreise und des Aufenthaltes im Ausland, die Dauer des Auslandsaufenthaltes, eventuell unternommene regimekritische Aktivitäten im Ausland, sowie Kontakte zu regimekritischen Organisationen und Einzelpersonen maßgeblich. Darüber hinaus könne nach Auffassung von UNHCR nicht ausgeschlossen werden, dass auch Personen, die den Irak unverfolgt verlassen haben, bei einer zwangsweisen Abschiebung in das von der irakischen Zentralregierung kontrollierte Gebiet möglicherweise Festnahmen, Inhaftierungen und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt seien.

Rechtlich folgerte die Behörde, der Beschwerdeführer habe weder wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft machen können noch könne davon ausgegangen werden, dass er bei einer Rückkehr in den Irak im gesamten Staatsgebiet einer Bedrohungssituation iSd § 57 Fremdengesetz ausgesetzt wäre. Zum einen sei das Vorbringen zu seinen Fluchtgründen unglaubwürdig gewesen; zum anderen komme man - was die Rückkehrergefährdung angehe - bei Anwendung der in der genannten Stellungnahme des UNHCR aufgestellten Kriterien für die Ermittlung der individuellen Gefährdungssituation zu dem Ergebnis, dass der legal und unverfolgt aus dem Irak ausgereiste Beschwerdeführer, der weiters weder selbst regimekritische Aktivitäten unternommen noch Kontakte zu regimekritischen Organisationen habe, sogar im Falle der Rückkehr in den Zentralirak wenig wahrscheinlich mit Sanktionen rechnen müsse. Umso weniger könne daher angenommen werden, dass der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr in den Nordirak mit Schwierigkeiten rechnen müsse, sollte die irakische Zentralregierung eines Tages ihren Machtbereich über den gesamten Irak ausdehnen können.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorweg ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat, fallbezogen also unter Zugrundelegung der politischen Verhältnisse vor dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Frühjahr 2003.

Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in zahlreichen Erkenntnissen in Bezug auf die damalige (also auch im vorliegenden Fall maßgeblichen) Situation die Auffassung, es könne den einem irakischen Staatsbürger wegen illegaler Ausreise und Asylantragstellung im Ausland drohenden, unverhältnismäßig harten Sanktionen gerade unter den besonderen politischen Verhältnissen im Irak Asylrelevanz zukommen (vgl. dazu etwa zuletzt das hg. Erkenntnis vom 30. Juni 2005, Zl. 2002/20/0077, mwN).

Ungeachtet des vom Beschwerdeführer behaupteten fluchtauslösenden Sachverhaltes, dem die belangte Behörde die Glaubwürdigkeit absprach, war daher dem möglichen Vorliegen des oben genannten Nachfluchtgrundes besondere Beachtung zu schenken.

Die belangte Behörde ging in diesem Zusammenhang zunächst davon aus, dass der Beschwerdeführer den Irak "legal mit seinem eigenen Reisepass" verlassen habe. Weder das Datum dieser Ausreise noch die Fluchtroute wurden von der belangten Behörde festgestellt. Ihre beweiswürdigende Überlegung, es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer "direkt - d.h. ohne vorher (wie von ihm behauptet worden war, noch einmal( in den Irak zurückgekehrt zu sein - von Jordanien nach Österreich gereist ist", lässt jedoch erkennen, dass die belangte Behörde offensichtlich von einer Ausreise des Beschwerdeführers zunächst nach Jordanien ausgegangen ist, die seinen Angaben zufolge im März 1995 stattgefunden haben soll. Dass für die Ausstellung des Reisepasses - wie der Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt auch behauptet hatte - Bestechungsgeld bezahlt worden sei, wurde von der belangten Behörde nicht geglaubt.

Wenn die Beschwerde ausführt, die belangte Behörde sei "offenbar von einer ... illegalen Ausreise" des Beschwerdeführers aus dem Irak ausgegangen, unterstellt sie dem angefochtenen Bescheid somit einen erkennbar nicht gemeinten Inhalt. Dass sich die belangte Behörde sowohl in ihren Feststellungen - worauf die Beschwerde argumentativ hinweist - als auch in der rechtlichen Beurteilung mit den Folgen einer illegalen Ausreise aus dem Irak für Rückkehrer beschäftigte, dürfte von ihr vielmehr im Sinne einer Eventualbegründung gedacht gewesen sein.

