VfGH V177/2022 ua

VfGHV177/2022 ua14.12.2022

Aufhebung einer — im Jahr 2010 erlassenen — GeschwindigkeitsbeschränkungsV in Graz mangels gesetzlicher Grundlage; dokumentierter Wegfall der Grundlage auf Grund der Änderung der örtlichen Verhältnisse sowie Ignorieren der Ergebnisse der Überprüfung

Normen

B-VG Art139 Abs1 Z1
StVO 1960 §43, §44, §52, §96 Abs2
GeschwindigkeitsbeschränkungsV des Bürgermeisters der Stadt Graz vom 09.04.2010
VfGG §7 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2022:V177.2022

 

Spruch:

I. Die Verordnung des Bürgermeisters der Stadt Graz vom 9. April 2010, ZA 10/1‑008032/2010‑0004, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

II. Die Steiermärkische Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem zu V177/2022 protokollierten, auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Steiermark, der Verfassungsgerichtshof möge "die Verordnung des Bürgermeisters der Stadt Graz vom 09.04.2010, GZ: A10/1‑008032/2010‑0004, betreffend 'Geschwindigkeitsbeschränkung (erlaubte Höchstgeschwindigkeit) von 30 km/h' mit dem Zusatz 'An Schultagen von 07.00 bis 19.00 Uhr'" als gesetzwidrig aufheben. "[F]ür den Fall, dass die betroffene Verordnung zwischenzeitig aufgrund des anhängigen Verfahrens beseitigt wurde", wird in eventu der Antrag gestellt, festzustellen, dass die angefochtene Verordnung gesetzwidrig war.

II. Rechtslage

1. Die Verordnung des Bürgermeisters der Stadt Graz vom 9. April 2010, ZA 10/1‑008032/2010‑0004, hat folgenden Wortlaut (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):

"Verordnung

Gemäß §43 StVO 1960, BGBl Nr 159/1960, idgF (StVO) wird aufgrund des Verhandlungsergebnisses vom 26.03.2010 für die/den St.‑Peter‑Hauptstraße ein(e) 'Geschwindigkeitsbeschränkung (erlaubte Höchstgeschwindigkeit) von 30 km/h' mit dem Zusatz 'An Schultagen von 07.00 - 19.00 Uhr' verordnet.

Diese Verordnung tritt gem. §44 Abs1 StVO mit der Anbringung des/der Straßenverkehrszeichen(s) gem. §52 a Z10a u. b StVO 1960 und der (den) entsprechenden Zusatztafel(n) gem. §54 StVO in Kraft.

Die Position(en) der/des Verkehrszeichen(s) sind im beigelegten Plan, welcher einen integrierenden Bestandteil dieser Verordnung bildet, ersichtlich gemacht.

Für den Bürgermeister:

[…]"

2. Die anzuwendenden Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960), BGBl 159/1960, lauten in der jeweils maßgeblichen Fassung wie folgt (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):

"§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.

(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung

a) […]

b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,

1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,

2. […].

(1a)–(11) […]

§44. Kundmachung der Verordnungen.

(1) Die im §43 bezeichneten Verordnungen sind, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft. Der Zeitpunkt der erfolgten Anbringung ist in einem Aktenvermerk (§16 AVG) festzuhalten. Parteien im Sinne des §8 AVG ist die Einsicht in einen solchen Aktenvermerk und die Abschriftnahme zu gestatten. Als Straßenverkehrszeichen zur Kundmachung von im §43 bezeichneten Verordnungen kommen die Vorschriftszeichen sowie die Hinweiszeichen 'Autobahn', 'Ende der Autobahn', 'Autostraße', 'Ende der Autostraße', 'Einbahnstraße', 'Ortstafel', 'Ortsende', 'Internationaler Hauptverkehrsweg', 'Straße mit Vorrang', 'Straße ohne Vorrang', 'Straße für Omnibusse' und 'Fahrstreifen für Omnibusse' in Betracht. Als Bodenmarkierungen zur Kundmachung von im §43 bezeichneten Verordnungen kommen Markierungen, die ein Verbot oder Gebot bedeuten, wie etwa Sperrlinien, Haltelinien vor Kreuzungen, Richtungspfeile, Sperrflächen, Zickzacklinien, Schutzwegmarkierungen oder Radfahrerüberfahrtmarkierungen in Betracht.

