Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahingehend abgeändert, dass sie zu lauten haben wie folgt:
„Das Klagebegehren, der Beklagte sei schuldig,
1. es künftig zu unterlassen, die Behauptung 'der Kläger würde auf seinen Disco-Touren Jugendliche aufklauben, um sie dann als Söldner ausbilden zu lassen' oder sinngemäß gleichartige bzw gleichwertige Behauptungen aufzustellen oder zu verbreiten, sowie
2. die obige Behauptung öffentlich, den Lesern der Druckausgabe der Tageszeitung 'Österreich' gegenüber, somit in einer Druckausgabe der genannten Tageszeitung zu widerrufen,
wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 2.647,92 EUR (darin 441,32 EUR USt und 4 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens sowie die mit 2.639 EUR (darin 275,62 EUR USt und 986 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 2.425,60 EUR (darin 993 EUR USt und 1.234 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger ist Bundesparteiobmann und Nationalratsabgeordneter der F***** Partei Österreichs; der Beklagte ist Generalsekretär der Österreichischen V*****partei.
Streitgegenständlich ist ein in der Tageszeitung „Österreich“ am 2. 9. 2009 erschienenes Interview des Beklagten unter anderem des Inhalts:
„Herr S***** klaubt auf seinen Disco-Touren offenbar Jugendliche auf, um sie dann als Söldner ausbilden zu lassen. Das muss jetzt restlos aufgeklärt werden.“ Dieses Interview erschien im Zusammenhang mit einem Artikel im redaktionellen Teil der Tageszeitung „Österreich“ vom selben Tag. Schon am 1. 9. 2009 war in „Österreich“ ein Artikel mit der Überschrift „S***** vom Geheimdienst überwacht“ erschienen. Eine Unterüberschrift lautete „HAA prüfte S*****-Firma“ und „Sie bildete Irak-Söldner aus“. Nach diesem Artikel war der Kläger bis Ende 2004 Teilhaber und dann Gesellschafter der Firma „C*****“ ***** GmbH. Diese Firma wurde dann in „E***** Ges.m.b.H.“ umgewandelt. Diese Gesellschaft habe 2004 Österreicher für den Einsatz im Irak ausgebildet; 2004 seien auch europäische Söldner in den Irak geschickt worden, darunter auch Österreicher. Ein Folgeartikel mit der Überschrift „S*****s Geheimakte gelüftet“ erschien am 2. 9. 2009. Darin wurde unter anderem berichtet, dass ein Ex-Jagdkommandosoldat bereits 2003 Werbung für die erst später entstandene E***** Ges.m.b.H. gemacht habe. Der Kläger übe „noble“ Zurückhaltung; er wolle „gar nichts“ zum Geheimdienstakt über ihn sagen. Außerdem war eine Stellungnahme des Generalsekretärs der F***** wiedergegeben, wonach der Kläger längst aus der Firma ausgestiegen gewesen sei, als es zu angeblichen Söldnerausbildungen kam. Die Vorwürfe seien „Schwachsinn“.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger, dem Beklagten künftig zu verbieten, die - oder eine sinngleiche - Behauptung zu verbreiten, wonach der Kläger auf seinen Disco-Touren Jugendliche aufklaube, um sie dann als Söldner ausbilden zu lassen. Weiters erhob er das Widerrufsbegehren, der Beklagte sei schuldig, obige Behauptung öffentlich, den Lesern der Druckausgabe der Tageszeitung „Österreich“ gegenüber, sohin in einer Druckausgabe der genannten Tageszeitung, zu widerrufen.
Der Kläger brachte im Wesentlichen vor, die inkriminierte Behauptung sei frei erfunden, entbehre jeder Tatsachengrundlage und stelle einen überaus schwerwiegenden Eingriff in Ehre, Ansehen und Kredit eines österreichischen Politikers dar. Soweit sich der Beklagte auf einen Zeitungsartikel des Vortags berufe, werde darin zwar versucht, einen - unzutreffenden - Zusammenhang zwischen der Ausbildung von Sicherheitsleuten durch die (umfirmierte) E***** Ges.m.b.H. und der Eigenschaft des Klägers als vormaliger Gesellschafter dieser GmbH unter deren vorherigen Firma „C*****“ ***** GmbH herzustellen. Der Kläger habe seine Geschäftsanteile allerdings vor Aufnahme einer Geschäftstätigkeit veräußert. Im Übrigen lasse sich der vom Beklagten erhobene Vorwurf aus diesem Zeitungsartikel auch nicht ansatzweise entnehmen.
