European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:E116187
Spruch:
Beiden Revisionsrekursen wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden, soweit diese die Dauermedikation Truxal von 17. 8. 2015 bis 26. 8. 2015 betreffen, aufgehoben, das diesen vorangegangene Verfahren wird für nichtig erklärt und der Überprüfungsantrag der Bewohnervertreterin wird, soweit er diesen Zeitraum betrifft, zurückgewiesen.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden, soweit diese die Dauermedikation Truxal von 27. 8. 2015 bis 30. 9. 2015 und Zyprexa von 16. 9. 2015 bis 10. 3. 2016 betreffen, aufgehoben. In diesem Umfang wird dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Betreffend die Bedarfsmedikation Stesolid wird der Beschluss des Rekursgerichts dahin abgeändert, dass die den Überprüfungsantrag abweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Begründung:
Die Bewohnerin lebt im „K*“, einer Einrichtung des Landes S* für Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen. Sie leidet an einer schwersten Intelligenzminderung einhergehend mit einer behandlungsbedürftigen Verhaltensstörung gemäß ICD 10 F73.1 und sie ist blind. Im Rahmen der Verhaltensstörung kommt es insbesondere zu autoaggressivem Verhalten, das je nach äußeren Situationen auch mit einer Fremdgefährlichkeit einhergehen kann.
Die Bewohnerin ist aufgrund ihrer geistigen Beeinträchtigung nicht in der Lage, ihre eigene psychosoziale Situation realitätskonform wahrzunehmen und danach zu handeln. Sie ist auch nicht in der Lage, in eine allfällige Medikamentation einzuwilligen oder diese abzulehnen. Bedingt durch die autoaggressive Verhaltensstörung kommt es im Rahmen von „Unsinnshandlungen“ – wie etwa dem Schlagen des Kopfes gegen die Wand – zu einer erheblichen Selbstgefährdung. Zur Hintanhaltung dieser autoaggressiven Verhaltensstörungen benötigt die Bewohnerin aus nervenfachärztlicher Sicht eine Basismedikation, die derzeit mit Zyprexa 5 mg, 2 x 1 Tablette täglich, erfolgt. Zyprexa wirkt beruhigend, hat einen leicht sedierenden Effekt und ist auch angstlösend. Stesolid, ein Antiepileptikum, ist als Bedarfsmedikation für zerebrale Anfälle verordnet, wobei es „in letzter Zeit“ zu keiner Verabreichung mehr gekommen ist. Die Dauermedikation Truxal, ein Medikament mit sedierender Wirkung, wurde der Bewohnerin bis 30. 9. 2015 verabreicht. Die derzeitige Medikation ist aus nervenfachärztlicher Sicht notwendig, um die mit der behandlungsbedürftigen Verhaltensstörung einhergehende Selbst- und Fremdgefährdung bzw Aggressionstendenzen hintanzuhalten. So war auch die Indikation der in der Vergangenheit verabreichten Dauermedikation in Form von Truxal zu sehen. Durch die Umstellung auf Zyprexa ist es zu einer Besserung der Verhaltensauffälligkeiten gekommen.
Der derzeitige Tagesablauf in der Betreuung der Bewohnerin ist aus heilpädagogischer Sicht nicht dazu geeignet, deren Zustand zu verbessern. Der Tagesablauf enthält lange bzw anhaltende Wartezeiten. Es kommt bei der Bewohnerin zu Langeweile, auch zu Hospitalisierungstendenzen, die Verhaltensauffälligkeiten mit selbst- und fremdgefährdenden Tendenzen auslösen bzw stellen diese eine Form der Stimulation dar. Der Handlungsspielraum der Bewohnerin ist zu gering. Aus heilpädagogischer Sicht ist die Erweiterung des Handlungsspielraums – wie etwa durch tägliche Spaziergänge, Erweiterung der basalen Maßnahmen (basale Stimulation, teilweise basale Kommunikation, Snoezelen, Klangwiege, Therapiehund) – dringend notwendig. Eine 1 : 1 Intensivbetreuung wäre für die Bewohnerin sehr hilfreich. Mit einer Erweiterung des Handlungsspielraums wäre eine längerfristige Verbesserung der Verhaltensauffälligkeiten möglich; die Bewohnerin würde deutlich ruhiger werden und damit würde auch die Selbst- und Fremdgefährdung abnehmen.
Das Erstgericht hat bereits aufgrund eines früheren Antrags der Bewohnervertreterin mit rechtskräftigem Beschluss vom 26. 8. 2016, GZ 4 Ha 3/15a-6, (ua) ausgesprochen, dass die Dauermedikation Truxal 15 mg und Truxal 50 mg eine unzulässige Freiheitsbeschränkung darstelle.
