VfGH G105/2016 ua

VfGHG105/2016 ua12.12.2016

Zurückweisung eines Parteiantrags auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer - den Begriff der gewerbsmäßigen Begehung beschreibenden - Vorschrift des StGB sowie auf Aufhebung von Bestimmungen der StPO über die Beschränkung der Berufungsgründe gegen ein schöffengerichtliches Urteil wegen zu eng gewählten Anfechtungsumfanges

Normen

B-VG Art140 Ab1 Z1 litd
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
StGB §70
StPO §281, §283 Abs1, §295 Abs1
B-VG Art140 Ab1 Z1 litd
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
StGB §70
StPO §281, §283 Abs1, §295 Abs1

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller festzustellen, dass "§70 StGB, BGBl 631/1975" (gemeint wohl: BGBl 60/1974), verfassungswidrig war (Pkt. 1a.), ferner ("aus advokatorischer Vorsicht"), §283 Abs1 StPO, BGBl 631/1975, zur Gänze sowie die Wortfolge "und dabei den Ausspruch des Gerichtes über die Schuld des Angeklagten und über das anzuwendende Strafgesetz zugrunde zu legen." in §295 Abs1 StPO, BGBl 631/1975, als verfassungswidrig aufzuheben (Pkt. 1b.); hinsichtlich der Bestimmung des §283 Abs1 StPO wird überdies eventualiter begehrt, das darin enthaltene Wort "nur" als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich in ihrem Zusammenhang wie folgt dar (die im Hauptantrag angefochtenen Gesetzesbestimmungen sind hervorgehoben):

1. §70 Strafgesetzbuch – StGB, BGBl 60/1974, lautete bis zu seiner Neufassung durch BGBl I 112/2015 (in Kraft getreten mit 1. Jänner 2016):

"Gewerbsmäßige Begehung

§70. Gewerbsmäßig begeht eine strafbare Handlung, wer sie in der Absicht vornimmt, sich durch ihre wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen."

2. §§144 und 145 StGB, BGBl 60/1974, lauten:

"Erpressung

§144. (1) Wer jemanden mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, die diesen oder einen anderen am Vermögen schädigt, ist, wenn er mit dem Vorsatz gehandelt hat, durch das Verhalten des Genötigten sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.

(2) Die Tat ist nicht rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder Drohung als Mittel zu dem angestrebten Zweck nicht den guten Sitten widerstreitet.

Schwere Erpressung

§145. (1) Wer eine Erpressung begeht, indem er

1. mit dem Tod, mit einer erheblichen Verstümmelung oder einer auffallenden Verunstaltung, mit einer Entführung, mit einer Brandstiftung, mit einer Gefährdung durch Kernenergie, ionisierende Strahlen oder Sprengmittel oder mit der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz oder gesellschaftlichen Stellung droht oder

2. den Genötigten oder einen anderen, gegen den sich die Gewalt oder gefährliche Drohung richtet, durch diese Mittel längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt,

ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen.

(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer eine Erpressung

1. gewerbsmäßig begeht oder

2. gegen dieselbe Person längere Zeit hindurch fortsetzt.

(3) Ebenso ist der Täter zu bestrafen, wenn die Tat einen Selbstmord oder Selbstmordversuch des Genötigten oder eines anderen zur Folge hat, gegen den sich die Gewalt oder gefährliche Drohung richtet."

3. Die im 14. Hauptstück, "II. Rechtsmittel gegen Urteile" enthaltenen §§283 und 295 Strafprozeßordnung 1975 – StPO, BGBl 631/1975, in der Fassung BGBl I 93/2007 haben folgenden Wortlaut:

"§283. (1) Die Berufung kann nur gegen den Ausspruch über die Strafe und gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche ergriffen werden.

(2) Wegen des Ausspruches über die Strafe kann die Berufung von allen zur Ergreifung der Nichtigkeitsbeschwerde Berechtigten mit Ausnahme des Privatbeteiligten ergriffen werden. Eine unterbliebene oder fehlerhafte Anrechnung einer Vorhaft oder einer im Ausland verbüßten Strafe kann mit Berufung nur dann geltend gemacht werden, wenn die Berufung zugleich aus anderen Gründen ergriffen wird.

(3) Die im §260 Abs2 erwähnte Feststellung kann zugunsten und zum Nachteil des Angeklagten mit Berufung angefochten werden.

