OGH 4Ob215/18y

OGH4Ob215/18y20.12.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. Dr. Brenn, Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache betreffend J* H*, geboren * 1949, *, vertreten durch Dr. Angela Lenzi, Rechtsanwältin in Wien, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der betroffenen Person gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 12. September 2018, GZ 21 R 213/18z‑19, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Vöcklabruck vom 12. Juli 2018, GZ 20 P 151/18g‑11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E124049

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen auf Einleitung eines Verfahrens zur Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters werden ersatzlos behoben. Das Verfahren wird eingestellt.

 

Begründung:

Der Betroffene ist in einen erbrechtlichen Rechtsstreit mit Dritten verwickelt, deren anwaltliche Vertreter eine Anregung auf Bestellung eines „Sachwalters“ mit zusammengefasst folgendem Inhalt erstatteten: Nach Abweisung eines Verfahrenshilfeantrags wegen Aussichtslosigkeit sei ein „wahrer 'Rechtsmittelexzess'“ ausgebrochen. Der Betroffene habe sämtliche in der Sache entscheidenden Richter wegen Befangenheit abgelehnt, wobei er sich in Widersprüche verwickelt habe. Seine Schriftsätze würden den Eindruck erwecken, er leide an paranoidem Verfolgungswahn, der ihm das Gefühl gebe, der Rechtsstaat verweigere ihm den Zugang zum Rechtssystem. Aus seinem Vorbringen gehe hervor, dass er unter der zwanghaften Vorstellung leide, die gesamte Justiz sei von Parteilichkeit geprägt, deren Opfer er sei. Er bezeichne sich als „Justizverbrechensopfer“ eines „Justizpsychoterrors“. Dazu wurden von den Einschreitern – neben Beschlüssen und Anträgen aus dem Anlassverfahren – mehrere mehr als zehn Jahre alte Eingaben und Dokumente sowie ein mehr als fünf Jahre alter Ausdruck eines Textes einer Homepage www.s*.org angeschlossen, der sich mit dem Betroffenen beschäftigt.

Das Erstgericht fasste den Beschluss, zur Prüfung der Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters für den Betroffenen den örtlich zuständigen Erwachsenenschutzverein zu beauftragen, eine Abklärung iSd § 4a ErwSchVG durchzuführen. Gleichzeitig veranlasste es Abfragen des Zentralen Vertretungsverzeichnisses, des Grundbuchs, des Firmenbuchs, des Melderegisters beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger sowie im Namensverzeichnis des VJ‑Registers. Zur Begründung führte das Erstgericht an, aufgrund der Aktenlage lägen konkrete und begründete Anhaltspunkte für die Einleitung eines Verfahrens zur Prüfung der Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters vor. Gemäß § 117a AußStrG habe das Gericht zunächst den Erwachsenenschutzverein mit der Abklärung zu beauftragen.

Von diesem Beschluss verständigte es gleichzeitig mit Note den Betroffenen, der diese Entscheidung mit Rekurs bekämpfte.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Rekurs des Betroffenen sei zulässig, weil schon nach bisheriger Rechtslage ein Beschluss über die Verfahrenseinleitung iSd § 117 Abs 1 AußStrG aF keine unanfechtbare, verfahrensleitende Verfügung iSd § 45 AußStrG gewesen sei, sondern eine anfechtbare, selbständige verfahrensrechtliche Sachentscheidung. Werde ein formeller Beschluss auf Verfahrenseinleitung nicht gefasst, sei der erste Beschluss des Gerichts, der seinen Willen unzweifelhaft erkennen lasse, die Voraussetzungen für die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters zu prüfen, als verfahrenseinleitender und daher anfechtbarer Beschluss anzusehen. Dies habe sinngemäß umso mehr auch für das seit 1. Juli 2018 in Kraft stehende 2. ErwSchG zu gelten, zumal dieses insbesondere die Stärkung der Autonomie der betroffenen Personen in den Vordergrund rücke.