Der Beklagte beantragte Klagsabweisung und wendete ein, die inkriminierte Textstelle baue auf einem hinlänglich wahren Tatsachensubstrat auf. Die Tageszeitung „Österreich“ habe am Vortag des Interviews aufgedeckt, dass der Kläger vom Heeresabwehramt überwacht wurde, weil er „einst an einer Firma beteiligt [war], die Österreicher als Iraksoldaten ausbildete“. Im Zeitungsbericht würden Zusammenhänge zwischen einem Unternehmen, dessen Miteigentümer der Kläger war, und der Rekrutierung von Söldnern durch diese Gesellschaft für den Irak-Krieg aufgezeigt. Mit diesen Fakten konfrontiert, habe der Beklagte als Vertreter eines politischen Konkurrenten des Klägers dazu unmittelbar Stellung genommen. Es sei gerichts- und allgemeinbekannt, dass der Kläger laufend auf Disco-Touren unterwegs sei und Jugendliche für seine Zwecke um- und anwerbe; hierauf habe er (der Beklagte) hingewiesen und allfällige Zusammenhänge zwischen diesen Anwerbeaktionen in Discos und der Söldnerfirma als dringend aufklärungsbedürftig dargestellt.
Das Erstgericht gab der Klage statt. Der Schutz von Ehre und Kredit einer Person nach § 1330 ABGB stehe im Spannungsverhältnis zum Grundrecht der freien Meinungsäußerung, weshalb eine Abwägung der Interessen des Erklärenden und seinem Recht auf freie Meinungsäußerung einerseits und den Interessen des Beklagten und seinem Recht auf Respektierung seiner Person andererseits vorzunehmen sei. Dabei komme im Bereich der politischen Auseinandersetzung der freien Meinungsäußerung ein besonderes Gewicht zu, welche nur bei schwerwiegenden Verstößen einer Einschränkung unterliege. Im vorliegenden Fall sei der Tatbestand des § 1330 ABGB erfüllt, weil die Äußerung des Beklagten unwahr sei. Der Kläger sei ehemals an einer Gesellschaft beteiligt gewesen, als sie noch einen ganz anderen Unternehmensgegenstand gehabt habe, und welche sich erst nach seinem Ausscheiden mit der Ausbildung von Sicherheitskräften beschäftigt habe. Eine Begründung dafür, wieso der Kläger nach dem „Mantelverkauf“ einer GmbH für deren nachfolgende Geschäfte (politisch) verantwortlich sein solle, bleibe der Beklagte schuldig.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Dem Artikel sei zu entnehmen, dass die Aktivitäten der „Ex -S*****-Firma“ Gegenstand geheimdienstlicher Untersuchungen gewesen seien. Dass dabei auch nur im Entferntesten hervorgekommen wäre, der Kläger habe mit dem geänderten Unternehmensgegenstand im Allgemeinen, geschweige denn durch persönliche Involvierung beim Anwerben von Interessenten mit den in Rede stehenden Aktivitäten auch nur im Entferntesten zu tun, sei dem Artikel auch nicht ansatzweise zu entnehmen. Ungeachtet dessen habe der Beklagte im Interview noch die Behauptung hinzugesetzt, der Beklagte habe persönlich Jugendliche zwecks Ausbildung zum Söldner angeworben. Der Folgesatz, dies „müsse jetzt restlos aufgeklärt werden“, möge zum Ausdruck bringen, dass es sich nur um einen Verdacht handle. Dieser gehe jedoch über die „bezuggenommene“ Berichterstattung dermaßen weit hinaus, dass er von dieser nicht mehr gedeckt sei und daher nicht mehr als von einem ausreichend wahren Tatsachenkern getragen beurteilt werden könne.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen dieses Urteil erhobene Revision der beklagten Partei ist im Interesse der Rechtseinheit und Rechtssicherheit zulässig; sie ist auch berechtigt.
1. Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung 6 Ob 265/09p (MR 2010, 129 - Familiensilber) eingehend zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Interpretation der einfachgesetzlichen Tatbestände des § 1330 ABGB Stellung genommen. Diese Entscheidung fand auch im Schrifttum Zustimmung (Kissich, EvBl 2010/112 [Entscheidungsanmerkung]). Demnach sind die einfachgesetzlichen Vorgaben des § 1330 ABGB im Lichte der Anforderungen der EMRK auszulegen. Nach Art 10 Abs 1 MRK hat jedermann ein Recht auf freie Meinungsäußerung. Nach Art 10 Abs 2 MRK sind Einschränkungen dieses Rechts nur in dem Maße zulässig, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten. Diese Ausnahmen müssen jedoch eng ausgelegt und die Notwendigkeit jeglicher Einschränkungen muss überzeugend begründet werden (vgl EGMR 25. 1. 1999, Nr 23118/93, Nilsen und Johnsen Z 43). Der Begriff der Unentbehrlichkeit iSd Art 10 Abs 2 MRK erfordert daher ein „dringendes soziales Bedürfnis“ („pressing social need“; vgl etwa EGMR 8. 7. 1988, Nr 12/1984/84/131, Lingens Z 40, EuGRZ 1986, 428 = MR 1986, 11).