(4) Gegen die Entscheidung über die privatrechtlichen Ansprüche können nur der Angeklagte und dessen gesetzlicher Vertreter und Erben Berufung einlegen. Gegen die Verweisung auf den Zivilrechtsweg können nach Maßgabe des §366 Abs3 der Privatbeteiligte und seine Erben Berufung einlegen."

"§295. (1) Das Oberlandesgericht hat sich bei seiner Entscheidung auf die der Berufung unterzogenen Punkte zu beschränken und dabei den Ausspruch des Gerichtes über die Schuld des Angeklagten und über das anzuwendende Strafgesetz zugrunde zu legen. Setzt es die Strafe zugunsten eines oder mehrerer Mitschuldiger aus Gründen herab, die auch anderen zustatten kommen, so hat es von Amts wegen so vorzugehen, als hätten auch diese Mitschuldigen die Berufung ergriffen.

(2) Ist die Berufung lediglich zugunsten des Angeklagten ergriffen worden, so kann das Oberlandesgericht keine strengere Strafe über den Angeklagten verhängen, als das erste Urteil ausgesprochen hatte. Auf Antrag des Angeklagten oder mit seiner Zustimmung kann jedoch an Stelle einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe eine Geldstrafe verhängt werden, die nicht bedingt nachgesehen wird.

(3) Gegen seine Entscheidung ist kein Rechtsmittel zulässig."

III. Sachverhalt, Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

1.1. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 9. Dezember 2015, GZ 53 Hv 74/15m-120, wurde der Antragsteller der Verbrechen der (versuchten) schweren Erpressung nach §§15, 144 Abs1, 145 Abs2 Z1 StGB sowie der Verleumdung nach §297 Abs1 zweiter Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt.

1.2. Dagegen erhob der Antragsteller mit Schriftsatz vom 11. April 2016 fristgerecht die Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe sowie – unter Anregung der Einbringung eines Gesetzesprüfungsantrages beim Verfassungsgerichtshof durch den Obersten Gerichtshof – auch wegen des Ausspruchs über die Schuld.

1.3. Mit Schriftsatz vom 12. April 2016 begehrte der Antragsteller innerhalb der Rechtsmittelfrist beim Verfassungsgerichtshof die (ihm in der Folge gewährte) Bewilligung der Verfahrenshilfe; durch seinen Verfahrenshilfeverteidiger stellte er mit Schriftsatz vom 25. Mai 2016 den vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG gestützten Antrag.

2. Zur Zulässigkeit führt der Antragsteller aus, dass das Schöffengericht seinen Schuldspruch hinsichtlich des Erpressungstatbestandes (§§15, 144 Abs1, 145 Abs2 Z1 StGB) durch Annahme gewerbsmäßiger Tatbegehung auf §70 StGB idF vor BGBl I 112/2015 stütze, weshalb diese Bestimmung präjudiziell sei. Auf Grund der ferner bekämpften, vom Rechtsmittelgericht anzuwendenden verfahrensrechtlichen Regelungen der §§283 Abs1 und 295 Abs1 StPO sei es ihm verwehrt, das Urteil mit Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld anzufechten.

2.1. In der Sache hegt der Antragsteller gegen die angefochtene, nach Urteilsfällung (am 31. Dezember 2015) außer Kraft getretene Bestimmung des §70 StGB das Bedenken, dass diese das dem Gleichheitsgrundsatz inhärente Sachlichkeitsgebot verletze. Nach dieser Vorschrift reiche eine einzige (auch nur versuchte) Tat aus, um die Qualifikation der Gewerbsmäßigkeit zu begründen, sofern auf der subjektiven Tatseite die bloße Absicht der wiederkehrenden Tatbegehung zur Erschließung einer fortlaufenden Einnahmsquelle indiziert sei. Dadurch sei das qualifizierte Delikt gegenüber dem Grunddelikt ohne Unterschiede im Tatsächlichen gleichheitswidrig behandelt worden. Erst auf Grund der mit 1. Jänner 2016 in Kraft getretenen Neufassung des §70 StGB durch BGBl I 112/2015, die nunmehr Unterschiede im Tatsächlichen normiere, seien die divergenten Rechtsfolgen für die unqualifizierte Tatbegehung einerseits und jene für die gewerbsmäßige Begehung andererseits sachlich gerechtfertigt.

