Spruch:
Das Verfahren wird von Amts wegen fortgesetzt.
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, sodass das Urteil zu lauten hat:
Es wird festgestellt, dass die Bestimmung des Art 6.7.3. ARB 2000 nicht Bestandteil des Rechtsschutzversicherungsvertrags Polizze Nr *****, zwischen den Parteien abgeschlossen am 24. Juli 2001, ist.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 9.385,44 EUR (darin enthalten 1.112,74 EUR an USt und 2.709 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Zwischen den Parteien besteht ein Rechtsschutzversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung (in der Folge ARB 2000) zu Grunde liegen. Diese lauten, soweit hier von Bedeutung:
„Artikel 6. ...
...
7. Die Leistungspflicht des Versicherers ist begrenzt wie folgt:
...
7.3. Genießen mehrere Versicherungsnehmer zur Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen Versicherungsschutz aus einem oder mehreren Versicherungsverträgen und sind ihre Interessen aufgrund der gleichen oder einer gleichartigen Ursache gegen den/dieselben Gegner gerichtet, ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung vorerst auf die außergerichtliche Wahrnehmung der rechtlichen Interessen der Versicherungsnehmer und die Führung notwendiger Musterprozesse durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter zu beschränken.
Wenn oder sobald die Versicherungsnehmer durch die Maßnahmen nicht ausreichend gegen einen Verlust ihrer Ansprüche, insbesondere durch drohende Verjährung, geschützt sind, übernimmt der Versicherer darüber hinaus die Kosten für Gemeinschaftsklagen oder sonstige gemeinschaftliche Formen außergerichtlicher und gerichtlicher Interessenwahrnehmungen durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter.
Sofern der Versicherungsschutz die Vertretung in allgemeinen Verwaltungsverfahren bzw vor dem Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtshof umfasst, können diese Bestimmungen sinngemäß angewandt werden.
...
Artikel 10. ...
1. Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, zu seiner Vertretung vor Gerichten oder Verwaltungsbehörden eine zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Person (Rechtsanwalt, Notar etc) frei zu wählen.
...
4. Der Versicherer ist berechtigt, einen Rechtsvertreter auszuwählen:
...
4.4. in Fällen des Art 6.7.3. ..."
Unstrittig ist, dass die Klägerin bei den insolvent gewordenen Wertpapierdienstleistungsunternehmen A***** AG/A***** AG (in der Folge: A*****) Geld veranlagt hat und durch die Insolvenz der Unternehmen geschädigt worden ist.
Die Klägerin modifizierte zuletzt ihr Hauptbegehren wie im Spruch ersichtlich. Ihr erstes Eventualbegehren ist auf Zahlung bereits aufgelaufener Rechtsanwaltskosten gerichtet, das zweite Eventualbegehren auf die Feststellung, dass die Beklagte schuldig sei, die weiteren für die rechtsfreundliche Vertretung der Klägerin anfallenden Kosten gemäß dem Rechtsschutzversicherungsvertrag mit Ausnahme der Anwendung des Art 6.7.3. ARB 2000 zu gewähren. Die Klägerin bedürfe der rechtsanwaltlichen Vertretung in den Konkursverfahren, in den Strafverfahren gegen die Verantwortlichen von A***** durch Privatbeteiligtenanschluss, für die Geltendmachung von Forderungen wegen Anlegerentschädigung sowie der außergerichtlichen Vertretung im Rahmen der Liquidation der Anlegerfonds und gegenüber der außerhalb Österreichs liegenden depotführenden Bank. Die Beklagte habe die Deckung unter anderem auch unter Hinweis auf die Massenschadenklausel nach Art 6.7.3. ARB 2000 verweigert. Diese Bestimmung verstoße aber gegen § 158k VersVG und gegen Art 4 der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie und bedeute eine unzulässige Einschränkung des Rechts des Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl. Die Klägerin habe ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit der Massenschadenklausel.
