OGH 9ObA191/01f

OGH9ObA191/01f5.9.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Spenling sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Scheuch und Dr. Anton Wladar als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Helene T*****, Verkäuferin, *****, vertreten durch Dr. Georg Grießer ua, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei R*****AG, *****, vertreten durch Weiss-Tessbach Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Anfechtung einer Entlassung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. April 2001, GZ 10 Ra 107/01f-28, womit über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 14. Dezember 2000, GZ 11 Cga 281/99v-23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 13.725,- bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin S 2.287,- Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die 1956 geborene unverheiratete Klägerin ist seit 1972 bei der Beklagten angestellt. Nachdem sie einige Jahre als Filialleiterstellvertreterin und als Filialleiterin eingesetzt war, war sie zuletzt als Verkäuferin tätig.

Am 17. 12. 1999 langte bei der Beklagten ein anonymes Schreiben ein, in dem die Klägerin beschuldigt wird, sich mit verheirateten Männern gegen Bezahlung einzulassen, gegen Bezahlung bei Pornofilmen mitzuwirken, der Spielsucht verfallen zu sein und das Geschäftstelefon für lange private Auslandsgespräche zu missbrauchen. Der/die Verfasser(in) des Schreibens führte ua aus, sich gerichtliche Schritte wegen Ehestörung und Erpressung gegen die Klägerin vorzubehalten. Als "Beweise" waren dem Schreiben Fotos und Indexprints von Fotos angeschlossen, die die Genitalien der Klägerin in Großaufnahme zeigten. Das Schreiben endete mit dem Hinweis, dass diese Fotos "wenn Sie es wünschen an alle weiteren Filialen" gesendet werden.

Die Echtheit der Fotos wird von der Klägerin nicht bestritten. Die Richtigkeit der im Schreiben erhobenen Vorwürfe wurde von der Beklagten weder behauptet noch bewiesen.

Wegen dieses Schreibens, dessen Inhalt bei seinem Öffnen und Weiterleiten an den Geschäftsführer von drei weiteren Mitarbeiterinnen der Beklagten gesehen wurde, wurde die Klägerin von der Beklagten am 18. 12. 1999 entlassen.

Der Vorsitzende des Betriebsrates erörterte mit der Klägerin und ihrem Vertreter die ihr offenstehenden rechtlichen Möglichkeiten. Der Vorsitzende des Betriebsrats, dem die Entlassung mitgeteilt wurde, erhob dagegen beim Arbeitgeber am 21. 12. 1999 Widerspruch. Die diesem Widerspruch vorangegangene Abstimmung der Betriebsratsmitglieder war telefonisch erfolgt. Der Vorsitzende des Betriebsrats teilte dem Klagevertreter mit, dass er keinen Beschluss zur Erhebung des Widerspruchs habe erwirken können, weil nicht alle Betriebsratsmitglieder in Wien gewesen seien; er habe sich gegenüber der Geschäftsleitung wegen des Fehlens eines dem Widerspruch zu Grunde liegenden Beschlusses rechtfertigen müssen. Der Klagevertreter erklärte dem Vorsitzenden des Betriebsrates, dass die Klägerin nun selbst die Entlassung anfechten werde.

Es ist nicht zu erwarten, dass die Klägerin, die über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt, in absehbarer Zeit einen Arbeitsplatz mit einer ihrem bisherigen Einkommen (S 24.538,- brutto monatlich) vergleichbaren Entlohnung finden wird. Es ist zu erwarten, dass sich potentielle Arbeitgeber von der Art der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses informieren und vom Abschluss eines Arbeitsvertrages Abstand nehmen werden. Selbst wenn die Entlassung außer Betracht bliebe, könnte die Klägerin bestenfalls mit einem Einkommen von S 18.000,- bis S 19.000,- monatlich rechnen. Ein ihrem bisherigen Gehalt vergleichbares Einkommen könnte sie - sollte sie als Filialleiterin eingesetzt werden - frühestens nach ein- bis eineinhalb Jahren erlangen.

Die Klägerin focht die Entlassung als unberechtigt und sozialwidrig an.

Das Erstgericht gab ihrem Klagebegehren statt.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Dass die Klägerin keinen Entlassungsgrund gesetzt habe, war schon in zweiter Instanz nicht mehr strittig. Das Berufungsgericht vertrat die Rechtsauffassung, dass die aktive Klagelegitimation der Klägerin zu bejahen sei, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wesentliche Interessen der Kägerin beeinträchtige und dass keiner der Ausnahmetatbestände des § 105 Abs 3 Z 2 lit a und b ArbVG verwirklicht sei.

Rechtliche Beurteilung

Diese Rechtsauffassung ist zutreffend, sodass es insofern ausreicht, auf die Richtigkeit der Begründung der angefochtenen Entscheidung zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Ergänzend ist den Revisionsausführungen entgegenzuhalten:

§ 106 ArbVG (Anfechtung von Entlassungen) normiert in seinem Abs 2 die sinngemäße Anwendung ua der Bestimmung des § 105 Abs 4 ArbVG. Nach dieser Bestimmung kann der Betriebsrat "auf Verlangen des gekündigten Arbeitnehmers binnen einer Woche nach Verständigung vom Ausspruch der Kündigung diese beim Gericht anfechten, wenn er der Kündigungsabsicht ausdrücklich widersprochen hat. Kommt der Betriebsrat dem Verlangen des Arbeitnehmers nicht nach, so kann dieser innerhalb einer Woche nach Ablauf der für den Betriebsrat geltenden Frist die Kündigung selbst beim Gericht anfechten. Hat der Betriebsrat innerhalb der Frist des Abs 1 keine Stellungnahme abgegeben, so kann der Arbeitnehmer innerhalb einer Woche nach Zugang der Kündigung diese beim Gericht selbst anfechten".

Zur Beurteilung des Klagerechts der Klägerin ist daher - wie das Berufungsgericht richtig erkannt hat - zunächst zu prüfen, ob die hier vom Vorsitzenden des Betriebsrates gegenüber dem Arbeitgeber abgegebene Erklärung als wirksamer Widerspruch gegen die Entlassung zu werten ist.

Der Oberste Gerichtshof hat wiederholt ausgesprochen, dass weder konkludentes Verhalten der übrigen Betriebsratsmitglieder noch eine telefonische Umfrage oder ein Umlaufverfahren eine kollegiale Willensbildung in Form einer ausdrücklichen Abstimmung nach einer ordnungsgemäßen Beratung ersetzen könne (9 ObA 208/90 = ARD 4209/2/90; zuletzt 9 ObA 12/01g). Die hier vorgenommene telefonische Umfrage stellt iS dieser Rechtsprechung somit keine Grundlage für einen wirksamen Widerspruch des Betriebsrates dar.

Dem daraus gezogenen Schluss des Berufungsgerichtes, dass die Klägerin daher mangels eines wirksamen Widerspruchs des Betriebsrates selbst zur Klageführung berechtigt war, kann aber entgegengehalten werden, dass nach der dazu ergangenen Rechtsprechung der Arbeitgeber die Stellungnahme des Betriebsratsvorsitzenden in der Regel als rechtswirksame Willenserklärung ansehen darf, zumal er weder verpflichtet noch berechtigt ist, Untersuchungen über die innere Willensbildung des Betriebsrates anzustellen. Anders ist dies nur dann, wenn der Arbeitgeber schon aus den Umständen erkennen muss, dass die Erklärung des Vorsitzenden durch keinen entsprechenden Beschluss des Betriebsrats gedeckt sein kann (Ris-Justiz RS0051490; RdW 1998, 692; zuletzt 9 ObA 12/01g). Ob der Arbeitgeber hier aus den Umständen (oder durch einen ausdrücklichen Hinweis des Vorsitzenden) das Fehlen eines Beschlusses des Betriebsrates und damit die Unwirksamkeit des Widerspruchs erkennen konnte, steht nicht fest. Fest steht lediglich, dass der Vorsitzende des Betriebsrates dem Klagevertreter erklärte, er habe sich wegen des Fehlens eines Beschlusses gegenüber dem Arbeitgeber rechtfertigen müssen. Ob diese Erklärung zutrifft und was konkret der Vorsitzende des Betriebsrates dem Arbeitgeber mitteilte, stellte das Erstgericht aber nicht fest.

In der Revisionsbeantwortung wird dazu der Standpunkt vertreten, dass - anders als bei der Stellungnahme zur beabsichtigten Kündigung - bei der Beurteilung der Stellungnahme des Betriebsrates zu einer bereits ausgesprochenen Entlassung ein schützenswertes Vertrauen auf das Zustandekommen der Erklärung zu verneinen sei. Darauf braucht aber nicht näher eingegangen zu werden, weil die Klägerin auch unter der Annahme der Wirksamkeit des Widerspruchs des Betriebsrats zur Klage berechtigt war.

Wie schon ausgeführt, ist im Falle eines Widerspruchs des Betriebsrats gegen die Kündigungsabsicht (hier: gegen die Entlassung) der Arbeitnehmer selbst nur zur Klage berechtigt, wenn der Betriebsrat dem Verlangen des Arbeitnehmers auf Anfechtung der Kündigung nicht nachkommt. Daraus hat der Oberste Gerichtshof erst vor kurzem im Zusammenhang mit einer Kündigungsanfechtung nach § 105 Abs 4 ArbVG ausgesprochen, dass auch das (subsidiäre) Anfechtungsrecht des Arbeitnehmers voraussetzt, dass der Arbeitnehmer den primär anfechtungsberechtigten Betriebsrat zunächst aufgefordert hat, die Anfechtung vorzunehmen (8 ObA 177/01i). An ein solches "Verlangen" des Arbeitnehmers sind allerdings nach der Rechtsprechung keine besonderen formellen Ansprüche zu stellen. So wurde es etwa als ausreichend erachtet, dass der Arbeitnehmer den Betriebsrat ersucht hatte, ihm die Anfechtung zu überlassen (SZ 69/30) bzw. dass der Arbeitnehmer mit seinem Vertreter und dem Betriebsrat die Frage der Anfechtung erörterte und letztlich ein Konsens über die Anfechtung der Beendigung durch den Arbeitnehmer selbst hergestellt wurde (8 ObA 216/00y). Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass auch auf die eben beschriebene Weise der Wille des Arbeitnehmers, die Beendigung anzufechten, deutlich zum Ausdruck kommt und durch die Einbindung des Betriebsrates auch sichergestellt ist, dass dieser auf seinem primären Anfechtungsrecht bestehen kann, wenn ihm dies angebracht erscheint. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist aber auch hier von einem hinreichenden "Verlangen" der Klägerin auszugehen, zumal auch sie sich wegen der Entlassung an den Betriebsrat gewendet und mit ihm ihre rechtlichen Möglichkeiten erörtert hat und zumal letztlich ihr Vertreter in einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Betriebsrats ohne dessen Widerspruch die Anfechtung durch die Klägerin angekündigt hat. Auch hier kann daher von einem Konsens zwischen Klägerin und Betriebsrat über die Anfechtung der Entlassung durch die Klägerin selbst ausgegangen werden.

Damit bleibt der Einwand der Beklagten, die Klägerin habe die Klage vor Ablauf der dem Betriebsrat offenstehenden Frist und damit verfrüht eingebracht. Zu dieser Frage hat der Oberste Gerichtshof erst vor kurzem in der schon erwähnten Entscheidung 8 ObA 216/00y Stellung genommen. Er vertrat dazu die Auffassung, dass das vorweg materiell-rechtlich der Belegschaft zustehende Anfechtungsrecht bei mangelnder Ausübung durch den Betriebsrat innerhalb einer Woche auf den Arbeitnehmer übergehe, ohne dass es darauf ankomme, aus welchen Gründen der Betriebsrat die Anfechtung unterlassen habe. Wesentlich sei, dass im Entscheidungszeitpunkt - also dem Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Streitverhandlung - der Anfechtungsanspruch des Arbeitnehmers gegeben sei. Das sei im zu beurteilenden Fall zu bejahen, weil der Betriebsrat von seinem Anfechtungsrecht nicht Gebrauch gemacht habe und damit - wenn auch nach Einbringung der Klage - das Anfechtungsrecht auf den Arbeitnehmer übergegangen sei. Hätte der Betriebsrat selbst sein Anfechtungsrecht wahrgenommen, wäre die "verfrüht" erhobene Klage des Arbeitnehmers allerdings abzuweisen gewesen (8 ObA 216/00y). Diese Überlegungen, denen sich der erkennende Senat anschließt, führen auch im hier zu entscheidenden Fall zur Bejahung der Klageberechtigung der Klägerin, die somit auch im Falle der Wirksamkeit des Widerspruchs des Betriebsrates gegeben ist.

Im Übrigen stellt die Revisionswerberin auch in dritter Instanz nicht mehr in Frage, dass die Klägerin keinen Entlassungsgrund gesetzt hat. Sie beharrt aber darauf, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Hinblick auf das Vorliegen der Ausnahmetatbestände des § 105 Abs 3 Z 2 lit a und b ArbVG trotz der Beeinträchtigung der Interessen der Klägerin gerechtfertigt sei. Dem ist jedoch nicht zu folgen. Wie das Berufungsgericht richtig hervorgehoben hat, ist die gar nicht bestrittene Mitwirkung der Klägerin an der Herstellung der in Rede stehenden Fotos ein rein privates Verhalten, das die betrieblichen Interessen der Beklagten selbst nach der Übersendung der Fotos nur am Rande berührt. Dass in einem Unternehmen von der Größe der Beklagten eine geringe Zahl von Mitarbeitern die Fotos sah, stellt überhaupt keine relevante Beeinträchtigung betrieblicher Interessen dar. Dass - wie im anonymen Schreiben angedeutet - auch Mitarbeiter anderer Filialen die Fotos zu Gesicht bekommen könnten, kann zwar nicht ausgeschlossen werden und mag ein gewisses Interesse der Beklagten an einer "Bereinigung" der Situation rechtfertigen; nicht einmal die Beklagte behauptet aber, dass jemals die Gefahr bestanden hat oder bestehen werde, dass Kunden der Beklagten mit den Fotos konfrontiert werden könnten. Soweit man daher überhaupt ein berechtigtes Interesse der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bejahen will, reicht dieses Interesse bei weitem nicht aus, bei der gebotenen Abwägung der beiderseitigen Interessen die nach den Feststellungen ganz erhebliche Beeinträchtigung der Interessen der Klägerin aufzuwiegen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.

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