2. Die Freiheit der Meinungsäußerung bildet nach ständiger Rechtsprechung des EGMR eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der Grundbedingungen für deren Fortentwicklung und die Selbstverwirklichung jedes Individuums. Vorbehaltlich des Art 10 Abs 2 MRK ist sie nicht nur auf „Informationen“ oder „Ideen“ anwendbar, die positiv aufgenommen oder als harmlos oder indifferent angesehen werden, sondern auch auf solche, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Dies sind die Anforderungen an Pluralismus, Toleranz und Großzügigkeit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt (EGMR 7. 12. 1976, Nr 5493/72, Handyside Z 49). Dabei schützt Art 10 MRK nicht nur den Inhalt der Ideen und Nachrichten, sondern auch die Form, in der sie geäußert werden (EGMR 1. 7. 1997, Nr 47/1996/666/852, Oberschlick II Z 34, MR 1997, 196).
3. Art 10 Abs 2 EMRK lässt wenig Raum für Einschränkungen gegenüber politischer Rede oder Debatten über Fragen von öffentlichem Interesse (vgl EGMR 8. 7. 1999, Nr 26682/95, Sürek gegen Türkei, Z 61). Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die Freiheit der Meinungsäußerung zwar für jedermann von Bedeutung; in besonderem Maße gilt dies jedoch für gewählte Volksvertreter (vgl EGMR 23. 4. 1992, Nr 2/1991/254/325, Castells gegen Spanien, Z 42, ÖJZ 1992/35 [MRK]; 27. 2. 2001, Nr 26958/95, Jerusalem gegen Österreich, Z 36; EGMR 27. 4. 1995, Nr 5/1994/452/531-532, Piermont gegen Frankreich, Z 76, ÖJZ 1995/43 [MRK]; 11. 4. 2006, Nr 71343/01, Brasilier gegen Frankreich Z 42). Die Freiheit der politischen Debatte ist nach der Rechtsprechung des EGMR das eigentliche Kernstück des Konzepts einer demokratischen Gesellschaft. Die Grenzen akzeptabler Kritik sind daher hinsichtlich eines Politikers dementsprechend breiter als hinsichtlich einer einzelnen Privatperson (EGMR Lingens aaO Z 42; 9. 6. 1998, Incal gegen Türkei Z 54; EGMR 11. 4. 2006, Nr 71343/01, Brasilier gegen Frankreich; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention4 § 23 Rz 27 f mwN), wobei es freilich ungeachtet der Heftigkeit der politischen Auseinandersetzung legitim ist, auf ein Minimum an Mäßigung und Anstand zu achten (EGMR 24. 6. 2004, Nr 21279/02 und 36448/02, Lindon und Otchakovsky-Laurens gegen Frankreich, Z 57, MR 2007, 419).
4.1. Die inkriminierte Äußerung fiel zweifellos im Zuge einer politischen Debatte. Insbesondere ist hervorzuheben, dass die inkriminierte Aussage aus Anlass von Medienberichten fiel, nach denen der Kläger bis Ende 2004 Gesellschafter der genannten Gesellschaft war (so im ersten veröffentlichten Artikel) sowie das Anwerbungen nach den beiden Artikeln bereits im Mai und Juni 2003 - also jedenfalls noch zu Zeiten, als der Kläger Gesellschafter war - erfolgt sein sollen. Insoweit ist nach den Zeitungsberichten, zu denen der Kläger eine Stellungnahme ausdrücklich verweigerte, zumindest denkbar, dass die Aktion mit Billigung des Klägers erfolgte. Auf derartige massive Vorwürfe muss ein Politiker wie der Beklagte in der politischen Diskussion reagieren können.
4.2. Dabei darf dem Beklagten nicht das Risiko der Unrichtigkeit der Medienberichterstattung auferlegt werden. In Hinblick auf die zentrale Bedeutung der Medien in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft (vgl dazu etwa EGMR Scharsach und News Verlagsgesellschaft v. Austria, Nr 39394/98, Rz 30) würde es auf die politische Diskussion einen „chilling effect“ (vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention4 § 23 Rz 37) haben, wenn Kommentare aufgrund von Medienberichten Sanktionen ausgesetzt wären, falls sich diese Berichte später als unrichtig erweisen. Anderes gilt naturgemäß für den Fall, dass dem Äußernden die Unrichtigkeit der Berichterstattung bekannt war oder leicht erkennbar war; diese Voraussetzung trifft im vorliegenden Fall aber nicht zu.
4.3. Dazu kommt, dass gegen den Kläger in der politischen Diskussion bereits früher Vorwürfe im Zusammenhang mit „Paintballspielen“ erhoben worden waren. Anlass der damaligen Diskussion waren Fotos, die den Kläger im Kampfanzug offenbar bei wehrsportartigen Übungen zeigten. Vor diesem Hintergrund muss Vertretern anderer Parteien, aber auch der Öffentlichkeit zugebilligt werden, zu den Aktivitäten des Klägers, wie sie sich nach der seinerzeitigen Berichtslage in den Medien darstellten, auch pointiert und kritisch Stellung zu nehmen.
5. Zusammenfassend erweist sich daher die inkriminierte Äußerung vom Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art 10 EMRK gedeckt. In Stattgebung der Revision waren die Entscheidungen der Vorinstanzen daher im klagsabweisenden Sinn abzuändern.
6. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.
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