Die Beklagte beantragt die Klagsabweisung. Die Beklagte sei unter anderem deshalb leistungsfrei, weil der Versicherungsfall vorvertraglich (innerhalb der vereinbarten Wartefrist) eingetreten sei und die Klägerin überdies mehrfach gegen konkret dargelegte Obliegenheiten verstoßen habe. Weiters bestehe keine Deckungspflicht, weil das Wahlrecht des Versicherungsnehmers bei Massenklagen zu Recht eingeschränkt sei. Massenklagen und Musterprozesse seien nicht Regelungsgegenstand des § 158k VersVG.
Das Erstgericht wies sowohl das Hauptbegehren als auch die Eventualbegehren ab. Für das Hauptbegehren fehle es der Klägerin schon am Rechtsschutzinteresse, weil die Beklagte derzeit die Versicherungsdeckung nicht wegen Art 6.7.3. ARB 2000, sondern wegen Obliegenheitsverletzungen sowie mit dem Einwand des vorvertraglichen Schadensfalls verweigere. Ergänzend sei auszuführen, dass die organisierte gemeinschaftliche Wahrnehmung rechtlicher Interessen zu Gunsten einer Gruppe von Versicherten nicht Gegenstand von Regelungen im VersVG sei. Die Massenschadenklausel des Art 6.7.3. ARB 2000 stehe daher nicht im Widerspruch zu § 158k VersVG.
Das Berufungsgericht bestätigte das angefochtene Urteil. Die Klägerin habe zwar ein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung, dass die Massenschadenklausel des Art 6.7.3. ARB 2000 nicht gelte, denn die Beklagte habe eine Kostenübernahme unabhängig vom Ergebnis der Deckungsprüfung auch unter Hinweis auf die Massenschadenklausel verweigert. Die Klausel verstoße aber weder gegen § 158k Abs 1 VersVG noch gegen die Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie. Art 6.7.3. ARB 2000 ergänze vielmehr diese Vorschriften zulässigerweise für die Behandlung von Kumulschäden. Eine unterschiedliche Handhabung des freien Anwaltswahlrechts bei Individualschäden und Massenschäden erscheine sachgerecht und nicht nur im Interesse des Versicherers geboten. Sie ermögliche eine ökonomische Vertretung und gewährleiste damit am ehesten, dass Kumulfälle von der Deckung der Rechtsschutzversicherer nicht überhaupt ausgenommen würden.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 20.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei. Zu der Frage, ob bei Massenschäden die in Art 6.7.3. ARB 2000 vorgesehene Einschränkung des Rechts des Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl zulässig sei, fehle oberstgerichtliche Rechtsprechung.
Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.
Für die Beurteilung des Hauptbegehrens ist die Frage wesentlich, ob Art 6.7.3. ARB 2000 in unzulässiger Weise das in Art 4 der Richtlinie 87/344/EWG (Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie) postulierte und durch § 158k VersVG umgesetzte Recht des Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl einschränkt.
Der Oberste Gerichtshof hat sich im gleichgelagerten Fall 7 Ob 26/08m veranlasst gesehen, dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Artikel 234 EG folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
„Ist Art 4 Abs 1 der Richtlinie 87/344/EWG dahin auszulegen, dass ihm eine in Allgemeinen Versicherungsbedingungen eines Rechtsschutzversicherers enthaltene Klausel, die dem Versicherer in Versicherungsfällen, in denen eine größere Anzahl von Versicherungsnehmern durch dasselbe Ereignis (etwa die Insolvenz eines Wertpapierdienstleistungsunternehmens) geschädigt wird, zur Auswahl eines Rechtsvertreters berechtigt und damit das Recht des einzelnen Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl beschränkt (sogenannte „Massenschadenklausel"), widerspricht?" Der EuGH hat diese Frage mit Urteil vom 10. September 2009, Rs C-199/08 , wie folgt beantwortet: „Art 4 Abs 1 Buchst a der Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22. 6. 1987 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung ist dahin auszulegen, dass der Rechtsschutzversicherer sich in dem Fall, dass eine größere Anzahl von Versicherungsnehmern durch dasselbe Ereignis geschädigt ist, nicht das Recht vorbehalten kann, selbst den Rechtsvertreter aller betroffenen Versicherungsnehmer auszuwählen."
