VwGH 2002/18/0102

VwGH2002/18/010224.7.2002

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Stummer, über die Beschwerde des E, geboren 1978, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom 20. März 2002, Zl. St 008/01, betreffend Aufhebung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrG 1997 §38 Abs1 Z4;
VwRallg;
FrG 1997 §38 Abs1 Z4;
VwRallg;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 41,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich (der belangten Behörde) vom 20. März 2002 wurde der Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, vom 20. September 2000 auf Aufhebung des über ihn mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Linz vom 29. Juni 1994 (in erster Instanz, bestätigt durch den Bescheid der belangten Behörde vom 5. Dezember 1994) verhängten unbefristeten Aufenthaltsverbotes gemäß § 114 Abs. 3 Fremdengesetz 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, abgewiesen.

Nach dem genannten Bescheid vom 5. Dezember 1994 sei der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 18. Jänner 1994 wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach den §§ 142 Abs. 1, 143 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten rechtskräftig verurteilt worden, wobei gemäß § 43a StGB 16 Monate dieser Freiheitsstrafe für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden seien. Gleichzeitig sei ein Bewährungshelfer bestellt worden. Der Verurteilung liege zu Grunde, dass der Beschwerdeführer zusammen mit dem gleichfalls jugendlichen türkischen Staatsangehörigen S. geplant habe, durch eine kriminelle Aktion Geld zu beschaffen. Es sei überlegt worden, einen Einbruchsdiebstahl oder einen Raubüberfall zu begehen. Am 11. November 1993 sei die Absicht, eine Person zu überfallen, konkretisiert und vereinbart worden, diese Tat noch am selben Tag auszuführen. Sie hätten sich eine Person aussuchen wollen, die eher schwach aussehen würde und der sie beide jedenfalls körperlich überlegen wären. Die Möglichkeit, ein von dem Mittäter S. mitgeführtes Messer einzusetzen, sei in die Überlegung einbezogen worden. Gegen Einbruch der Dunkelheit hätten sie im Vorgarten in Linz einen 15-jährigen Schüler in Raubabsicht überfallen. S. habe den Schüler am Nacken gepackt und drohend ein aufgeklapptes Butterflymesser gehalten. Gleichzeitig habe er mit den Worten "Geld her" die Herausgabe von Bargeld gefordert. Als der Schüler erklärt habe, kein Geld zu haben, hätten die beiden Täter ihn zu Boden gerissen, mit den Füßen auf den Körper des Opfers eingetreten und ihm auch Faustschläge versetzt. Schließlich habe S. mit dem Butterflymesser zweimal auf die Oberschenkel des Überfallenen eingestochen, der dadurch am Körper schwer verletzt worden sei. Der Überfallene habe schließlich die Geldbörse aus der Hosentasche herausgezogen und sie den beiden Tätern hingeworfen. In der Geldbörse hätten sich S 45,-- befunden. Der überfallene Schüler habe sich bis zur Bushaltestelle schleppen können, wo er bewusstlos zusammengebrochen sei. Der Beschwerdeführer und sein Mittäter hätten kurz darauf in einem Cafe in Linz gestellt werden können.

Bei der Strafbemessung seien das Geständnis des Beschwerdeführers und sein bisheriger unbescholtener Lebenswandel als mildernd gewertet worden, als erschwerend hingegen, dass die beiden Täter in brutaler Weise vorgegangen seien. Der Beschwerdeführer sei schon als Strafunmündiger, nämlich im Alter von etwa zwölf Jahren, kriminell in Erscheinung getreten. Er habe am 19. Jänner 1990 zusammen mit zwei Unmündigen mit einem Maurerhammer die Glasscheibe der Eingangstüre zu einer Tankstelle eingeschlagen und mit Mittätern Süßigkeiten und Zigaretten gestohlen. Für die zu stellende Zukunftsprognose sei bemerkenswert, dass der Beschwerdeführer bei der Haftprüfungsverhandlung am 24. November 1993 keinerlei Emotion gezeigt habe, die erkennen lassen würde, dass er sich tatsächlich von seinem "inneren Verhalten" distanziert hätte. Er habe Gefühllosigkeit an den Tag gelegt. In einem Bericht des Bewährungshelfers des Beschwerdeführers an das Landesgericht Linz vom 27. Juli 1994 werde erwähnt, dass er zwar einige Wochen nach seiner Haftentlassung eine Lehre als Installateur begonnen habe, jedoch entlassen worden sei, weil er unentschuldigt der Arbeit fern geblieben sei. Er hätte, wie im Bericht angeführt werde, "noch" Schwierigkeiten, mit gewissen Anforderungen der Berufswelt (z.B. Verlässlichkeit) zurecht zu kommen. Die Kontakte zur Bewährungshilfe würde der Beschwerdeführer "zumeist" einhalten.