Die Bewohnervertreterin begehrte mit Antrag vom 19. 2. 2016, (ua) die Verabreichung von Truxal von 17. 8. 2015 bis 30. 9. 2015 und Zyprexa von 16. 9. 2015 bis 10. 3. 2016 sowie von Stesolid 10 mg bei Bedarf als unzulässige Freiheitsbeschränkungen zu erkennen.
Das Erstgericht sprach – soweit für das Revisionsrekursverfahren noch wesentlich – aus, dass die Dauermedikation Truxal von 17. 8. 2015 bis 30. 9. 2015 (Punkt 1.) und Zyprexa von 16. 9. 2015 bis 10. 3. 2016 (Punkt 2.) unzulässige Freiheitsbeschränkungen waren. Den Antrag, die Bedarfsmedikation Stesolid 10 mg als unzulässige Freiheitsbeschränkung festzustellen, wies das Erstgericht ab (Punkt 6.). Es führte dazu rechtlich aus, dass die Dauermedikationen Truxal und Zyprexa in den genannten Zeiträumen wegen der im heilpädagogischen Bereich nicht ausgeschöpften, schonenderen Maßnahmen im Sinn des § 4 Z 3 HeimAufG unzulässig gewesen seien. Da das Bedarfsmedikament Stesolid nicht verabreicht worden sei, sei der darauf abzielende Überprüfungsantrag abzuweisen gewesen.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Einrichtungsleiterin zur Gänze, jenem der Bewohnervertreterin teilweise Folge und änderte den Beschluss des Erstgerichts – soweit für das Revisionsrekursverfahren noch wesentlich – dahin ab, dass es die Überprüfungsanträge betreffend die Dauermedikation Truxal von 17. 8. 2015 bis 30. 9. 2015 sowie Zyprexa von 16. 9. 2015 bis 10. 3. 2016 abwies und die Bedarfsmedikation Stesolid 10 mg als unzulässige Freiheitsbeschränkung qualifizierte. Es vertrat die Rechtsansicht, dass die Medikamente Zyprexa und Truxal deshalb verabreicht worden seien, um die mit der behandlungsbedürftigen Verhaltensstörung einhergehende Selbst- und Fremdgefährdung bzw die Aggressionstendenzen hintanzuhalten. Da mit diesen Medikamenten keine Ruhigstellung der Bewohnerin intendiert gewesen sei, habe trotz deren dämpfender Nebenwirkungen keine Freiheitsbeschränkung vorgelegen. Demgegenüber sei es notorisch, dass Stesolid, auch unter den Namen Diazepam und Psychopax bekannt, auf eine sedierende Wirkung abziele und daher als freiheitsbeschränkende Maßnahme anzusehen sei. Diese sei schon wegen unterbliebener Verständigung der Bewohnervertreterin infolge fehlender formeller Zulässigkeitsvoraussetzungen unzulässig gewesen.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels Vorliegens einer im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG qualifizierten Rechtsfrage nicht zulässig sei.
Gegen die Abweisung der Überprüfungsanträge betreffend die Dauermedikation Truxal sowie Zyprexa innerhalb der dazu bereits genannten Zeiträume richtet sich der Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses.
Gegen die Feststellung der Bedarfsmedikation Stesolid 10 mg als unzulässige Freiheitsbeschränkung richtet sich der Revisionsrekurs der Einrichtungsleiterin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Abweisung des Überprüfungsantrags. Hilfsweise stellt die Einrichtungsleiterin auch einen Aufhebungsantrag.
Die Bewohnervertreterin und die Einrichtungsleiterin erstatteten eine freigestellte Revisionsrekursbeantwortung jeweils mit dem Antrag, dem Revisionsrekurs der Gegenseite nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Beide Revisionsrekurse sind zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig; sie sind auch berechtigt.
I. Zum Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin:
A. Dauermedikation Truxal:
1.1. Auch ein im Außerstreitverfahren ergangener Beschluss ist grundsätzlich der Rechtskraft fähig (vgl RIS‑Justiz RS0107666 [insb T3]; Deixler-Hübner in Gitschthaler/Höllwerth, § 43 AußStrG Rz 2).
1.2. Das Erstgericht hat mit einem solchen rechtskräftigen Beschluss vom 26. 8. 2016, GZ 4 Ha 3/15a‑6, (ua) ausgesprochen, dass die Dauermedikation Truxal 15 mg und Truxal 50 mg eine unzulässige Freiheitsbeschränkung darstellt.
