OGH 6Ob98/10w

OGH6Ob98/10w24.6.2010

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen M*****, geboren am 6. Juni 2004, und M*****, geboren am 22. Juli 2007, K*****, Libanon, über den Revisionsrekurs des Vaters M***** K*****, vertreten durch Dr. Walter Mardetschläger und andere Rechtsanwälte in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 11. März 2010, GZ 43 R 139/10z-22, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 13. Jänner 2010, GZ 2 PS/PU 230/09s-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem - den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) - Ausspruch des Rekursgerichts ist der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig:

Das Rekursgericht hat seinen Zulässigkeitsausspruch damit begründet, es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage der internationalen Zuständigkeit (österreichischer Gerichte) im Zusammenhang mit im Libanon bereits anhängigen Verfahren wegen (Zuweisung von) Obsorge und Kindesunterhalts.

1. Die vom Rekursgericht als erheblich angesehene Rechtsfrage stellt sich nicht, weil die Minderjährigen österreichische Staatsangehörige sind und daher nach § 110 Abs 1 Z 1 JN jedenfalls internationale Zuständigkeit österreichischer Gerichte (auch) dann gegeben ist, wenn die Minderjährigen - wie hier im Libanon - in einem Nichtmitgliedstaat der Europäischen Union leben und abändernde Abkommen nicht bestehen (Simotta in Fasching, ZPO² [2000] § 110 JN Rz 2 mwN; vgl auch Mayr in Rechberger, ZPO³ [2006] § 110 JN Rz 2). Selbst bei einer Entscheidung iSd § 110 Abs 2 JN, wie sie im vorliegenden Verfahren der in Österreich lebende Vater anstrebt, würde jedoch die internationale Zuständigkeit nicht erlöschen (Simotta aaO Rz 3; Mayr aaO Rz 3; ebenso 3 Ob 513/85 EFSlg 49.264; 7 Ob 598/93 ZfRV 1994/35; unklar 6 Ob 96/00m).

Dass die Minderjährigen - wie der Vater im Verfahren erster Instanz vorgebracht hat (ON 14) - (auch) libanesische Staatsangehörige sein könnten, ändert an diesen Überlegungen nichts (Simotta aaO Rz 2 mwN; Mayr aaO Rz 2 mwN).

2. Auch der Vater vermag in seinem Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 63 Abs 1 AußStrG aufzuzeigen. Er verweist lediglich darauf, dass im Libanon ein „funktionierendes Rechtssystem“ bestehe, welches den Parteien „einen ausreichenden Schutz“ gewährleiste; im Übrigen seien dort bereits ein Obsorge- und ein Unterhaltsfestsetzungsverfahren anhängig beziehungsweise sogar bereits eine Unterhaltsentscheidung ergangen, weshalb Streitanhängigkeit gegeben sei.

2.1. Das Rekursgericht hat bereits darauf hingewiesen, dass sich die Frage der Streitanhängigkeit im Hinblick auf § 110 Abs 2 JN gar nicht stellen könne. Dies entspricht der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (3 Ob 552/88 JBl 1989, 394; ebenso Mayr in Rechberger, ZPO³ [2006] § 110 JN Rz 1; vgl auch Fasching, Zivilprozessrecht² [1990] Rz 1191) und wird im Revisionsrekurs auch gar nicht substanziiert bestritten.

2.2. Eine Vorgangsweise nach § 110 Abs 2 JN setzt über den bloßen Gesetzeswortlaut hinaus voraus, dass bereits eine Entscheidung der ausländischen Behörde vorliegt oder aufgrund eines anhängigen Verfahrens konkret und in angemessener Zeit zu erwarten ist (Simotta in Fasching, ZPO² [2000] § 110 JN Rz 3 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung und Literatur).

Nach der Aktenlage liegt zwar bereits eine Unterhaltsentscheidung eines libanesischen „Religiöse[n] Drusische[n] Richters[s]“ am Gerichtshof Alayh erster Instanz vom 13. 10. 2009 vor (AS 55 f), eine Obsorgeentscheidung ist jedoch nicht ersichtlich. Ebenso wenig ist absehbar - und enthalten dazu auch die Ausführungen des Vaters im Revisionsrekursverfahren keine konkreten Angaben -, wann mit einer derartigen Entscheidung voraussichtlich zu rechnen sein wird; die Verhängung eines Ausreiseverbots über die Kinder (AS 67 ff) ist jedenfalls keine Obsorgeentscheidung. Im Unterschied zu dem, der Entscheidung 7 Ob 598/93 zugrundeliegenden Sachverhalt ist im vorliegenden Verfahren auch keineswegs offensichtlich „mit einem ständigen Betreiben des [Obsorgeverfahrens] seitens der Eltern zu rechnen, [wodurch] ausgeschlossen werden [könnte], dass mit weiteren Entscheidungen [libanesischer Gerichte] in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist“.

2.3. Nach § 110 Abs 2 JN darf das Gericht nur dann vorgehen, wenn gesichert (also nicht bloß anzunehmen) ist, dass die Rechte und Interessen des Minderjährigen durch die Behörden des ausländischen Staats ausreichend gewahrt sind (vgl die Nachweise bei Mayr in Rechberger, ZPO³ [2006] § 110 JN Rz 3). Dies erscheint aber im vorliegenden Verfahren allein schon deshalb fraglich, weil das libanesische Rechtssystem offensichtlich eine den §§ 176, 177a ABGB entsprechende (vorrangige) Berücksichtigung des Kindeswohls bei Obsorgeentscheidungen nicht kennt (vgl demgegenüber die in Art 125 libanesisches PKG genannten „Entziehungsfälle“ wie etwa das Verschulden an der Zerrüttung des Ehelebens oder die Wiederverheiratung nach Eheauflösung).

2.4. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wird die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen dann, wenn der Unterhaltsschuldner seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, durch eine inländische Entscheidung eindeutig gefördert; die Voraussetzungen für eine Vorgangsweise nach § 110 Abs 2 JN liegen dann nicht vor (RIS-Justiz RS0046849; vgl erst jüngst 2 Ob 274/08w EF-Z 2009/109 = iFamZ 2009/176 [Fucik] bei nahezu identem Sachverhalt). Dass die Lebenshaltungskosten im Libanon um 50 % niedriger sind als in Österreich - wie der Vater in seinem Revisionsrekurs meint -, wird (allenfalls) anlässlich der Unterhaltsfestsetzung zu berücksichtigen sein.

3. Da somit die Ablehnung einer Entscheidung nach § 110 Abs 2 JN durch die Vorinstanzen - eine solche stellt regelmäßig eine Entscheidung im Einzelfall dar, der keine über den Anlassfall hinausgehende Bedeutung zukommt - jedenfalls als vertretbar anzusehen ist, war der Revisionsrekurs des Vaters zurückzuweisen.

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