Nach den Feststellungen des erstinstanzlichen Bescheides der Bundespolizeidirektion Linz vom 20. Dezember 2000 im gegenständlichen Verwaltungsverfahren, auf die sich die belangte Behörde bezog, sei der Beschwerdeführer am 3. Februar 1978 in Österreich geboren und habe kurze Zeit später Österreich in Richtung Türkei verlassen. Nach seiner Wiedereinreise nach Österreich im September 1982 sei er am 9. Jänner 1983 in die Türkei zurückgekehrt. Erst am 25. August 1984 sei der Beschwerdeführer wieder nach Österreich gekommen, wobei er nach dieser Einreise am 6. November 1984 einen bis zum 8. Juni 1985 gültigen Wiedereinreisesichtvermerk erhalten habe.

Die belangte Behörde führte aus, sie müsse - wie auch die Erstbehörde zuvor - davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer nicht als "von klein auf im Inland aufgewachsen" anzusehen sei, da er - unabhängig von seiner Geburt in Österreich und seinen Kurzaufenthalten zuvor - erst ab einem Alter von ca. viereinhalb Jahren ständig in Österreich aufhältig gewesen sei. Die Integrationsbestimmung (des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG) komme jenen Fremden nicht zugute, die erst im Alter von vier Jahren oder später nach Österreich eingereist seien. Die Kurzaufenthalte des Beschwerdeführers zuvor bzw. seine Geburt in Österreich trügen nicht wesentlich zur Integration im Bundesgebiet bei. Das Aufenthaltsverbot könne daher nicht gemäß § 114 Abs. 3 FrG behoben werden.

Da kein Antrag nach § 44 FrG gestellt worden sei, sei es der belangten Behörde verwehrt, eine Aufhebung des Aufenthaltsverbotes auch nach dieser Bestimmung zu prüfen. Es sei in Anbetracht des seit Begehung der Straftat des Beschwerdeführers vergangenen Zeitraumes und des Wohlverhaltens in diesem jedoch nicht gänzlich auszuschließen, dass es bei einem Antrag gemäß § 44 FrG zu einer anders lautenden Entscheidung gekommen wäre.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes oder Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Für - auf das Fremdengesetz aus 1992 gegründete - Aufenthaltsverbote, die vor dem Inkrafttreten des FrG mit 1. Jänner 1998 erlassen wurden, normiert § 114 Abs. 3 dieses Gesetzes Folgendes:

"Aufenthaltsverbote, deren Gültigkeitsdauer bei Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes noch nicht abgelaufen sind, gelten als nach diesem Bundesgesetz erlassene Aufenthaltsverbote mit derselben Gültigkeitsdauer. Solche Aufenthaltsverbote sind auf Antrag oder - wenn sich aus anderen Gründen ein Anlass für die Behörde ergibt, sich mit der Angelegenheit zu befassen - von Amts wegen aufzuheben, wenn sie nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes nicht erlassen hätten werden können."

Danach kommt es also darauf an, ob der zur Begründung des Aufenthaltsverbotes herangezogene Sachverhalt auch bei fiktiver Geltung des FrG diese Maßnahme im Zeitpunkt ihrer Verhängung gerechtfertigt hätte (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 18. Jänner 2000, Zl. 99/18/0249).

Der Beschwerdeführer macht ausschließlich geltend, dass dem Aufenthaltsverbot die mit dem FrG neu eingeführte Bestimmung des § 38 Abs. 1 Z. 4 leg. cit. entgegengestanden wäre.

2.1. Gemäß § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG darf ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn der Fremde von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.

Nach § 38 Abs. 2 leg. cit. sind Fremde jedenfalls langjährig im Bundesgebiet niedergelassen, wenn sie die Hälfte ihres Lebens im Bundesgebiet verbracht haben und zuletzt seit mindestens drei Jahren hier niedergelassen sind.

2.2. Die Einübung in soziale Verhältnisse außerhalb des engen Familienkreises, wie sie für die vom Schutzzweck des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG geforderte Vertrautheit mit dem sozialen Gefüge eines Staates maßgeblich ist, beginnt aus dem Blickwinkel der Sozialisation des Kindes etwa nach Vollendung des dritten Lebensjahres, wobei jedoch die Abgrenzung zum vorangehenden Lebensabschnitt fließend ist. Die genannte altersmäßige Abgrenzung ist auch aus entwicklungspsychologischer Sicht von Bedeutung, wird doch die "Phase der ersten Verselbständigung" - das ist das Stadium, in dem Kinder auch familienfremde Erzieher akzeptieren, mit anderen Kindern Freundschaften anbahnen, Spiele spielen, sich im Gruppenleben integrieren und somit ihren Lebensbereich über ihre unmittelbare familiäre Sphäre hinaus ausdehnen können - mit etwa drei Jahren erreicht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. März 2001, Zl. 2000/18/0124, mwN). Vor diesem Hintergrund ist die Wendung "von klein auf" so zu deuten, dass sie jedenfalls für eine Person, die erst im Alter von vier Jahren oder später nach Österreich eingereist ist, nicht zum Tragen kommen kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Dezember 2000, Zl. 2000/18/0133).

