VfGH B117/03

VfGHB117/0310.6.2003

Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt aufgrund Mißachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit durch Unterlassung der Zustellung der Berufungsbeantwortung des Kammeranwaltes an den Beschwerdeführer

Normen

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
DSt 1990 §48
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
DSt 1990 §48

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.

Der Bescheid wird daher aufgehoben.

Die Rechtsanwaltskammer Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit € 2.142,- bestimmten Prozeßkosten bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt in Wien. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien vom 14. September 2001 wurde er für schuldig erkannt, er habe

" 1.1. als Vertreter von Dr. Dipl. Ing. B. M. und W. M. die Schreiben vom 11.3.1996, 2.5.1996, 19.12.1996 und 4.3.1997 an den Vertreter der Gegenseite, Rechtsanwalt Dr. M. G., sowie (jeweils parallel) eine Kopie davon an dessen Mandanten Robert Maldoner gerichtet und hiedurch das Mandatsverhältnis umgangen;

1.2 im Verfahren 12 Cg 78/97v des Landesgerichts Innsbruck im Schriftsatz vom 10.9.1997 dem Beklagtenvertreter vorgeworfen, dieser habe sich aus unverständlichen Gründen an der Vertragserrichtung nicht beteiligt, sondern seinen Mandanten buchstäblich im Stich gelassen, und dadurch den Parteienvertreter persönlich in Streit gezogen;

2. ... mit Telefaxschreiben vom 24.8.1999 unzulässigen Druck ausgeübt, indem er ankündigte, er werde am 25.8.1999 die Wohnung der G. P. in 1080 Wien, ..., mit verschiedenen Mietinteressenten besichtigen; falls die Wohnung nicht geöffnet werde, würde er den Schlüsseldienst bemühen, weswegen er in weiterer Folge vom Bezirksgericht Josefstadt mit Endbeschluss vom 31.12.1999, AZ 9 C344/99, rechtskräftig einer Besitzstörungshandlung für schuldig erkannt wurde;

3. ... als Errichter des Kaufvertrages vom 21. Juni 1999, abgeschlossen zwischen H. N. und A. E. N. als Verkäufer einerseits und G. M. als Käufer andererseits den bei ihm am 7.7.1999 eingegangenen Kaufpreis von ATS 300.000,- nicht zur Hälfte an H. N. ausgefolgt, sondern ohne Zustimmung desselben den an diesen auszuzahlenden Betrag von 132.000,- entgegen seiner Auszahlungsverpflichtung an H. N. für A. N. am 12.7.1999 gerichtlich hinterlegt".

Er habe dadurch zu 1., 2. und 3. jeweils die Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen und wurde deswegen gemäß §16 Abs1 Z2 DSt 1990 zur Disziplinarstrafe einer Geldbuße in der Höhe von S 30.000,- verurteilt und zum anteiligen Ersatz der Kosten des Disziplinarverfahrens verpflichtet.

2. Die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (in der Folge: OBDK) gab der dagegen erhobenen Berufung mit Erkenntnis vom 23. September 2002 keine Folge.

3. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

4. Die OBDK als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdeausführungen entgegentritt. Der Beschwerdeführer replizierte darauf.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der Beschwerdeführer macht ua. geltend, er habe erst nachträglich Kenntnis davon erhalten, daß der Kammeranwalt eine Gegenäußerung zur Rechtsmittelausführung erstattet habe. Da ihm diese Äußerung nicht übermittelt worden sei, um ihm auf diese Weise Gelegenheit zur Erstattung einer Replik rechtzeitig vor der Berufungsverhandlung zu geben, könne unter Hinweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 22. Februar 1996 im Fall Bulut gg. Österreich und auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 21. Juni 2000, VfSlg. 15840/2000, nicht von einer Waffengleichheit im Verfahren vor der OBDK gesprochen werden. Daran könne auch der Umstand nichts ändern, daß ihm gemäß §48 DSt 1990 ein Recht auf Akteneinsicht zustehe.

2. Dieser Vorwurf erweist sich als berechtigt.

2.1. Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner ständigen Rechtsprechung, wonach die Verfahrensgarantien nach Art6 EMRK im Disziplinarverfahren vor der OBDK Anwendung finden

(vgl. bereits VfSlg. 11512/1987, 15495/1999, 15840/2000).

2.2. Im vorliegenden Fall fordert der Grundsatz der Waffengleichheit, daß dem Beschwerdeführer die Gegenäußerung des Kammeranwaltes so rechtzeitig zur Kenntnis gebracht wird, daß ihm ausreichend Zeit und Gelegenheit gegeben ist, dazu Stellung zu nehmen.

Zum gleichen Ergebnis ist der Verfassungsgerichtshof in den Erkenntnissen VfSlg. 15840/2000 und B198/02 vom 19.6.2002 gelangt, denen gleichgelagerte Fälle zugrundelagen. Auch damals sprach der Verfassungsgerichtshof aus, daß

"... dem Beschwerdeführer die Äußerung des Kammeranwaltes übermittelt [hätte] werden müssen, um ihm auf diese Weise die Gelegenheit einer Replik zu geben. Der Wortlaut des §48 DSt 1990 steht dieser verfassungsgesetzlich gebotenen Vorgangsweise jedenfalls nicht im Wege. Der im §48 Abs3 DSt 1990 geregelte Anspruch des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht ist nicht ausreichend, um den Garantien des Art6 EMRK zu genügen (vgl. EGMR im Fall Brandstetter). Im Unterbleiben der rechtzeitigen Inkenntnissetzung hat der Beschwerdeführer im Verfahren vor der OBDK gegenüber der 'Anklageseite' einen Informationsnachteil erlitten, der ihn im Hinblick auf den 'Grundsatz der Waffengleichheit' in seinem gemäß Art6 EMRK gewährleisteten Recht verletzt".

Der Verfassungsgerichtshof sieht aufgrund des vorliegenden Falles keinen Anlaß, von dieser ständigen Rechtsprechung abzugehen (vgl. auch schon VfSlg. 14790/1997 mwN).

2.3. Aus dem vorgelegten Verwaltungsakt ergibt sich, daß die Berufung des Beschwerdeführers gegen das Disziplinarerkenntnis am 10. Jänner 2002 beim Disziplinarrat eingelangt ist. Der Disziplinarrat stellte die Berufung gemäß §48 Abs1 DSt 1990 dem Kammeranwalt zur schriftlichen Äußerung zu. Der Kammeranwalt erstattete am 11. Februar 2002 eine 5-seitige Äußerung. Aus den Verwaltungsakten und dem Protokoll über die Verhandlung vor der OBDK ergibt sich kein Hinweis darauf, daß dem Beschwerdeführer diese Gegenäußerung des Kammeranwalts rechtzeitig zugestellt worden wäre.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Verletzung des durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein faires Verfahren aufzuheben.

Bei diesem Ergebnis war es entbehrlich, auf das weitere Beschwerdevorbringen im einzelnen einzugehen.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 327,-

enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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