Im Ergebnis ist der Beschwerde freilich zuzugeben, dass die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführer habe den Irak "legal" unter Verwendung seines Reisepasses verlassen, ihre Entscheidung nicht zu tragen vermag. Selbst wenn dem Beschwerdeführer der für die Ausreise nach Jordanien verwendete Reisepass ohne Bezahlung von Bestechungsgeld ausgestellt worden wäre, sagt die von der belangten Behörde festgestellte "legale" Ausreise nach Jordanien noch nichts darüber aus, dass die irakischen Behörden (nach den politischen Verhältnissen unter dem Regime von Saddam Hussein) nicht dennoch die darauf folgende Weiterreise des Beschwerdeführers nach Österreich, den länger dauernden Aufenthalt in Europa und die hier erfolgte Asylantragstellung - etwa schon wegen Überschreitung einer Rückkehrfrist - als illegal angesehen hätten (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 29. Jänner 2004, Zl. 2001/20/0426). Die Verwendung eines Reisepasses für die Ausreise machte eine Beschäftigung mit den dem Beschwerdeführer drohenden Sanktionen bei Rückkehr in den Irak daher nicht entbehrlich.

Es ist daher zu prüfen, ob sich die Hilfsbegründung der belangten Behörde, es sei bei Anwendung der nach der genannten Stellungnahme des UNHCR vom Juni 2002 aufgestellten Kriterien, von deren Richtigkeit die belangte Behörde offensichtlich ausging, wenig wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Irak mit Sanktionen rechnen müsse, als tragfähig erweist.

Dazu ist zunächst festzustellen, dass die belangte Behörde die Stellungnahme des UNHCR zur Rückkehrgefährdung irakischer Staatsangehöriger nach Asylantragstellung und Aufenthalt im Ausland in den entscheidenden Passagen nur unvollständig wiedergibt. So führte der UNHCR - zusätzlich zu den im angefochtenen Bescheid zitierten Textteilen - etwa auch aus, es sei insgesamt zu berücksichtigen, dass Iraker bei der Rückkehr von einem längeren, möglicherweise illegalen Auslandsaufenthalt mit besonderer Aufmerksamkeit durch die irakischen Sicherheitsbehörden rechnen müssten. Der UNHCR halte an seiner Position fest, dass die Rückkehrgefährdung solcher Personen einzelfallbezogen festgestellt werden müsse und eine Rückführung abgelehnter Asylsuchender in das von der irakischen Zentralregierung kontrollierte Gebiet nur auf freiwilliger Basis erfolgen sollte (zur Indizwirkung von Empfehlungen internationaler Organisationen, von Abschiebungen bestimmter Personengruppen in ein bestimmtes Gebiet Abstand zu nehmen, vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 16. Juli 2003, Zl. 2003/01/0059, und zuletzt vom 24. August 2004, Zl. 2003/01/0463).

Die belangte Behörde hob bei ihrer Beurteilung der Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers dessen "unverfolgte Ausreise" und die fehlende regimekritische Aktivität bzw. unterbliebene Kontakte zu regimekritischen Organisationen hervor. Unberücksichtigt ließ sie dabei die Einschätzung des UNHCR, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass auch Personen, die den Irak unverfolgt verlassen haben, im Falle ihrer (zwangsweisen) Rückkehr (nach den damaligen Verhältnissen) möglicherweise Festnahmen, Inhaftierungen und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein konnten. Dass die belangte Behörde auch mögliche Auswirkungen des langen Auslandsaufenthaltes des Beschwerdeführers und seiner (festgestellten) Zugehörigkeit zur Minderheit der kaldäischen Christen in ihre Überlegungen einbezogen hätte, lässt der Bescheid - wie die Beschwerde zutreffend rügt - nicht erkennen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass eine Berücksichtigung dieser genannten Umstände zu einer anderen (für den Beschwerdeführer günstigeren) Beurteilung des Sachverhaltes führen hätte können. Damit erweist sich die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführer könne im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Entscheidung ungefährdet in den Zentralirak, umso mehr aber in die kurdisch dominierten Gebiete im Nordirak zurückkehren, als unzureichend begründet. Hinsichtlich letzterer ließ die Behörde nämlich bewusst offen, ob es der irakischen Zentralregierung (aus damaliger Sicht) nicht gelingen hätte können, ihren Machtbereich wieder über den gesamten Irak auszudehnen (zur Untauglichkeit der Annahme einer inländischen Schutzalternative im Nordirak ohne Verneinung dieser Frage vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 21. März 2002, Zl. 99/20/0401, und zuletzt vom 19. Februar 2004, Zl. 2001/20/0309)

Der angefochtene Bescheid war daher - vorrangig wegen der auf einer unrichtigen Rechtsansicht beruhenden Annahme einer mangelnden Rückkehrgefährdung wegen der "legalen" Ausreise des Beschwerdeführers aus dem Irak - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 24. November 2005

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