OGH 5Nc3/23w

OGH5Nc3/23w6.3.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Wurzer und Mag. Painsi als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen L*, geboren am * 2011, wegen Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0050NC00003.23W.0306.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Gmünd vom 5. 12. 2022, GZ 8 Ps 135/20d-88, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung dieser Personensorgesache an das Bezirksgericht Hall in Tirol wird genehmigt.

 

Begründung:

[1] Der Minderjährige L* ist der Sohn von T* und T*. Die Obsorge kommt der Mutter alleine zu. Die Mutter hat noch zwei Töchter aus anderen Beziehungen. Sie lebte von 2008 bis 2020 in Innsbruck. Gegen Ende der Sommerferien 2020 übersiedelte sie mit den drei Kindern in den Sprengel des Bezirksgerichts Gmünd, vor dem ursprünglich Pflegschaftsverfahren für alle drei Kinder geführt wurden. Gegenstand des Verfahrens ist nur noch ein Obsorgeantrag der mütterlichen Großeltern, die wegen der Gefährdung des Kindeswohls auch eine einstweilige Entscheidung über die Obsorge für den Minderjährigen begehrten.

[2] Nachdem das Bezirksgericht Gmünd der Mutter die Ausreise mit dem Minderjährigen aus dem Schengenraum untersagt hatte, vernahm es die Mutter, den Minderjährigen sowie die mütterlichen Großeltern, holte Berichte des Kinder- und Jugendhilfeträgers ein, entzog der Mutter mit Beschluss vom 9. 2. 2022 die Obsorge für den Minderjährigen vorläufig und übertrug sie den mütterlichen Großeltern. Das Landesgericht Krems bestätigte diese Entscheidung mit Beschluss vom 30. 8. 2022 zu AZ 2 R 58/22z. Mit seinem Beschluss vom 19. 10. 2022 räumte das Bezirksgericht Gmünd der Mutter ein Kontaktrecht zu ihrem Sohn ein.

[3] Mit Beschluss vom 5. 12. 2022 übertrug es die Pflegschaftssache gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Hall in Tirol, weil sich der Minderjährige nunmehr im Sprengel dieses Gerichts aufhalte. Das Bezirksgericht Hall in Tirol lehnte die Übernahme der Pflegschaftssache ab, weil das Bezirksgericht Gmünd bereits über eine umfangreiche Akten- und Sachkenntnis verfüge und sich einen persönlichen Eindruck über die handelnden Personen verschafft habe. Sollte für die endgültige Entscheidung über den Antrag auf Übertragung der Obsorge ein Gutachten erforderlich sein, könne ein Sachverständiger aus Tirol bestellt werden.

[4] Das Bezirksgericht Gmünd legte den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung nach § 111 JN vor.

Rechtliche Beurteilung

[5] Die Übertragung der Zuständigkeit ist zu genehmigen:

[6] 1. Das ausschlaggebende Kriterium für die Beurteilung, ob die Pflegschaftssache nach § 111 JN an ein anderes Gericht übertragen werden soll, ist das Kindeswohl (RIS‑Justiz RS0046908). Eine Übertragung der Zuständigkeit zur Führung eines Pflegschaftsverfahrens ist daher vorzunehmen, wenn es im Interesse des Kindes liegt und zur Förderung der wirksamen Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes erforderlich erscheint (RS0046929). In der Regel entspricht es den Interessen von Kindern, wenn als Pflegeschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt ihrer Lebensführung liegt (RS0047300).

[7] 2. Offene Anträge sprechen nicht generell gegen eine Übertragung der Zuständigkeit (RS0047032). Sie können einer Übertragung der Zuständigkeit aber dann entgegen stehen, wenn dem übertragenden Gericht eine besondere Sachkenntnis zukommt oder es jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht (RS0047032 [T11]), oder auch dann, wenn das übertragende Gericht bereits durch unmittelbare Einvernahme der maßgeblichen Personen einen Eindruck gewonnen hat (RS0047032 [T12; T14; T26]).

[8] 3. Im zu beurteilenden Fall steht der Umstand, dass das Bezirksgericht Gmünd bereits Einvernahmen durchgeführt hat, der Übertragung der Zuständigkeit nicht entgegen:

[9] 3.1 Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ausschließlich daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann. Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen, wobei auch Zukunftsprognosen miteinzubeziehen sind (4 Nc 14/17x).

[10] 3.2 Der Minderjährige hält sich bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf, denen die einstweilige Obsorge zukommt. Um endgültig beurteilen zu können, bei wem das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen daher die derzeitigen Lebensumstände bei der Mutter und ihren Eltern in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfelds einander gegenübergestellt werden. Nur wenn dieKenntnis über die maßgeblichen Lebensumstände aller Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet.

[11] 3.3 An diesen Überlegungen ist auch die Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung zu messen. Es kommt nicht entscheidend darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen und zu beurteilen (5 Nc 103/02w).

[12] 3.4 Im vorliegenden Fall trifft es zwar zu, dass das Bezirksgericht Gmünd die Beteiligten einvernommen und Erhebungsschritte gesetzt hat, um eine Entscheidung über die einstweilige Entziehung der Obsorge zu treffen. Für die abschließende Beurteilung, ob die Obsorge endgültig bei den Großeltern verbleiben soll, bedarf es aber der Kenntnis der aktuellen Lebensumstände der Beteiligten. Eine Entscheidung über einen Obsorgeantrag durch das bisher zuständige Gericht wäre daher nur dann sinnvoll, wenn dieses in der Lage wäre, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht (RS0047027 [T3]). Nach der Aktenlage leben derzeit alle Beteiligten in Tirol: Der Minderjährige wohnt bei seinen Großeltern im Sprengel des Bezirksgerichts Hall in Tirol. Jedenfalls bis zur endgültigen Entscheidung über den Obsorgeantrag der Großeltern ist davon auszugehen, dass er dort wohnhaft bleiben wird. Auch die Mutter und der Vater haben derzeit ihren Wohnsitz in Tirol. Bei dieser Sachlage kann kein Zweifel bestehen, dass sich das Bezirksgericht Hall in Tirol die für die abschließende Beurteilung des noch offenen Sachantrags erforderliche Kenntnis über die aktuellen Lebensumstände leichter verschaffen kann als das übertragende Gericht. Dass auch dieses aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit über eine Akten- und Sachkenntnis verfügt, tritt bei dieser Sachlage in den Hintergrund.

[13] 4. Damit hat es bei der allgemeinen Regel zu bleiben, dass jenes Gericht besser geeignet ist, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Hall in Tirol ist daher zu genehmigen.

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