2.3. Der Beschwerdeführer ist im Bundesgebiet geboren und hat Österreich unstrittig kurz nach der Geburt verlassen, somit zu einem Zeitpunkt, in dem er lange vor der "Phase der ersten Verselbständigung" stand. Erst im September 1982 - etwa sieben Monate nach Vollendung des vierten Lebensjahres - ist er wieder nach Österreich gekommen, um bereits fünf Monate später - am 9. Jänner 1983 - wieder in die Türkei zurückzukehren. Am 25. August 1984 (sohin in einem Alter von etwa sechseinhalb Jahren) ist der Beschwerdeführer wieder nach Österreich eingereist und hat am 6. November 1984 einen bis zum 8. Juni 1985 gültigen Wiedereinreisesichtvermerk erhalten. Seine weitere Kindheit und Jugend hat er bis zur Erlassung des gegen ihn ausgesprochenen Aufenthaltsverbotes in Österreich verbracht.

Der Beschwerdeführer hat die Abfolge seiner Aufenthalte weder im Verwaltungsverfahren noch in der vorliegenden Beschwerde bestritten. Die in der Beschwerde erwähnten "Kurzaufenthalte in Österreich" vor der "endgültigen Übersiedelung nach Österreich im Alter von 4½ Jahren" könnten einem "Aufwachsen" im Inland nicht gleichgehalten werden. Dass derartige Aufenthalte bzw. die dadurch bewirkte Integration ein für die Beurteilung nach § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG relevantes Ausmaß erreicht hätten, kann weder aus der Beschwerde noch aus dem Akteninhalt abgeleitet werden. Der Beschwerdeführer unterlässt jegliche konkretisierende Angabe über die zeitliche Lagerung und das Ausmaß dieser "Kurzaufenthalte".

Da der Beschwerdeführer - infolge der Einreise nach Österreich erst nach der Vollendung des vierten Lebensjahres - nicht von klein auf im Inland aufgewachsen ist, steht § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG der Erlassung des Aufenthaltsverbotes nicht entgegen. Gegen die - nicht bekämpfte - Ansicht der belangten Behörde, dass das Aufenthaltsverbot auch nach den übrigen Bestimmungen des FrG hätte erlassen werden können, bestehen aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Bescheides keine Bedenken. Die belangte Behörde hat daher zu Recht von der Aufhebung des Aufenthaltesverbotes gemäß § 114 Abs. 3 FrG Abstand genommen.

3. Gemäß § 44 FrG ist ein Aufenthaltsverbot auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn die Gründe, die zu seiner Erlassung geführt haben, weggefallen sind. Aus dem Verwaltungsakt ergibt sich, dass die Bundespolizeidirektion Linz mit Bescheid vom 11. März 1998 einen Antrag des Beschwerdeführers vom 29. Jänner 1998, das gegenständliche Aufenthaltsverbot gemäß § 44 FrG aufzuheben, rechtskräftig abgewiesen hat. Der vorliegende Antrag vom 20. September 2000 auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes war ausdrücklich auf § 114 Abs. 3 FrG und nicht (auch) auf § 44 FrG gestützt. Über diesen Antrag hat die Bundespolizeidirektion Linz als erstinstanzliche Behörde mit Bescheid vom 20. Dezember 2000 (in abweisendem Sinn) entschieden. Eine (amtswegige) Entscheidung darüber, dass das Aufenthaltsverbot (auch) aus dem Grund des § 44 FrG nicht aufgehoben wird, wurde in diesen Bescheid nicht aufgenommen. Eine derartige Entscheidung ist daher auch nicht Gegenstand des angefochtenen Berufungsbescheides geworden. Der Beschwerdeführer zeigt daher mit seinem Vorbringen, die belangte Behörde sei "verpflichtet, diesen Anwendungsbereich des § 44 FrG von Amts wegen zu prüfen, eines gesonderten Antrages einer Partei bedarf es hiezu nicht und die belangte Behörde wäre daher verpflichtet gewesen, aus Anlass meines Antrages gem. § 114 Abs. 3 FrG von Amtswegen zu prüfen, ob das Aufenthaltsverbot auf der Rechtsgrundlage des § 44 FrG aufzuheben ist", keine Rechtswidrigkeit auf. Dem Beschwerdeführer bleibt es unbenommen, bei der erstinstanzlichen Behörde einen (weiteren) Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes nach § 44 FrG zu stellen.

4. Die sich sohin als unbegründet erweisende Beschwerde war gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

5. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 501/2001.

Wien, am 24. Juli 2002

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