1.3. Indem die Vorinstanzen über den Überprüfungsantrag der Bewohnervertreterin betreffend die Dauermedikation Truxal auch hinsichtlich des Zeitraums 17. 8. 2015 bis 26. 8. 2016 entschieden haben, haben sie in die Rechtskraft des Vorbeschlusses eingegriffen. Dieser Umstand ist von Amts wegen wahrzunehmen (§ 55 Abs 3 iVm § 71 Abs 4 AußStrG; Schramm in Gitschthaler/Höllwerth, § 66 AußStrG Rz 7); er konnte überdies auch von der Bewohnervertreterin aufgegriffen werden, weil die Bewohnerin insoweit – entgegen dem von der Einrichtungsleiterin in ihrer Revisionsrekursbeantwortung erhobenen Einwand – formell und materiell beschwert ist, weicht doch die Erledigung dieses Antragsteils durch das Rekursgericht vom Überprüfungsantrag für die Bewohnerin auch inhaltlich nachteilig vom Ergebnis der Vorentscheidung ab.
1.4. Wurde der angefochtene Beschluss über eine Sache gefällt, die bereits rechtskräftig entschieden ist, so ist der Beschluss aufzuheben und das vorangegangene Verfahren für nichtig zu erklären sowie der vorangegangene Antrag, hier der betroffene Antragsteil (Überprüfungsantrag betreffend die Dauermedikation Truxal von 17. 8. 2015 bis 26. 8. 2015), zurückzuweisen (§ 56 Abs 1 AußStrG iVm § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG).
2.1. Nach § 3 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird. Eine Freiheitsbeschränkung ist daher nur dann gegeben, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RIS-Justiz RS0075871, RS0121662).
2.2. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RIS-Justiz RS0121227). Die abschließende Beurteilung, ob eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente (insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination) dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RIS-Justiz RS0123875).
2.3. Ob die Dauermedikation Truxal von 27. 8. 2015 bis 30. 9. 2015 nach den zuvor dargestellten Grundsätzen eine medikamentöse Freiheitsbeschränkung darstellte, lässt sich anhand der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen. Durch die Medikation sollte die Bewohnerin von näher bezeichneten „Unsinnshandlungen“ (näher beschriebene, zur Selbst- und offenbar auch zur Fremdgefährdung führende Verhaltensweisen) abgehalten und insoweit deren Beruhigung erreicht werden. Bei dieser Sachlage lässt sich – entgegen der Ansicht des Rekursgerichts – noch nicht als erwiesen und festgestellt annehmen, dass mit besagter Behandlung keine Ruhigstellung der Bewohnerin intendiert gewesen sei. Zur abschließenden Beurteilung, ob die Dauermedikation Truxal von 27. 8. 2015 bis 30. 9. 2015 eine medikamentöse Freiheitsbeschränkung darstellte, wird daher das Erstgericht nach Gutachtensergänzung bei seiner neuerlichen Entscheidung betreffend die Dauermedikation Truxal von 27. 8. 2015 bis 30. 9. 2015 aussagekräftige Feststellungen zu den in 2.2. genannten Beurteilungskriterien zu treffen haben.
B. Dauermedikation Zyprexa:
Auch betreffend die Dauermedikation Zyprexa von 16. 9. 2015 bis 10. 3. 2016 gelten die Ausführungen zu I.A.2.1. bis 2.3. entsprechend. Bei seiner neuerlichen Entscheidung wird das Erstgericht klare Feststellungen zu treffen haben, die eine Beurteilung des Vorliegens einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung nach den zu I.A.2.2. genannten Grundsätzen ermöglichen.
II. Zum Revisionsrekurs der Einrichtungsleiterin:
1. Nach § 3 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung mit den in dieser Bestimmung beschriebenen Maßnahmen oder aber durch deren Androhung unterbunden wird.
2. Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des Heimaufenthaltsgesetzes kann nur an jemandem vorgenommen werden, der grundsätzlich (noch) über die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen (Fort‑)Bewegung (mit Ortsveränderung) verfügt (7 Ob 144/06m [ua zu spastischen Bewegungen]; 7 Ob 19/07f; 7 Ob 33/14z).
3. Stesolid ist ein Antiepileptikum und bei Bedarf angeordnet, also im Fall eines epileptischen Anfalls der Bewohnerin. Das Medikament kam allerdings in dem vom Erstgericht beobachteten Zeitraum nie zum Einsatz.
4. Daraus folgt:
Eine – wie hier Stesolid – nur im Pflegeblatt vorgesehene, nach außen nicht vermittelte (bloße) Bedarfsmedikation für zerebrale Anfälle ist keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 HeimAufG, weil allein dadurch das Unterbinden einer Ortsveränderung nicht angedroht, sondern der Einsatz des Medikaments nur und gerade für eine Situation angeordnet wird, in der der Bewohner zu keiner – willkürlichen – körperlichen (Fort‑)Bewegung in der Lage ist. In Stattgebung des Revisionsrekurses der Einrichtungsleiterin ist daher betreffend die Bedarfsmedikation Stesolid die den Überprüfungsantrag abweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
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