OGH 4Nc14/17x

OGH4Nc14/17x6.6.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte Dr. Jensik und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj K***** S*****, geboren am ***** 2009, folgenden

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0040NC00014.17X.0606.000

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 20. Februar 2017, GZ 7 PS 8/15k‑226, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Kufstein wird gemäß § 111 Abs 2 JN genehmigt.

 

Begründung:

Die Minderjährige hält sich mit ihrer Mutter nicht mehr im Sprengel des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien auf, sondern lebt seit September 2016 in Kufstein. Der Kindesvater wohnt weiterhin in Wien. Den Eltern kommt die gemeinsame Obsorge zu.

Die Entscheidung über eine Reihe von Anträgen steht noch aus, nämlich seit August 2016 insbesondere über die Übertragung der alleinigen einstweiligen Obsorge auf den Vater (ON 194), die Übertragung der alleinigen Obsorge auf die Mutter (ON 197) und Ferialkontakte des Vaters (ON 209). Formal unerledigt sind weiters Anträge des Vaters vom Juli 2016 auf Verhängung von Beugestrafen über die Mutter wegen Vereitelung von Kontakten zum Vater (ON 184 bis 187).

Das Bezirksgericht Innere Stadt Wien wies in der Folge Anträge des Vaters betreffend Ferialkontaktrechte im Sommer 2016 ab (ON 183); der Rekurs des Vaters dagegen (ON 191) wurde zurückgewiesen (ON 224).

Zwischenzeitig fand im Jänner 2017 am Bezirksgericht Innere Stadt Wien ein Richterwechsel statt.

Das Bezirksgericht Innere Stadt Wien übertrug nach Rücklangen des Aktes vom Rekursgericht seine Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache mit rechtskräftigem Beschluss vom 20. Februar 2017 an das Bezirksgericht Kufstein, weil sich die Minderjährige seit 1. September 2016 ständig in dessen Sprengel aufhalte; es sei daher zweckmäßiger und entspreche dem Kindeswohl, wenn dieses Gericht die Pflegschaftssache führe. Die offenen Anträge stünden der Übertragung nicht entgegen, weil beim übertragenden Gericht ein Richterwechsel stattgefunden und die nunmehr zuständige Richterin trotz fortgeschrittenen Verfahrens keine über das Aktenstudium hinausgehenden eigenen Sachkenntnisse oder persönlichen Eindrücke habe.

Das Bezirksgericht Kufstein stellte dem Bezirksgericht Innere Stadt Wien den Akt zur Entscheidung über die offenen Anträge zurück; die (sofortige) Übernahme des Aktes werde abgelehnt.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Bezirksgericht Innere Stadt Wien verfügte Übertragung der Zuständigkeit ist gerechtfertigt.

Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen oder sonstigen Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird.

Ausschlaggebendes Kriterium einer Zuständigkeitsübertragung nach § 111 Abs 1 JN ist stets das Kindeswohl (RIS-Justiz RS0047074). Dabei ist in der Regel das Naheverhältnis zwischen Pflegebefohlenem und Gericht von wesentlicher Bedeutung; im Allgemeinen ist daher das Gericht am besten geeignet, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder (gewöhnlichen) Aufenthalt hat (8 Ob 115/12p mwN).

Offene Anträge sind kein grundsätzliches Übertragungshindernis (RIS-Justiz RS0046895; RS0047027 [T8]; RS0047074; RS0046929; RS0049144), sondern es hängt von den Umständen des einzelnen Falls ab, ob eine Entscheidung darüber durch das bisherige Gericht zweckmäßiger ist, etwa weil dieses zur Erledigung effizienter geeignet wäre ( Fucik in Fasching/Konecny ³ § 111 JN Rz 5; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG § 111 JN Rz 16; Mayr in Rechberger , ZPO 4 § 111 JN Rz 4).

Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ausschließlich daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann. Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen und es sind Zukunftsprognosen miteinzubeziehen. Um beurteilen zu können, bei welchem Elternteil das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen die derzeitigen Lebensumstände bei beiden Elternteilen in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfelds einander gegenübergestellt (und unter Umständen auch der Betreuungsbeitrag der Großeltern mitberücksichtigt) werden. Nur wenn eine Erforschung aller maßgeblichen Lebensumstände aller Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet.

An diesen Überlegungen ist auch die Zweckmäßigkeit der Übertragung zu messen. Es kommt nicht entscheidend darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen (5 Nc 103/02w). Auch eine Entscheidung über einen Obsorgeantrag durch das bisher zuständige Gericht ist nur dann sinnvoll, wenn dieses bereits über entsprechende Sachkenntnisse verfügt oder jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht; nur dann ist es für den Pflegebefohlenen von Vorteil, dass das bisher zuständige Gericht über den Obsorgeantrag entscheidet (RIS-Justiz RS0047027 [T3]).

Ein solcher Fall ist dann nicht gegeben, wenn– wie hier – dem übertragenden Gericht zur Entscheidung hierüber nicht mehr Sachkenntnis zukommt als dem übernehmenden Gericht, weil ein Richterwechsel stattgefunden hat: Das übertragende Gericht konnte damit keinen Einblick in die persönlichen Verhältnisse der Minderjährigen und ihrer Eltern gewinnen. Unter diesen Umständen ist aus der Sachbearbeitung durch das bisherige Gericht kein überwiegender Vorteil zu erwarten (vgl RIS‑Justiz RS0053012). Es hat daher bei der allgemeinen Regel zu bleiben, dass das Naheverhältnis zwischen Pflegebefohlenem und Gericht von wesentlicher Bedeutung und daher das Gericht besser geeignet ist, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder (gewöhnlichen) Aufenthalt hat (8 Nc 2/08y)

Wegen der Verlegung des ständigen Aufenthalts der Pflegebefohlenen und damit ihres Lebensmittelpunktes nach Kufstein entspricht die Übertragung der Zuständigkeit dem Kindeswohl. Der entsprechende Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien ist daher zu genehmigen.

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