Der zulässige Rekurs sei aber nicht berechtigt. Es ergäben sich aus dem Akteninhalt entsprechende Anhaltspunkte, welche für eine Fortsetzung des Verfahrens sprächen. Tatsächlich sei der Betroffene bereits in eine Reihe von Gerichtsverfahren involviert („vgl Registerauszug“), und er begründe seine Rechtsverfolgung bzw ‑verteidigung auch in einer Art, die die Gefahr nahelege, dass er sich durch sein Verhalten selbst Nachteile zufüge. So sei es zum Beispiel im (der Anregung vorausgegangenen) Verlassenschaftsverfahren zu einer nicht unerheblichen Kostenersatzpflicht des Betroffenen gekommen. Vom Rekurswerber vorgelegte ärztliche Bestätigungen und Gutachten aus den Jahren 1986, 1987, 1994 und 2004 änderten daran nichts, zumal diese „womöglich nicht mehr den aktuellen Gesundheitszustand wiedergeben“ könnten. Es lägen somit „nach der Aktenlage doch Hinweise“ vor, dass der Betroffene möglicherweise der Unterstützung durch einen Erwachsenenvertreter bedürfe. Sollte das Erstgericht nach Vorliegen des Clearingberichts des Erwachsenenschutzvereins das Verfahren fortsetzen, so habe es sich zwingend einen persönlichen Eindruck durch Durchführung einer Erstanhörung zu verschaffen. Endgültige Klarheit über das Vorliegen der Bestellungsvoraussetzungen iSd § 271 ABGB werde erst das weitere Verfahren bringen. Das Erstgericht habe zu Recht die Fortsetzung des Verfahrens beschlossen und iSd § 117a AußStrG den Erwachsenenschutzverein mit der Abklärung beauftragt.

Der ordentliche Revisionsrekurs wurde nicht zugelassen.

In seinem außerordentlichen Revisionsrekurs beantragt der nunmehr durch eine selbst gewählte Rechtsanwältin vertretene Betroffene die Abänderung im Sinne einer Einstellung des Verfahrens, hilfsweise die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Zurückverweisung an das Erstgericht.

Das Rechtsmittel ist zulässig und berechtigt.

Der Rechtsmittelwerber führt zusammengefasst ins Treffen, es liege kein Tatsachensubstrat vor, das die Verfahrenseinleitung rechtfertige.

Dazu wurde erwogen:

Rechtliche Beurteilung

1.1. Mit 1. Juli 2018 ist das 2. Erwachsenenschutz-Gesetz, BGBl I 2017/59 (2. ErwSchG), in Kraft getreten.

Gemäß § 1503 Abs 9 Z 4 ABGB sind die nach Z 1 leg cit mit 1. Juli 2018 in Kraft tretenden Bestimmungen auf Sachverhalte anzuwenden, die sich nach dem 30. Juni 2018 ereignen oder über diesen Zeitpunkt hinaus andauern. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass zum Zeitpunkt des Inkrafttretens bestehende Vertretungsverhältnisse nach der jeweils verbindlichen Rechtslage („sukzessives Anknüpfungselement“) zu beurteilen sind, also bis zum 30. Juni 2018 nach den bisherigen Vorschriften, danach nach den neuen Bestimmungen (7 Ob 179/18a mwN).

1.2. Das nach dem Inkrafttreten des 2. ErwSchG eröffnete Verfahren ist nach dieser neuen Rechtslage zu beurteilen.

2. Nach § 117 Abs 1 AußStrG idFd 2. ErwSchG ist das Verfahren über die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters für eine Person entweder über deren Eigenantrag oder von Amts wegen (etwa aufgrund einer Mitteilung) einzuleiten. Diese Bestimmung entspricht im Wesentlichen dem bis 30. Juni 2018 geltenden § 117 Abs 1 AußStrG. Aus welchen Gründen ein Verfahren einzuleiten ist, ergibt sich demnach aus den materiellen Bestimmungen (ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP  65).

2.1. Auch nach der neuen Rechtslage ist kein formeller Beschluss auf Einleitung des Verfahrens nach den §§ 116a ff AußStrG vorgesehen. Das Verfahren ist ab dem Moment eingeleitet, in dem das Gericht irgendeine Handlung vornimmt (ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP  65).

Dem Rekursgericht ist deshalb darin zuzustimmen, dass – wie bisher – der erste „Beschluss“ des Gerichts, der seinen Willen unzweifelhaft erkennen lässt, die Voraussetzungen der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters für eine Person im in §§ 116a ff AußStrG geregelten Verfahren zu prüfen, als Beschluss auf Verfahrenseinleitung anzusehen ist (RIS‑Justiz RS0008520, RS0008521; RS0008527 [T2]; vgl schon RS0006533 [zur EntmO]).

Zuzustimmen ist dem Rekursgericht auch darin, dass ein solcher Beschluss über die Verfahrenseinleitung (§ 117 Abs 1 AußStrG) keine unanfechtbare, verfahrensleitende Verfügung iSd § 45 Satz 2 AußStrG ist (vgl 3 Ob 94/07f unter Hinweis auf RIS‑Justiz RS0008521; siehe auch RS0006527).