2.2. Im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Regelungen der §§283 Abs1 und 295 Abs1 StPO führt der Antragsteller aus, dass gegen Urteile des Landesgerichtes als Schöffengericht – anders als gegen solche eines Einzelrichters (§489 Abs1 iVm §464 Z2 StPO) – das Rechtsmittel der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld nicht zulässig sei. Während das Oberlandesgericht im Rahmen einer Schuldberufung die Beweiswürdigung des Einzelrichters umfassend zu prüfen habe, komme dem Obersten Gerichtshof im Rahmen der Entscheidung einer gegen ein Schöffenurteil erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde nur eingeschränkte Kognitionsbefugnis zu; der im Hinblick auf Art2 7. ZPEMRK gegen schöffengerichtliche Urteile eingefügte Nichtigkeitsgrund des §281 Abs1 Z5a StPO werde den Anforderungen an die Garantie der Nachprüfung einer strafrechtlichen Verurteilung durch ein übergeordnetes Gericht nicht gerecht.

Die StPO differenziere daher unsachgemäß und in Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (Art7 B‑VG) zwischen dem Strafverfahren vor dem Landesgericht als Einzelrichter einerseits und als Schöffen- bzw. Geschworenengericht andererseits, indem – im Unterschied zu kollegialgerichtlichen Urteilen – nur Urteile des Einzelrichters im Wege des Rechtsmittels der "vollen Berufung" auch in Bezug auf die Beweiswürdigung (ohne Neuerungsverbot) anfechtbar seien.

2.2.1. Während in Ansehung der Geschworenengerichtsbarkeit allenfalls ins Treffen geführt werden könne, dass der Wahrspruch der Geschworenen "einem Akt der Beweiswürdigung unzugänglich" sei, kämen derartige Überlegungen im Hinblick auf das schöffengerichtliche Verfahren nicht in Betracht. Zwar werde der Urteilsspruch von den Schöffen mitbestimmt, die Urteilsbegründung obliege indes allein dem Vorsitzenden und sei nicht vom Willen des Beisitzers oder der Laienrichter getragen; die Begründung erfolge sohin nicht anders als im einzelrichterlichen Verfahren. Der Ausschluss der Schuldberufung im Verfahren vor dem Schöffengericht sei daher verfassungsrechtlich nicht begründbar.

Auch würde im gerichtlichen Strafverfahren im Unterschied zum zivilgerichtlichen Verfahren oder zum Verwaltungsstrafverfahren "die Rechtsschutzmöglichkeit im Hinblick auf die Appellationsmöglichkeit umso schlechter, je schwerwiegender das Delikt und die drohende Strafe" ausfalle; das österreichische System verkehre insoweit die Intention des Art2 Z2 des 7. ZPEMRK, wonach von einer Appellationsmöglichkeit an das übergeordnete Gericht nur bei geringfügigen strafbaren Handlungen abgesehen werden könne, in ihr Gegenteil.

2.2.2. Die mangelnde Bekämpfbarkeit der Beweiswürdigung – über den Rahmen der Nichtigkeitsgründe des §281 Abs1 Z5 und Z5a StPO hinaus (die lediglich formelle Begründungsmängel beträfen) – "öffne der Willkür des vorsitzenden Berufsrichters Tür und Tor", der die in Art91 Abs3 B‑VG normierte Beteiligung von Schöffen nur bedingt Abhilfe zu leisten vermöge, weil diese "in der Regel dazu neigen" würden, "der Entscheidung des Berufsrichters zu folgen". Dies zeige auch die Beweiswürdigung im Ausgangsverfahren.

2.3. Schließlich wendet sich der Antragsteller gegen die konkrete Beweiswürdigung im Anlassfall.

3. Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat eine Aktenkopie vorgelegt.

4. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie die Zulässigkeit des Antrages sowohl hinsichtlich des §70 StGB als auch in Ansehung der §§283 Abs1 und 295 Abs1 StPO bestreitet; im Übrigen tritt sie den Bedenken inhaltlich entgegen.

