OGH 5Ob173/09s

OGH5Ob173/09s13.10.2009

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen/Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hurch, Dr. Glawischnig, Dr. Roch und Dr. Tarmann-Prentner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder Christian V*****, geboren am *****, Christopher V*****, geboren am *****, Pascal V*****, geboren am *****, und Marie V*****, geboren am *****, vertreten durch Ute Katharina V*****, diese vertreten durch Dr. Manfred Angerer, MMag. Dr. Werner Hochfellner und Mag. Alexander Todor-Kostic, Rechtsanwälte in Klagenfurt, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragsgegners Andreas V*****, vertreten durch Dr. Gerhard Brandl, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 24. Juni 2008, GZ 4 R 229/08f-40, mit dem über Rekurs des Antragsgegners der Beschluss des Bezirksgerichts Ferlach vom 5. Mai 2008, GZ 2 P 55/07d-S-25, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs des Antragsgegners wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben:

„Zur Entscheidung des Antrags der Mutter Ute Katharina V***** auf Obsorgezuteilung hinsichtlich der minderjährigen Kinder Christian V*****, geboren am *****, Christopher V*****, geboren am *****, Pascal V*****, geboren am *****, und Marie V*****, geboren am *****, ist das Bezirksgericht Ferlach international unzuständig."

Der Antragsgegner hat seine Verfahrenskosten selbst zu tragen.

Text

Begründung

Ute Katharina V***** und Andreas V***** sind die Eltern der im Spruch genannten Kinder. Die Obsorge für sie kommt derzeit beiden Eltern gemeinsam zu.

Am 16. 5. 2007 verließ die Mutter die Ehewohnung in Deutschland und zog mit den vier Kindern nach Ferlach (Kärnten), wo diese seither wohnhaft sind und auch die Schule besuchen. Die Zustimmung zum dauernden Verbleib der Kinder in Österreich hat der Vater nicht erteilt.

Am 17. 8. 2007 stellte der Vater einen Rückführungsantrag nach den Bestimmungen des HKÜ.

Am 25. 9. 2007 stellte die Mutter beim Erstgericht den Antrag auf Zuteilung der Obsorge hinsichtlich sämtlicher Minderjähriger. Der Vater hat sich stets gegen die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts für das Obsorgeverfahren ausgesprochen und beantragt, den Obsorgeantrag der Mutter deshalb zurückzuweisen, und nur in eventu, ihm die Obsorge zu übertragen.

Der erkennende Senat hat mit seiner Entscheidung vom 12. 5. 2009, AZ 5 Ob 47/09m (= ZAK 2009/421, 271 = EF-Z 2009/130, 196) die Rückführung der minderjährigen Kinder Christopher, Pascal und Marie V***** in das Staatsgebiet von Deutschland angeordnet. Betreffend den am 31. 5. 1992 geborenen Christian wurde das Verfahren nach Erreichen des 16. Lebensjahrs eingestellt.

Die Ehe der Eltern wurde am 14. 11. 2008 vom Amtsgericht Tettnang geschieden.

Den vier minderjährigen Kindern wurde mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen.

Das Amtsgericht Tettnang hat mit Beschluss vom 31. 10. 2007 die Übernahme des Verfahrens betreffend den Antrag auf Zuteilung des Sorgerechts abgelehnt.

Mit Vergleich des Amtsgerichts Tettnang vom 5. 9. 2007, AZ 2 F 444/07, haben die Eltern eine Regelung des Trennungsunterhalts und des Kindesunterhalts getroffen.

Parallel zum Verfahren nach dem HKÜ hat das Erstgericht das von der Mutter am 25. 9. 2007 eingeleitete Obsorgeverfahren geführt. Das Erstgericht sprach mit seinem Beschluss vom 5. 5. 2008, GZ 2 P 55/07d-S-25, seine sachliche und örtliche Zuständigkeit aus, womit es nach seiner Entscheidungsbegründung seine internationale Zuständigkeit bejahen wollte.

Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Vaters nicht Folge. Es bestätigte den erstinstanzlichen Beschluss mit der Maßgabe, dass die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts zur Verhandlung und Entscheidung über den von der Mutter gestellten Obsorgeantrag gegeben sei. Das Rekursgericht bejahte die Anwendbarkeit des Art 10 EuEheVO nF (folgend: Brüssel IIa-VO) für die Prüfung der internationalen Zuständigkeit, ging auch - wie in 5 Ob 17/08y zugrunde gelegt - von einem widerrechtlichen Verbringen der Kinder aus, bejahte einen gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder im Zeitpunkt der Antragstellung in Österreich und sah dies als ausreichend für den Übergang der internationalen Zuständigkeit an das Erstgericht an.

Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG vorliege.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Zurückweisung des Obsorgeantrags der Mutter infolge Fehlens inländischer Gerichtsbarkeit. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Mutter hat von der ihr eingeräumten Gelegenheit, eine Revisionsrekursbeantwortung zu erstatten, Gebrauch gemacht, und darin beantragt, dem Revisionsrekurs des Vaters nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist prozessual zulässig:

Nach neuerer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, nämlich seit 10 Ob 25/06h (= SZ 2006/146) gilt, dass die in § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG bezeichneten Mängel, insbesondere der Einwand der Nichtigkeit des Verfahrens, auch dann in einem Revisionsrekurs geltend gemacht werden können, wenn sie vom Rekursgericht bereits verneint worden sind. Wegen der ausdrücklichen Anordnung dieser Bestimmung und infolge Fehlens einer § 519 ZPO vergleichbaren Regelung im Außerstreitgesetz gibt es keine Grundlage für die Annahme einer diesbezüglichen Rechtsmittelbeschränkung (vgl RIS-Justiz RS0121265; vgl auch RS0107248 [T3]; RS0007232 [T15]).

Der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit ist seit der Novellierung des § 29 JN durch die WGN 1997 grundsätzlich wie eine unverzichtbare Unzuständigkeit zu behandeln (vgl RIS-Justiz RS0007405 [T3]). Im vorliegenden Fall ist daher die Frage der inländischen Gerichtsbarkeit revisibel.

Der Revisionsrekurs des Vaters ist auch im Lichte des § 62 Abs 1 AußStrG zulässig und berechtigt, weil das Rekursgericht aufgrund einer unrichtigen Anwendung des Art 10 Brüssel IIa-VO zu einem unrichtigen Ergebnis gelangte:

Zufolge Art 1 Abs 1 lit b iVm Art 1 Abs 2 lit a Brüssel IIa-VO gilt diese auch für Obsorgeverfahren, dies bis zum vollendeten 18. Lebensjahr der Kinder (vgl Klauser/Kodek JN-ZPO16 Rz 10 zu Art 1 EuEheVO). Anzuwenden sind die Bestimmungen der Art 8 bis 15 der Verordnung.

Art 8 Brüssel IIa-VO normiert als Grundsatz die allgemeine Zuständigkeit der Gerichte jenes Mitgliedstaats, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Allerdings wird dies durch Abs 2 dahin eingeschränkt, dass diese Regelung nur vorbehaltlich der Art 9, 10 und 12 Brüssel IIa-VO Anwendung findet.

Art 9 Brüssel IIa-VO betrifft den rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen. Dieser ist hier infolge festgestellter widerrechtlicher Verbringung der Kinder nicht relevant.