(1a)–(5) […]

[…]

"§52. Die Vorschriftszeichen

Die Vorschriftszeichen sind

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen,

b) Gebotszeichen oder

c) Vorrangzeichen.

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen

1.–9d. […]

10a. 'GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG (ERLAUBTE HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT)'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt an, dass das Überschreiten der Fahrgeschwindigkeit, die als Stundenkilometeranzahl im Zeichen angegeben ist, ab dem Standort des Zeichens verboten ist. Ob und in welcher Entfernung es vor schienengleichen Eisenbahnübergängen anzubringen ist, ergibt sich aus den eisenbahnrechtlichen Vorschriften.

10b. 'ENDE DER GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt das Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung an. Es ist nach jedem Zeichen gemäß Z10a anzubringen und kann auch auf der Rückseite des für die Gegenrichtung geltenden Zeichens angebracht werden. Es kann entfallen, wenn am Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung eine neue Geschwindigkeitsbeschränkung, sei es auch nicht aufgrund dieses Bundesgesetzes, beginnt.

11.–14b. […]

b) Gebotszeichen.

15.–22a. […]

c) Vorrangzeichen

23.–25b. […]

[…]

§54. Zusatztafeln.

(1) Unter den in den §§50, 52 und 53 genannten Straßenverkehrszeichen sowie unter den in §38 genannten Lichtzeichen können auf Zusatztafeln weitere, das Straßenverkehrszeichen oder Lichtzeichen erläuternde oder wichtige, sich auf das Straßenverkehrszeichen oder Lichtzeichen beziehende, dieses erweiternde oder einschränkende oder der Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs dienliche Angaben gemacht werden.

(2)–(5) […]"

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Steiermark wurde über den Beschwerdeführer vor dem Landesverwaltungsgericht Steiermark (im Folgenden: Beschwerdeführer) wegen eines Verstoßes gegen §52 lita Z10a StVO 1960 gemäß §99 Abs3 lita StVO 1960 eine Geldstrafe in der Höhe von € 140,– und eine Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von zwei Tagen und 16 Stunden verhängt. Dem Beschwerdeführer wurde zur Last gelegt, er habe als Lenker eines nach dem Kennzeichen näher bestimmten Personenkraftwagens am 29. November 2021, um 12.45 Uhr, in Graz, St. Peter-Hauptstraße gegenüber Nr 182, in Fahrtrichtung Norden, die durch Straßenverkehrszeichen kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 21 km/h überschritten.

2. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Steiermark den vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge "die Verordnung des Bürgermeisters der Stadt Graz vom 09.04.2010, GZ: A10/1‑008032/2010-0004, betreffend 'Geschwindigkeitsbeschränkung (erlaubte Höchstgeschwindigkeit) von 30 km/h' mit dem Zusatz 'An Schultagen von 07.00 bis 19.00 Uhr'" als gesetzwidrig aufheben. In eventu wird der Antrag gestellt, festzustellen, dass die angefochtene Verordnung gesetzwidrig war.

2.1. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark weist im Zusammenhang mit der Präjudizialität der angefochtenen Verordnung darauf hin, dass es diese im Beschwerdeverfahren unmittelbar anzuwenden habe.

2.2. In der Folge legt es seine Bedenken gegen die angefochtene Verordnung dar:

Aus dem Verordnungsakt sei ersichtlich, dass in der Besprechung der Arbeitsgruppe "Verkehrssicherheit" am 28. Juni 2019 festgehalten worden sei, dass die angefochtene Geschwindigkeitsbeschränkung nicht mehr erforderlich sei. Sie sei jedoch auf Grund einer schriftlichen Weisung der damaligen Stadträtin aufrechterhalten worden. Aus dieser Aktenlage ergebe sich, dass die angefochtene Verordnung sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht erforderlich sei.

Das Landesverwaltungsgericht Steiermark habe im Zuge des Beschwerdeverfahrens ein verkehrstechnisches Gutachten eingeholt, das zusammenfassend zu dem Schluss komme, dass die angefochtene Geschwindigkeitsbeschränkung aus fachlicher Sicht nicht erforderlich sei und daher deren Aufhebung empfohlen werde.