4.1. Zur Zulässigkeit der Anfechtung des §70 StGB bringt die Bundesregierung vor, dass diese Vorschrift lediglich eine Legaldefinition der gewerbsmäßigen Begehung einer Straftat enthalte und ihre normative Bedeutung erst in Zusammenhang mit bestimmten Straftatbeständen, etwa mit dem – im Anlassverfahren angewendeten – Tatbestand des §145 Abs2 Z1 StGB erlange. Dieser werde vom Antragsteller aber nicht angefochten.

Bei Aufhebung der Legaldefinition des §70 StGB allein bliebe zudem unklar, wonach zu beurteilen wäre, ob die Qualifikation des §145 Abs2 Z1 StGB im Anlassverfahren zu Recht angenommen worden sei. Der Antragsteller lege nicht im Sinne des §62 Abs2 letzter Satz VfGG dar, welche Auswirkung die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes auf die beim Gericht anhängige Rechtssache haben würde.

4.2. Zur Zulässigkeit des Antrags hinsichtlich §§283 Abs1 und 295 Abs1 StPO führt die Bundesregierung aus:

"3.1. Ein Parteiantrag auf Normenkontrolle kann gemäß §62 Abs2 VfGG nur dann gestellt werden, wenn das angefochtene Gesetz vom Gericht in der anhängigen Rechtssache unmittelbar anzuwenden bzw. wenn die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes eine Vorfrage für die Entscheidung der beim Gericht anhängigen Rechtssache ist oder nach Ansicht der Antragsteller wäre. Der Antrag hat darzulegen, inwiefern das Gericht das Gesetz anzuwenden und welche Auswirkungen die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes auf die beim Gericht anhängige Rechtssache hätte.

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu Gerichtsanträgen fehlt es an der gemäß §62 Abs2 VfGG erforderlichen Präjudizialität, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die angefochtene Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (zB VfSlg 17.670/2005, 17.790/2006, 17.983/2006). §62 Abs2 VfGG idF BGBl I Nr 101/2014 übernimmt die Beschreibung der für einen Antrag an den Verfassungsgerichtshof erforderlichen Präjudizialität von Verordnungen, wie sie bis zur Novelle BGBl I Nr 33/2013 in §57 Abs2 VfGG enthalten war (AA-59 XXV. GP 10). Die dargestellte Rechtsprechung ist sinngemäß auf den Parteiantrag auf Normenkontrolle anwendbar (vgl. VfGH 2.7.2015, G33/2015).

3.2. Bestimmungen, die ausschließlich für die Entscheidung im Rechtsmittelverfahren anzuwenden sind, können nach Auffassung der Bundesregierung denkmöglich nur eine Voraussetzung der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts, nicht jedoch des Erstgerichts sein (vgl. Kneihs, Der Subsidiarantrag auf Verordnungs- und Gesetzeskontrolle, ZfV 1/2015, 35 [42]). Zu diesen Bestimmungen zählen auch solche, die die Zulässigkeit eines Rechtsmittels regeln (Frank, Gesetzesbeschwerde [2015], 98). Demgemäß hat der Verfassungsgerichtshof etwa den Antrag eines Unabhängigen Verwaltungssenates auf Aufhebung einer Vorschrift betreffend die Möglichkeit einer Amtsbeschwerde gegen Entscheidungen des Unabhängigen Verwaltungssenates mangels Präjudizialität der Bestimmung mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dass eine Bestimmung, die die Rechtsmittellegitimation beim Verwaltungsgerichtshof normiere, nicht bei der Erlassung des (Ersatz-)Bescheides durch den UVS, sondern denkmöglich nur im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof anzuwenden sei (VfSlg 16.680/2002).

3.3. §283 Abs1 StPO bestimmt, dass die Berufung gegen ein Urteil eines Landesgerichts als Schöffengericht nur aus bestimmten Berufungsgründen ergriffen werden kann. §295 Abs1 StPO bestimmt, dass das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung über die Berufung den Ausspruch des Gerichts über die Schuld des Angeklagten und über das anzuwendende Strafgesetz zugrunde zu legen hat. Die angefochtenen Bestimmungen regeln also zum einen die zulässigen Berufungsgründe (vgl. §283 Abs1 StPO), zum anderen die Kognitionsbefugnis des Rechtmittelgerichts (vgl. §295 Abs1 StPO).

3.4. […] Die Prüfung [von] Zulässigkeitsvoraussetzungen, wie insbesondere die geltend gemachten Berufungsgründe, ist dem Erstgericht schlechthin verwehrt."