Anzuwenden ist hier Art 10 Brüssel IIa-VO, der die Zuständigkeit für Pflegschaftsverfahren in Fällen von Kindesentführung regelt. Nach dieser komplexen Regelung gilt als Grundsatz, dass bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte jenes Mitgliedstaats zuständig bleiben, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und zwar so lange, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat. Letzterer - vom Rekursgericht für gegeben erachteter - Zuständigkeitstatbestand hängt allerdings von mehreren Voraussetzungen ab, die hier allesamt nicht vorliegen:

nach Art 10 lit a) Brüssel IIa-VO:

Die Zustimmung sämtlicher sorgeberechtigter Personen, Behörden oder sonstiger Stellen zur Verbringung oder Zurückhaltung des Kindes oder

nach Art 10 lit b) Brüssel IIa-VO:

Wenn sich das Kind in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen, das Kind sich in seine Umgebung eingelebt hat und i: kein Rückführungsantrag gestellt wurde

oder

ii: ein Rückführungsantrag zurückgezogen wurde oder iii: im Herkunftsstaat ein Pflegschaftsverfahren gemäß § 11 Abs 7 Brüssel IIa-VO abgeschlossen wurde oder

iv: im Ursprungsland eine Sorgerechtsentscheidung erlassen wurde, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wurde. Ein Einstellungsfall des Art 11 Abs 7 (iVm Art 11 Abs 6) Brüssel IIa-VO setzt wiederum voraus, dass ein Rückführungsantrag abgelehnt, dies dem Herkunftsstaat mitgeteilt wurde und trotz Aufforderung die Parteien keine das Sorgerecht betreffenden Anträge gestellt haben. Es ist daher zusammenzufassen, dass weder ein Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat an sich noch das Einleben eines Kindes in seiner neuen Umgebung nach einem mindestens einjährigen Aufenthalt einen Übergang der internationalen Zuständigkeit an jenes Land, in das das Kind widerrechtlich verbracht wurde, bewirken. Diese unmittelbar anzuwendende Regelung, die österreichischen Rechtsvorschriften vorgeht und seit 1. 3. 2005 die EuEheVO aF ersetzt, hat keinen unmittelbaren Vorläufer. Die von den Vorinstanzen und der Revisionsrekursbeantwortung zitierten Entscheidungen sind daher sämtlich nicht einschlägig. Wesentliche Neuerung der Brüssel IIa-VO ist nämlich die Ausdehnung des sachlichen Anwendungsbereichs auf isolierte Obsorgeentscheidungen, also solche, die nicht im Zusammenhang mit einem Ehescheidungsverfahren eingeleitet wurden. Soweit sich die Revisionsrekursbeantwortung auf Art 12 Abs 3 Brüssel IIa-VO bezieht und die österreichische Staatsangehörigkeit der Minderjährigen ins Treffen führt, sind zwar die Voraussetzungen des Art 12 Abs 3 lit a Brüssel IIa-VO gegeben, diese müssten jedoch kumulativ mit einer Zustimmung aller Parteien des Verfahrens verbunden sein, wie lit b dieser Regelung anordnet. Auch eine Zuständigkeit nach Art 12 Abs 1 Brüssel IIa-VO erfordert die Zustimmung zur Zuständigkeit. Das betrifft auch die leicht veränderte Variante der Annexzuständigkeit zu Ehesachen. In allen Fällen des Art 12 Brüssel IIa-VO wird also neben weiteren Voraussetzungen die Zustimmung der Ehegatten oder der Träger der elterlichen Verantwortung gefordert (vgl EinfErlEuEheVO [= JABl 2005/2], abgedruckt in Klauser/Kodek JN-ZPO16 Rz 3 zu Art 12 EuEheVO).

Art 15 Brüssel IIa-VO sieht vor, dass das international zuständige Gericht eine Überweisung vornehmen kann, was für das Erstgericht ebenfalls nicht zutrifft.

Das Erstgericht hätte sich daher nach Art 17 Brüssel IIa-VO für international unzuständig erklären müssen. In Abänderung der Entscheidung der Vorinstanzen war dieser Ausspruch vorzunehmen. Ein Kostenersatz findet zufolge § 107 Abs 3 AußStrG nicht statt. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

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