3. Die Steiermärkische Landesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der auf die Gefahrensituation, die durch die anrainende Schule entstehe, sowie auf damit im Zusammenhang stehende verkehrsplanerische und verhaltenspsychologische und verkehrspsychologische Aspekte hingewiesen wird. Die Steiermärkische Landesregierung tritt ferner den Annahmen des im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Steiermark eingeholten Gutachtens entgegen und verweist auf die ihrer Äußerung beigelegte "Verkehrswissenschaftliche Stellungnahme und Gutachten für den Fachbereich Verkehrstechnik und Verkehrsplanung" vom 28. Juli 2022.

4. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark hat eine Replik erstattet.

5. Die verordnungserlassende Behörde hat die Akten betreffend das Zustandekommen der zur Prüfung gestellten Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der sie sich im Wesentlichen den Ausführungen der Steiermärkischen Landesregierung anschließt.

6. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark stellte zur Zahl V199/2022 einen weiteren, dem Inhalt nach im Wesentlichen gleichlautenden Antrag. Der Verfassungsgerichtshof führte zu diesem Antrag (im Hinblick auf §19 Abs3 Z4 VfGG) kein weiteres Verfahren durch (vgl VfSlg 20.244/2018).

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof vertritt zu Art89 Abs1 B‑VG beginnend mit dem Erkenntnis VfSlg 20.182/2017 die Auffassung, dass eine "gehörig kundgemachte" generelle Norm – also eine an einen unbestimmten, externen Personenkreis adressierte, verbindliche Anordnung von Staatsorganen – bereits dann vorliegt, wenn eine solche Norm ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz erlangt (VfSlg 20.182/2017). Es ist nicht notwendig, dass die Kundmachung der Norm in der rechtlich vorgesehenen Weise erfolgt. Demnach haben auch Gerichte gesetzwidrig kundgemachte Verordnungen gemäß Art139 B‑VG anzuwenden und diese, wenn sie Bedenken gegen ihre rechtmäßige Kundmachung haben, vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten. Bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof sind sie für jedermann verbindlich (vgl VfSlg 20.251/2018).

Die angefochtene Geschwindigkeitsbeschränkung wurde ausweislich der vorgelegten Akten durch die Aufstellung entsprechender Straßenverkehrszeichen am 19. April 2010 und – nach einer infolge von Umbauarbeiten zeitweiligen nicht ordnungsgemäßen Kundmachung erneut – am 5. Oktober 2012 kundgemacht, sodass sie mit verbindlicher Wirkung für jedermann zustande gekommen ist.

1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Dem Beschwerdeführer wird zur Last gelegt, er habe im räumlichen Geltungsbereich der angefochtenen Verordnung die mit dieser festgesetzte Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h überschritten. Es ist daher offenkundig, dass das Landesverwaltungsgericht Steiermark die angefochtene Verordnung im Beschwerdeverfahren anzuwenden hat.

1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Hauptantrag insgesamt als zulässig, sodass auf den Eventualantrag nicht weiter einzugehen ist.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den im Antrag dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag ist begründet.

Nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark ergebe sich aus dem Inhalt des Verordnungsaktes, dass die angefochtene Verordnung sachlich nicht gerechtfertigt bzw nicht erforderlich sei.

2.2.1. §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960 sieht die Erlassung dauernder oder vorübergehender Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung vor, wenn und soweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes und wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hat die Behörde vor Erlassung einer verkehrsbeschränkenden Verordnung die im Einzelnen umschriebenen Interessen an der Verkehrsbeschränkung mit dem Interesse an der ungehinderten Benützung der Straße abzuwägen und dabei die (tatsächliche) Bedeutung des Straßenzuges zu berücksichtigen (vgl zB VfSlg 8086/1977, 9089/1981, 12.944/1991, 13.449/1993, 13.482/1993). Die sohin gebotene Interessenabwägung erfordert sowohl die nähere, sachverhaltsmäßige Klärung der Gefahren oder Belästigungen für Bevölkerung und Umwelt, vor denen die Verkehrsbeschränkung schützen soll, als auch eine Untersuchung der Verkehrsbeziehungen und der Verkehrserfordernisse durch ein entsprechendes Anhörungs- und Ermittlungsverfahren (vgl zB VfSlg 12.485/1990, 16.805/2003, 17.572/2005). Die Gefahrensituation muss sich für die betreffende Straße deutlich von der allgemeinen, für den Straßenverkehr typischen Gefahrenlage unterscheiden (vgl zB VfSlg 14.000/1994).

