VfGH B198/02

VfGHB198/0219.6.2002

Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt aufgrund Mißachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit durch Unterlassung der Zustellung der Berufungsbeantwortung des Kammeranwaltes an den Beschwerdeführer

Normen

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
DSt 1990 §48
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
DSt 1990 §48

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.

Der Bescheid wird daher aufgehoben.

Die Oberösterreichische Rechtsanwaltskammer ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit € 2142,- bestimmten Prozeßkosten bei sonstigem Zwang zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Disziplinarrat der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer erkannte mit Bescheid vom 8. Jänner 2001 den Beschwerdeführer der Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes für schuldig, weil er die Tatbestände der Doppelvertretung sowie der Verletzung der anwaltlichen Treuepflicht (§§9 und 10 RAO) durch sein Verhalten verwirklicht habe und verhängte über ihn gemäß §16 Abs1 Z2 Disziplinarstatut 1990 (DSt 1990) eine Geldbuße in der Höhe von S 30.000,-.

2. Die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) gab der dagegen erhobenen Berufung mit Erkenntnis vom 29. Oktober 2001 keine Folge.

3. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

4. Die OBDK als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete jedoch keine Gegenschrift.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der Beschwerdeführer macht ua. geltend, er habe erst anläßlich der Berufungsverhandlung vom 29. Oktober 2001 (in welcher der angefochtene Bescheid erlassen wurde) Kenntnis davon erhalten, daß der Kammeranwalt eine Berufungsbeantwortung abgegeben habe. Da ihm diese Äußerung nicht übermittelt worden sei, um ihm auf diese Weise Gelegenheit zur Erstattung einer Replik rechtzeitig vor der Berufungsverhandlung zu geben, könne unter Hinweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 22. Februar 1996 im Fall Bulut gg. Österreich und auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 21. Juni 2000, VfSlg. 15840, nicht von einer Waffengleichheit im Verfahren vor der OBDK gesprochen werden. Daran könne auch der Umstand nichts ändern, daß ihm gemäß §48 DSt 1990 ein Recht auf Akteneinsicht zustehe.

2. Dieser Vorwurf erweist sich als berechtigt.

2.1. Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner ständigen Rechtsprechung, wonach die Verfahrensgarantien nach Art6 EMRK im Disziplinarverfahren vor der OBDK Anwendung finden

(vgl. bereits VfSlg. 11512/1987, 15495/1999, 15840/2000).

2.2. Wie sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt des Disziplinarrates ergibt, hat der Kammeranwalt auf die Berufung des Beschwerdeführers in einer Berufungsbeantwortung, die am 2. Mai 2001 beim Disziplinarrat eingelangt ist, iS des §48 Abs2 DSt 1990 repliziert. Darin setzte er sich mit dem Berufungsvorbringen auseinander und stellte den begründeten Antrag, der Berufung keine Folge zu geben und das Erkenntnis des Disziplinarrates vom 8. Jänner 2001 zu bestätigen. Diese Äußerung wurde in dreifacher Ausfertigung erstattet, wobei keine dieser Ausfertigungen dem Beschwerdeführer zugestellt wurde. Die Berufungsbeantwortung wurde während der mündlichen Verhandlung vor der OBDK, in welcher die disziplinäre Verurteilung des Beschwerdeführers ausgesprochen wurde, dem Beschwerdeführer im Wege der Verlesung zur Kenntnis gebracht.

2.3. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR stellt der Grundsatz der Waffengleichheit "nur einen der Wesenszüge des weiteren Konzepts eines fairen Verfahrens dar", welches auch das "grundsätzliche Recht einschließe, daß ein Verfahren kontradiktorisch sein soll" (vgl. etwa EGMR 23.6.1993, Ruiz-Mateos gg. Spanien, ÖJZ 1994, 105; EGMR 20.2.1996, Vermeulen gg. Belgien, ÖJZ 1996, 673). Außerdem verlange der Grundsatz der Waffengleichheit iS eines fairen Gleichgewichts zwischen den Parteien weiter, daß jede Partei "angemessene Gelegenheit (a reasonable opportunity) erhalten soll, ihren Fall unter Bedingungen zu präsentieren, welche sie nicht in eine nachteilige Position gegenüber ihren Gegner bringt" (vgl. etwa EGMR 27.10.1993, Dombo Beheer B.V. gg. die Niederlande, ÖJZ 1994, 464, EGMR 22.2.1996, Bulut gg. Österr., ÖJZ 1996, 430, EGMR 24.11.1997, Werner gg. Österr., ÖJZ 1998, 233; vgl. auch EGMR 21.9.1993, Kremzow gg. Österr., ÖJZ 1994, 210).

Der Verfassungsgerichtshof schließt sich dieser Auffassung an.

Nun hat zwar durch die Inkenntnissetzung des Beschwerdeführers von der Berufungsbeantwortung (im Wege ihrer Verlesung in der mündlichen Verhandlung vor der OBDK) ein kontradiktorisches Verfahren stattgefunden; es kann jedoch gerade angesichts des Umstandes, daß der Beschwerdeführer erst anläßlich der mündlichen Verhandlung vor der OBDK - in welcher er rechtskräftig zur Disziplinarstrafe von S 30.000,- verurteilt wurde - von der Berufungsbeantwortung erfuhr, nicht gefunden werden, daß dem Beschwerdeführer ausreichend Zeit und Gelegenheit geboten wurde, seinen Standpunkt zur Rechtsauffassung des Kammeranwaltes in Form einer (schriftlich oder mündlich vorgebrachten) Gegenäußerung vorzubereiten.

Im vorliegenden Fall fordert der Grundsatz der Waffengleichheit, daß dem Beschwerdeführer die Berufungsbeantwortung des Kammeranwaltes so rechtzeitig zugestellt wird, daß ihm ausreichend Zeit und Gelegenheit gegeben ist, dazu Stellung zu nehmen.

Zum gleichen Ergebnis ist der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 15840/2000 gelangt, dem ein gleichgelagerter Fall zugrundelag. Auch damals sah sich der Verfassungsgerichtshof veranlaßt auszusprechen, daß

"... dem Beschwerdeführer die Äußerung des Kammeranwaltes übermittelt [hätte] werden müssen, um ihm auf diese Weise die Gelegenheit einer Replik zu geben. Der Wortlaut des §48 DSt 1990 steht dieser verfassungsgesetzlich gebotenen Vorgangsweise jedenfalls nicht im Wege. Der im §48 Abs3 DSt 1990 geregelte Anspruch des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht ist nicht ausreichend, um den Garantien des Art6 EMRK zu genügen (vgl. EGMR im Fall Brandstetter). Im Unterbleiben der rechtzeitigen Inkenntnissetzung hat der Beschwerdeführer im Verfahren vor der OBDK gegenüber der 'Anklageseite' einen Informationsnachteil erlitten, der ihn im Hinblick auf den 'Grundsatz der Waffengleichheit' in seinem gemäß Art6 EMRK gewährleisteten Recht verletzt."

Der Verfassungsgerichtshof sieht aufgrund des vorliegenden Falles keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzugehen, sodaß auszusprechen war, daß der angefochtene Bescheid wegen Verletzung des durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein faires Verfahren aufzuheben war.

Bei diesem Ergebnis war es entbehrlich, auf das Beschwerdevorbringen im einzelnen einzugehen.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 327,-

enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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