Damit steht für den Obersten Gerichtshof bindend fest, dass Art 6.7.3. ARB 1995 das in Art 4 der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie postulierte und durch § 158k VersVG in Österreich umgesetzte Recht des Rechtsschutzversicherten auf freie Anwaltswahl unzulässig einschränkt und daher unbeachtlich ist. Auf die umfangreichen Ausführungen zu dieser Rechtsfrage ist daher nicht mehr einzugehen. Daraus folgt, dass die Bestimmung im Versicherungsvertrag zwischen den Parteien rechtsunwirksam ist.
Das rechtliche Interesse der Klägerin an der Feststellung der Unwirksamkeit der Klausel ist zu bejahen. Abstrakte Rechtsfragen, denen kein gegenwärtig in der Wirklichkeit existierender Sachverhalt zugrunde liegt oder solche, die sich in der Feststellung einer dem Gesetzeswortlaut entsprechenden Rechtslage erschöpfen, sind nicht urteilsmäßig feststellungsfähig (Fasching in Fasching/Konecny² III § 228 ZPO Rz 62). Nur die konkrete Möglichkeit des Eintritts von Leistungsverpflichtungen (hier aus dem Versicherungsvertrag) stellt eine ausreichende Interessengrundlage für ein Feststellungsbegehren dar, während die bloße theoretische Möglichkeit der Entstehung von Ansprüchen zur Begründung des Feststellungsinteresses nach § 228 ZPO nicht ausreicht (vgl 7 Ob 4/05x mwN; RIS-Justiz RS0038949). Bei der begehrten Feststellung der Unwirksamkeit des Art 6.7.3. ARB 1995 geht es nicht um eine abstrakte rechtliche Qualifikation, sondern um die Beurteilung der Wirksamkeit einer dem bestehenden Versicherungsverhältnis zugrundeliegenden Klausel, die als Grundlage für die Ablehnung der Deckungspflicht bereits einmal herangezogen wurde. Es schadet nicht, dass die Beklagte sich dabei auch noch auf andere Gründe stützte. Die Klausel kann in jedem einschlägigen Versicherungsfall einen Streitpunkt darstellen. Die begehrte Feststellung ist daher konkret geeignet, eine streitverhindernde Rechtswirkung zwischen den Parteien des vorliegenden Rechtsstreits zu entfalten (vgl RIS-Justiz RS0039080). Auch im ähnlich gelagerten Fall 7 Ob 68/09i hat der Oberste Gerichtshof das rechtliche Interesse an dieser Feststellung bejaht.
Die Klausel ist insgesamt für rechtsunwirksam zu erklären. Eine Differenzierung der Unwirksamkeit der Klausel zwischen außergerichtlicher Vertretung und Vertretung vor Gerichten und Verwaltungsbehörden ist nicht angezeigt, weil die gesamte Bestimmung primär auf die Vertretung vor Gerichten und Verwaltungsbehörden abzielt. Durch Art 10 ARB 2000 ist deutlich klargestellt, dass die freie Anwaltswahl nicht für die außergerichtliche Vertretung gilt.
Da dem Hauptbegehren stattzugeben ist, ist auf die Eventualbegehren und die Einwände dazu nicht weiter einzugehen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO. Zum Kostenverzeichnis der Klägerin ist anzuführen, dass eine Erklärung vom 7. 11. 2006 nicht aktenkundig ist. Abgesehen von der Frage, ob ein Rechtsgutachten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung überhaupt notwendig war, sind die Kosten für das Gutachten jedenfalls deshalb nicht zuzusprechen, weil sie nicht bescheinigt sind.
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