IV. Zur Zulässigkeit

1. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels.

Nach §62a Abs1 erster Satz VfGG kann eine Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben.

Voraussetzung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle ist sohin – entsprechend der Formulierung des Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG – die Einbringung eines Rechtsmittels in einer "in erster Instanz entschiedenen Rechtssache", also eines Rechtsmittels gegen eine die Rechtssache erledigende Entscheidung erster Instanz. Außerdem muss der Parteiantrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG "aus Anlass" der Erhebung eines Rechtsmittels gestellt werden.

2. Beim vorliegenden Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien handelt es sich um eine die Strafsache in erster Instanz erledigende Entscheidung im Sinne des Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG.

Dem Erfordernis der Stellung des Parteiantrages aus Anlass eines (nach Mitteilung des Landesgerichtes für Strafsachen Wien rechtzeitigen und zulässigen Rechtsmittels) hat der Antragsteller durch Einbringung seines Verfahrenshilfeantrages beim Verfassungsgerichtshof innerhalb der vierwöchigen Frist zur Ausführung der angemeldeten Rechtsmittel sowie seines Parteiantrages innerhalb von vier Wochen nach Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung der Verfahrenshilfe an den Verfahrenshelfer Rechnung getragen.

3. Zur Anfechtung der Bestimmung des §70 StGB:

3.1. Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes kommt Legaldefinitionen – wie auch die Bundesregierung zutreffend darlegt – in der Regel keine eigenständige normative Bedeutung zu, eine solche wird vielmehr grundsätzlich erst im Zusammenhang mit anderen Regelungen, die diesen Begriff verwenden, bewirkt (vgl. VfSlg 17.340/2004 [512], 18.087/2007).

3.2. Die angefochtene Vorschrift des §70 StGB, BGBl 60/1974, beinhaltet lediglich eine derartige Beschreibung des Begriffs der gewerbsmäßigen Begehung, ohne eigenständige normative Bedeutung zu entfalten; normativen Gehalt erfährt der Terminus Gewerbsmäßigkeit erst in Verbindung mit jenen Vorschriften, die diesen enthalten, wie einzelne (qualifizierte) Tatbestände des Besonderen Teils des StGB, in concreto des Gegenstand des Schuldspruchs bildenden Tatbestandes der schweren Erpressung nach §145 Abs2 Z1 StGB. Der Antragsteller ficht die in Rede stehende Definition allerdings isoliert – und nicht gemeinsam mit der zuletzt genannten Vorschrift – an.

3.3. Insoweit erweist sich der Antrag schon wegen zu eng gewählten Anfechtungsumfanges als unzulässig.

4. Zur Anfechtung der §§283 Abs1 und 295 Abs1 StPO:

4.1. Ein Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes oder von bestimmten Stellen eines solchen gemäß Art140 Abs1 Z1 lita oder litd B‑VG kann gemäß §62 Abs2 VfGG nur gestellt werden, wenn das Gesetz vom Gericht in der anhängigen Rechtssache unmittelbar anzuwenden bzw. wenn die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes eine Vorfrage für die Entscheidung der beim Gericht anhängigen Rechtssache ist oder nach Ansicht der Antragsteller wäre (VfGH 26.11.2015, G191/2015).

4.2. Die Bundesregierung zieht in ihrer Äußerung die Präjudizialität der angefochteten Teile der §§283 und 295 StPO in Zweifel: Bestimmungen, die – wie jene – ausschließlich vom Rechtsmittelgericht im Rechtsmittelverfahren anzuwenden seien, könnten denkmöglich keine Voraussetzung für die Entscheidung des Erstgerichts bilden.

4.3. Der Antragsteller führt zur Präjudizialität der angefochtenen prozessualen Regelungen aus, dass diese ihn hindern würden, gegen ein schöffengerichtliches Urteil mittels Schuldberufung vorzugehen; die angeführten Bestimmungen wären vom Rechtsmittelgericht anzuwenden. Dass diese vom Erstgericht angewendet wurden oder anzuwenden gewesen wären, behauptet der Antragsteller nicht.