3.1. Nach § 271 ABGB idFd 2. ErwSchG ist einer volljährigen Person vom Gericht auf ihren Antrag oder von Amts wegen insoweit ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter zu bestellen, als

1. sie bestimmte Angelegenheiten aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst besorgen kann,

2. sie dafür keinen Vertreter hat,

3. sie einen solchen nicht wählen kann oder will und

4. eine gesetzliche Erwachsenenvertretung nicht in Betracht kommt.

Nach § 272 Abs 1 ABGB darf ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter nur für einzelne oder Arten von gegenwärtig zu besorgenden und bestimmt zu bezeichnenden Angelegenheiten bestellt werden.

3.2. Liegen konkrete und begründete Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters vor, so hat das Gericht nach § 117a AußStrG idFd 2. ErwSchG zunächst den Erwachsenenschutzverein (§ 1 ErwSchVG) mit der Abklärung (§ 4a ErwSchVG) zu beauftragen.

Wie schon nach dem bisherigen § 117 Abs 1 AußStrG aF (vgl RIS‑Justiz RS0013479 [T2, T3], RS0008526) müssen umso mehr auch nach neuem Recht, dessen erklärte Absicht es ist, dass auch Personen mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit möglichst selbständig ihre Angelegenheiten selbst besorgen können (vgl § 239 Abs 1 ABGB idF 2. ErwSchG), schon für die Einleitung des Verfahrens begründete und konkrete Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters zur Wahrung der Belange des Betroffenen vorliegen (vgl ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP  65 f). Die bloße Behauptung der Notwendigkeit einer Bestellung ist für die Einleitung des Verfahrens nicht hinreichend. Die Anhaltspunkte müssen konkret und begründet sein und haben sich sowohl auf die psychische Krankheit oder eine vergleichbare Beeinträchtigung als auch auf die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters zum Schutz der betreffenden Person zu beziehen. Fehlen solche Anhaltspunkte, darf das Verfahren nicht eingeleitet werden; eine bloß potenzielle künftige Gefährdung reicht ebenso wenig wie das Interesse Dritter an einer Bestellung. Das mit der Anregung, ein solches Verfahren einzuleiten, befasste Gericht hat dabei in jedem Einzelfall zu prüfen, ob der Hinweis konkrete und begründete Anhaltspunkte enthält; auch ist zu beachten, von wem der Hinweis kommt (3 Ob 55/13d mwN).

Zwar genügt schon die bloße Möglichkeit, dass es nach Abschluss des Verfahrens zur Bestellung eines Erwachsenenvertreters kommen kann, jedoch bedarf es wenigstens eines Mindestausmaßes an nachvollziehbarem Tatsachensubstrat, aus dem sich das Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte ableiten lässt (RIS‑Justiz RS0008542 [T1]).

5. An einem solchen Mindestmaß an Tatsachensubstrat fehlt es hier:

Der Verfahrenseinleitungsbeschluss ist aufgrund der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Beschlusses zu überprüfen (§ 53 AußStrG; RIS‑Justiz RS0006801 [insb T6, T7]). Die Vorinstanzen trafen keinerlei Feststellungen zu konkreten Anhaltspunkten für das Vorliegen einer psychischen Krankheit (oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung) oder zu konkreten Umständen, warum gerade daraus eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur selbstbestimmten Verhaltenssteuerung folgen würde. Aus jahrealten ärztlichen Unterlagen ist gerade nicht abzuleiten, dass der Betroffene derzeit an einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung leide; auch dass der Betroffene in mehrere Gerichtsverfahren verstrickt sei und in einem Fall daraus Kostenersatzverpflichtungen resultierten, vermag eine konkrete und aktuelle Gefährdung im vom Gesetz geforderten Sinne nicht zu begründen. Zudem erstattete – soweit ersichtlich – keines dieser mit Verfahren des Betroffenen befassten Gerichte eine Anregung nach § 6a ZPO, sondern eine Anregung erfolgte durch Verfahrensgegner des Betroffenen. Weder aus deren Darlegungen noch aus den von ihnen vorgelegten Urkunden sind aber aktuelle Anhaltspunkte für eine Verfahrenseinleitung abzuleiten.

6. Zusammengefasst war dem Revisionsrekurs Folge zu geben und das Verfahren mangels Mindestmaßes an ausreichendem Tatsachensubstrat für die Einleitung eines Verfahrens zur Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters einzustellen (§ 122 Abs 1 AußStrG).

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