Wie der Verfassungsgerichtshof in den Erkenntnissen VfSlg 8984/1980 und 9721/1983 ausgeführt und in zahlreichen nachfolgenden Erkenntnissen wiederholt hat (vgl VfSlg 13.371/1993, 14.051/1995, 15.643/1999, 16.016/2000, 16.805/2003, 17.573/2005), sind bei der Prüfung der Erforderlichkeit einer Verordnung nach §43 StVO 1960 die bei der bestimmten Straße oder Straßenstrecke, für die die Verordnung erlassen werden soll, anzutreffenden, für den spezifischen Inhalt der betreffenden Verordnung relevanten Umstände mit jenen Umständen zu vergleichen, die für eine nicht unbedeutende Anzahl anderer Straßen zutreffen.

Der Verfassungsgerichtshof geht somit in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Behörde bei Anwendung der vom Gesetzgeber mit unbestimmten Begriffen umschriebenen Voraussetzungen für die Erlassung von Verkehrsbeschränkungen oder -verboten durch Verordnung einen Vergleich der Verkehrs- und Umweltverhältnisse anzustellen hat. Die betreffenden Verhältnisse an den Straßenstrecken, für welche eine Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Betracht gezogen wird, müssen derart beschaffen sein, dass sie gegenüber anderen Straßen eine Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gebieten.

2.2.2. §96 Abs2 StVO 1960 sieht vor, dass die Behörde mindestens alle fünf Jahre (in der Fassung vor BGBl I 123/2015 alle zwei Jahre) unter Beiziehung des Straßenerhalters alle angebrachten Einrichtungen zur Regelung und Sicherung des Verkehrs daraufhin zu überprüfen hat, ob sie noch erforderlich sind. Nicht mehr erforderliche Einrichtungen dieser Art sind zu entfernen.

Die Verletzung der Überprüfungspflicht nach §96 Abs2 StVO 1960 begründet nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes für sich allein noch keine Gesetzwidrigkeit von Verordnungen, deren Überprüfung unterblieben war (vgl VfGH 22.9.2021, V102/2021 mwN), sodass regelmäßig davon auszugehen ist, dass eine Verordnung für die in §96 Abs2 StVO 1960 festgelegte Zeit auch dann gesetzlich gedeckt ist, wenn die Voraussetzungen für ihre Erlassung in der Folge wegfallen sind. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn solche Umstände der Behörde vorzeitig angezeigt wurden, für sie bereits vorher erkennbar waren oder sie davon Kenntnis haben musste (vgl VfSlg 12.290/1990, 16.366/2001 mwN), und muss umso mehr für den Fall gelten, dass die Behörde – wie im vorliegenden Fall – eine Überprüfung durchgeführt hat, aus der sich ergibt, dass die Erforderlichkeit einer Verordnung nicht mehr gegeben ist.

2.2.2.1. Mit der angefochtenen Verordnung wurde im Jahr 2010 für den Bereich St. Peter‑Hauptstraße Nr 172 bis Nr 182 auf Grund einer auf der Liegenschaft St. Peter‑Hauptstraße Nr 182 befindlichen Volksschule an Schultagen, in der Zeit von 7.00 Uhr bis 19.00 Uhr, eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h verfügt.

Laut einem im Akt einliegenden Protokoll fand am 28. Juni 2019 eine Besprechung der Arbeitsgruppe "Verkehrssicherheit" statt, an der jeweils ein Vertreter des Straßenamtes, des Kuratoriums für Verkehrssicherheit, der Magistratsabteilung für Verkehrsplanung, des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung und des Stadtpolizeikommandos sowie ein Konsulent teilnahmen. Im Rahmen dieser Besprechung wurde eine Besichtigung der örtlichen Gegebenheiten ua betreffend die angefochtene Geschwindigkeitsbeschränkung in der St. Peter‑Hauptstraße durchgeführt. Dem Protokoll über diese Besprechung und Besichtigung lässt sich Folgendes entnehmen: Die Auflassung der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung sei bereits in einer Besprechung am 29. März 2019 thematisiert worden. Die Berechtigung der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung sei vom Vertreter der Polizei im Hinblick darauf hinterfragt worden, dass sich der Zugang zu der betreffenden Volksschule abseits der St. Peter‑Hauptstraße befinde. Es sei ferner ins Treffen geführt worden, dass Umbauarbeiten mittlerweile zu geänderten örtlichen Gegebenheiten geführt hätten. Die Gehsteige wiesen eine Mindestbreite von zwei Metern auf und seien stadteinwärts durch den Fahrstreifen für Omnibusse und stadtauswärts durch einen Mehrzweckstreifen von den Fahrstreifen des motorisierten Individualverkehrs getrennt. Die Recherche zur Genesis der Verordnung habe sich als wenig ertragreich erwiesen. Im Zuge einer Neubeurteilung vor Ort sei jedoch festgestellt worden, dass die Erforderlichkeit der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung nicht mehr gegeben sei. Einerseits erlaube eine vorhandene Verkehrslichtsignalanlage ein gesichertes Queren der Straße, andererseits sei der Fußgängerverkehr durch die neue Querschnittsaufteilung und das Vorsehen des Mehrzweckstreifens weiter vom motorisierten Verkehr abgerückt. Ferner existiere durch den Ausbau der Haltestelle ein ausreichend breiter Gehsteig zwischen der Haltestelle und dem Zugang zum Schulgelände. Die anwesenden Mitglieder der Arbeitsgruppe sprachen sich in der Folge für die Aufhebung der Geschwindigkeitsbeschränkung aus.

Dieses Protokoll wurde an die zuständige Stadträtin mit der Bitte um schriftliche Anweisung zur weiteren Vorgehensweise übermittelt. Mit E-Mail vom 18. September 2019 ersuchte die Stadträtin ohne nähere Begründung um Beibehaltung der nunmehr angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung.

2.2.2.2. Aus dem vorgelegten Verordnungsakt ergibt sich daher, dass die Voraussetzungen für die Erlassung der angefochtenen Verordnung iSd §43 Abs1 StVO 1960 (insbesondere auf Grund der mittlerweile geänderten baulichen Gegebenheiten) bereits im Jahr 2019 nicht mehr vorgelegen sind und dass dieser Umstand der Behörde auch bekannt war. Dadurch, dass im Verordnungsakt lediglich dieser Wegfall der tatsächlichen Grundlage dokumentiert ist und sich keine Hinweise dafür finden, dass die verordnungserlassende Behörde in der Folge noch weitere Ermittlungsschritte gesetzt hätte, die zu dem Schluss geführt hätten, dass die angefochtene Verordnung weiterhin erforderlich gewesen wäre, wurde die angefochtene Geschwindigkeitsbeschränkung gesetzwidrig (vgl VfGH 22.9.2021, V102/2021).

2.2.2.3. Das von der Steiermärkischen Landesregierung eingeholte Gutachten aus dem Fachbereich Verkehrstechnik und Verkehrsplanung vom 28. Juli 2022 vermag daran nichts zu ändern, weil dieses erst anlässlich des vorliegenden Verfahrens eingeholt wurde und überdies nicht Bestandteil des vorgelegten Verordnungsaktes ist (vgl idS die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur Erforderlichkeit der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens jedenfalls vor Erlassung einer Verordnung, zB VfGH 25.6.2021, V416/2020 ua mwN und VfGH 11.6.2015, V108/2014).

2.2.3. Vor diesem Hintergrund findet die angefochtene Verordnung keine Deckung im Gesetz.

2.3. Entscheidung über den Antrag zu V199/2022:

Da dieser Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark dem zu V177/2022 protokollierten Antrag im Wesentlichen gleicht, hat der Verfassungsgerichtshof gemäß §19 Abs3 Z4 VfGG davon abgesehen, ein weiteres Verfahren in dieser Rechtssache durchzuführen. Dies erfolgt im Hinblick darauf, dass die in dem Verfahren über den Antrag zu V199/2022 aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Entscheidung über den vorliegenden Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark bereits geklärt sind (vgl VfSlg 20.244/2018).

V. Ergebnis

1. Die Verordnung des Bürgermeisters der Stadt Graz vom 9. April 2010, ZA 10/1‑008032/2010‑0004, ist als gesetzwidrig aufzuheben.

2. Die Verpflichtung der Steiermärkischen Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B‑VG und §59 Abs2 VfGG iVm §2 Abs1 Z7 Stmk Kundmachungsgesetz.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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