4.4. Die Grenzen der Aufhebung müssen auch in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren so gezogen werden, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt erhält und andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle in untrennbarem Zusammenhang stehenden Bestimmungen auch erfasst werden (vgl. VfSlg 13.965/1994, 16.542/2002, 16.911/2003 sowie VfGH 15.6.2016, G25, 26/2016). Die diesbezügliche Rechtsprechung beruht auf dem Grundgedanken, dass im Normenprüfungsverfahren nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als zur Bereinigung der Rechtslage unbedingt notwendig ist (vgl. VfSlg 17.220/2004, 19.933/2014; VfGH 15.6.2016, G25, 26/2016).

4.5. Dieser Grundposition folgend hat der Gerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. zB VfSlg 8155/1977, 12.235/1989, 13.915/1994, 14.498/1996, 16.212/2001; VfGH 15.6.2016, G25, 26/2016). Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.933/2014; VfGH 15.6.2016, G25, 26/2016).

4.6. §283 Abs1 StPO schränkt die Berufungsgründe gegen ein schöffengerichtliches Urteil ausdrücklich auf den Ausspruch über die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche ein. §295 Abs1 leg.cit. legt die Kognitionsbefugnis des Oberlandesgerichtes bei seiner Berufungsentscheidung dahin fest, dass dieses an den erstgerichtlichen Ausspruch über die Schuld und das anzuwendende Strafgesetz gebunden ist.

Über die Frage der Zulässigkeit und der Rechtzeitigkeit einer Berufung hat (anders als bei der Nichtigkeitsbeschwerde – vgl. §285a StPO) grundsätzlich nicht das Erstgericht, sondern das Berufungsgericht zu entscheiden (vgl. auch Fabrizy, StPO12 , 2014,§294 Rz 8 mwN).

4.7. Nach dem System der Strafprozeßordnung 1975 können Urteile (im bezirksgerichtlichen und) im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichtes mit sog. "voller Berufung" (§§464, 489 Abs1 StPO) in rechtlicher und tatsächlicher Richtung bekämpft werden, wobei die Anfechtung der Tatfrage mittels Berufung gegen den Ausspruch über die Schuld zulässig ist. Demgegenüber steht gegen Urteile des Landesgerichtes als Schöffengericht (abgesehen von der Berufung gegen den Ausspruch über die Strafe und über die privatrechtlichen Ansprüche – §283 Abs1 StPO) nur die Nichtigkeitsbeschwerde gemäß §281 StPO in Bezug auf die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens und des Urteils, nicht aber in Ansehung der freien richterlichen Beweiswürdigung offen. Die Beweiswürdigung obliegt im schöffengerichtlichen Verfahren ausschließlich den Tatrichtern, im Rahmen des (nur zugunsten des Angeklagten eingeräumten) Nichtigkeitsgrundes gemäß §281 Abs1 Z5a StPO (der sog. Tatsachenrüge) steht dem Obersten Gerichtshof im Hinblick auf die Beweiswürdigung lediglich eine Vertretbarkeitskontrolle zu.

Die Nichtigkeitsberufung gegen einzelrichterliche Urteile des Landesgerichtes ist indes gemäß §489 Abs1 StPO ausdrücklich auf die Nichtigkeitsgründe des §281 Abs1 Z1 bis 5 und 6 bis 11 beschränkt; eine Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes des die Beweiswürdigung betreffenden §281 Abs1 Z5a StPO scheidet daher im einzelrichterlichen Verfahren – angesichts der umfassenden Bekämpfbarkeit der Beweisfrage im Wege der Schuldberufung – aus.

4.8. Schon vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Ausgestaltung der Rechtsmittel in Bezug auf einzelrichterliche Urteile einerseits und kollegialgerichtliche Urteile andererseits ist auch die auf einzelne Teile der §§283 und 295 StPO beschränkte Anfechtung jedenfalls zu eng gewählt, weil – im Fall des Vorliegens der behaupteten Verfassungswidrigkeit der Einschränkung der Schuldberufung auf einzelrichterliche Verfahren – zumindest eine Aufhebung all jener Regelungen hinsichtlich der Rechtsmittelgründe, die Beweiswürdigungsfragen betreffen (wie etwa §281 Abs1 Z5a StPO),zur Beseitigung der ins Treffen geführten Gleichheitswidrigkeit erforderlich wäre.

V. Ergebnis

1. Der vorliegende, auf Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG gestützte Antrag ist zur Gänze als unzulässig zurückzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte