OGH 7Ob42/20g

OGH7Ob42/20g21.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen M* P*, geboren am * 2014, vertreten durch die Mutter A* P*, beide *, diese vertreten durch Dr. Georg Retter, Rechtsanwalt in Krems an der Donau, wegen Kontaktrechts, Antragsteller Mag. M* S*, vertreten durch Kronberger Rechtsanwälte GmbH in Wien, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau als Rekursgericht vom 3. Jänner 2020, GZ 2 R 131/19f‑31, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Krems an der Donau vom 16. September 2019, GZ 19 Ps 61/18z‑26, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129920

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Der Antragsteller begehrte mit Antrag vom 18. 4. 2018 die Einräumung von Kontakten zur Minderjährigen. Er komme als biologischer Vater in Frage. Die Mutter habe nach Beendigung der Beziehung zum Antragsteller geheiratet und behauptet, der Ehemann sei der Vater des Kindes. Das Wissen um ihre Abstammung sei für die weitere Entwicklung der Minderjährigen relevant. Sie habe ein Recht auf diese Kenntnis. Da er bislang keinerlei Kontakt zum Kind gehabt habe, sei er bereit, die Erstkontakte in begleiteter Form zeitlich befristet durchzuführen. Unter einem beantragte er die Einholung eines DNA Gutachtens zum Nachweis der Vaterschaft.

Das Kind, vertreten durch die Mutter, sprach sich gegen den Antrag aus. Es stellte außer Streit, dass die Mutter mit dem Antragsteller bis Dezember 2013 eine intime Beziehung gehabt habe. Die Mutter sei mit dem rechtlichen Vater des Kindes verheiratet, der die Vaterschaft anerkannt habe. Der Antragsteller habe – trotz Kenntnis der Schwangerschaft der Mutter – zu keinem Zeitpunkt die biologische Vaterschaft des rechtlichen Vaters hinterfragt, geschweige denn Interesse daran gehabt, Kontakt mit der Mutter aufzunehmen, um die Frage der Vaterschaft zu klären. Der Antragsteller habe die Minderjährige noch nie persönlich gesehen oder kennengelernt. Schon mangels Interesses trotz Kenntnis der Schwangerschaft bestehe keine Antragslegitimation. Ferner seien im Hinblick auf die Prämisse der „Kindeswohldienlichkeit“ und Art 8 EMRK wegen der familiären Auswirkungen der Abstammungsklärung unnötige Eingriffe in das Familienleben hintanzuhalten.

Für das Kind wurde kein Kollisionskurator bestellt.

Das Erstgericht lehnte, ohne ein Gutachten über die Abstammung der Minderjährigen einzuholen, die Gewährung eines Kontaktrechts ab. Der Antragsteller könne aufgrund des zeitlichen Ablaufs nicht der biologische Vater sein. Zudem habe er weder ab den ersten Zweifeln über die biologische Vaterschaft im Jahr 2015 noch ab 2017 ein nachweisliches Interesse an einem Kontakt gezeigt. Der Antragsteller sei für sie ein Fremder. Die Minderjährige wohne in einer intakten Familie. Es sei daher zu bezweifeln, dass ein Kontaktrecht zum Antragsteller eine bedeutsame emotionale Beziehung für die Minderjährige bedeute. Es sei nicht vertretbar, den Antragsteller als Fremden ohne Grund in eine Familie zu integrieren, und dabei das Vertrauensverhältnis zum rechtlichen Vater und zur Familie zu gefährden.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Antragstellers Folge, hob die angefochtene Entscheidung sowie das vorangegangene Verfahren bis zum Zeitpunkt der Antragstellung wegen Nichtigkeit auf und verwies die Sache zur neuerlichen Entscheidung nach weiterer Verfahrensdurchführung an das Erstgericht zurück. Im Abstammungsverfahren sei für das Kind ein Kurator zu bestellen, weil die Mutter dieses wegen der bestehenden Interessenskollision nicht selbst vertreten könne. Werde im Abstammungsverfahren das Kind bei der ein Vaterschaftsanerkenntnis nach § 147 Abs 4 ABGB betreffenden Zustimmung nicht beigezogen, begründe dies Nichtigkeit. Dasselbe müsse auch für den Fall eines inzidenten Vaterschaftsfeststellungsverfahrens im Kontaktrechtsverfahren gelten. Da die Nichtbeiziehung des Kindes bis zur Antragstellung zurückwirke, sei das gesamte Verfahren bis zum Zeitpunkt der Antragstellung zurück als nichtig aufzuheben.

Im Übrigen dürfe das Gericht nicht rein nach Praktikabilitätsabwägungen entscheiden, ob es zuerst das Kindeswohl prüfe oder die Vaterschaft inzident feststelle, sondern müsse jene Vorgangsweise wählen, die zur geringsten Belastung des Kindes führe. Aufgrund des Alters der Minderjährigen sei hier vor einer weiteren Prüfung der Kindeswohldienlichkeit ein Abstammungsgutachten einzuholen. Bei dem im bisherigen Verfahren hervorgekommenen zeitlich äußerst knappen Zusammentreffen der vermutlichen Empfängnis mit dem letzten Verkehr mit dem Antragsteller biete sich keine andere Möglichkeit als die Einholung eines DNA Gutachtens zur Klärung der Frage der biologischen Vaterschaft an. Auf die weiteren Rekursgründe sei wegen des Vorliegens eines Nichtigkeitsgrundes und der damit einhergehenden Aufhebung des bisherigen Verfahrens nicht einzugehen.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Minderjährigen, mit dem Ziel der Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses.

Der Antragsteller erachtet in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung den Revisionsrekurs wegen vorliegender Judikatur für unzulässig, hilfsweise für unberechtigt und beantragt, ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist auch im Sinn des in einem Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrag berechtigt.

1. Nach § 277 Abs 2 ABGB idF BGBl I 2017/59, der gemäß § 1503 Abs 9 Z 1 ABGB mit 1. 7. 2018 in Kraft getreten und nach § 1503 Abs 9 Z 4 ABGB auch auf Fälle anzuwenden ist, die – wie hier – über den 30. 6. 2018 hinauswirken, ist ein Kurator (auch von Amts wegen – vgl RS0049039) ua dann zu bestellen, wenn die Interessen einer minderjährigen Person dadurch gefährdet sind, dass in einer bestimmten Angelegenheit ihre Interessen jenen ihres gesetzlichen Vertreters widerstreiten (Kollision). Die Bestimmung übernimmt die Regelungen der §§ 271 und 272 ABGB in geänderter Formulierung, aber ohne wesentliche inhaltliche Änderungen (vgl ErlRV 1461 BlgNR 25. GP  48; Weitzenböck in Schwimann/Kodek ABGB5 § 277 Rz 14).

2. Kollision im formellen Sinn liegt vor, wenn der aufgrund des Gesetzes oder behördlicher Verfügung Vertretungsbefugte in bestimmten Angelegenheiten nicht nur zu vertreten, sondern auch im eigenen oder im Namen Dritter zu handeln hätte. Kollision im materiellen Sinn ist gegeben, wenn bei Kollision im formellen Sinn zusätzlich noch ein Interessenwiderspruch besteht. Dabei genügt schon die Gefahr einer Interessenkollision (vgl RS0107600).

3. Für die Annahme einer Interessenkollision genügt bereits ein objektiver Tatbestand (8 Ob 99/12k; RS0107600).Die Regelung ist somit als Gefährdungsausschluss nach den objektiven Gegebenheiten unabhängig von den subjektiven Eigenschaften des Vertreters zu verstehen (Stabentheiner in Rummel/Lukas, ABGB4 §§ 271, 272 ABGB Rz 5). Maßgeblich für die Bestellung eines Kollisionskurators ist, dass aufgrund des objektiven Sachverhalts eine gesetzmäßige Vertretung des Kindes wegen eines zu befürchtenden Widerstreits an Interessen nicht zu erwarten ist (7 Ob 219/11y mwN). Es ist ex-ante zu beurteilen, ob genügend und welche Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Kollisionskurators vorliegen (vgl RS0058177 [T9]). Dabei wirdauf die mögliche Interessenkollision abgestellt (4 Ob 72/18v).

4. So wurde die Notwendigkeit der Bestellung eines Kollisionskuratorsetwa in folgenden Fällen bejaht: im Ehelichkeitsbestreitungsprozess (RS0048115; RS0048187), im Verfahren wegen Rechtsunwirksamerklärung des Vaterschaftsanerkenntnisses (6 Ob 511/90 = RS0048187 [T3]), jenem auf Rückzahlung zu Unrecht gewährter Unterhaltsvorschüsse (1 Ob 546/93) und im Vaterschaftsfeststellungsverfahren (RS0132348).

5. Hier ist auch die Frage der Abstammung eine zu klärende Vorfrage für das vom Antragsteller begehrte Kontaktrecht zur Minderjährigen (vgl 3 Ob 130/17i).

§ 277 Abs 2 ABGB unterscheidet nicht danach, ob sich die möglichen widerstreitenden Interessen zwischen einer minderjährigen Person und ihrem gesetzlichen Vertreter auf Haupt- oder Vorfragen eines gerichtlichen Verfahrens beziehen. Dieser Umstand ändert daher nichts an der Vergleichbarkeit des auch hier möglichen Interessenskonflikts zwischen der Minderjährigen und der sie im bisherigen Verfahren vertretenden Mutter mit den oben aufgezeigten Beispielen aus der Rechtsprechung. Auch hier ist daher die Frage der Bestellung eines Kollisionskurators nach den gleichen Kriterien zu beurteilen.

6. Ausgehend von der gebotenen abstrahierenden ex-ante‑Beurteilung sind vorliegend Interessenwidersprüche denkbar, besteht doch die naheliegende Möglichkeit, dass das Interesse der Mutter am Schutz des bisherigen intakten Familienlebens und der übrigen Familienmitglieder mit jenem des Kindes, seine wahre Abstammung zu kennen, in Konflikt gerät. Es läge dann an der Mutter, dem Gericht darzulegen, dass im konkreten Fall eine Interessenkollision auszuschließen ist. Gelingt ihr das nicht, ist ein Kollisionskurator zu bestellen. Diese Klärung wird das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren vorzunehmen und dabei der Mutter Gelegenheit zu geben haben, dem Gericht besondere Umstände darzulegen, aufgrund derer im konkreten Fall eine Interessenkollision auszuschließen ist. Gelingt ihr das nicht, ist ein Kollisionskurator zu bestellen (vgl 4 Ob 72/18v).

7. Da das Erstgericht die Frage der Kuratorbestellung nicht geprüft hat, hatte die Mutter bislang keine Gelegenheit zu einer entsprechenden Stellungnahme, was im fortgesetzten Verfahren nachzuholen sein wird. Deshalb ist die Entscheidung des Rekursgerichts aufzuheben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens zur Prüfung, ob eine Interessenkollision im Sinn der dargelegten Judikatur vorliegt, aufzutragen.

8. In der Sache hat dann die weitere Prüfung nach den Kriterien der Entscheidung 3 Ob 130/17i zu erfolgen.

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