OGH 4Ob120/98w

OGH4Ob120/98w5.5.1998

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kodek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Graf, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofes Dr. Griß und Dr. Schenk sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Vogel als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Christian W*****, infolge Revisionsrekurses des Vaters Mag. DDr. Erwin R***** gegen den Beschluß des Landesgerichtes St. Pölten als Rekursgericht vom 28. November 1997, GZ 7 R 74/97f-275, womit infolge von Rekursen des Unterhaltssachwalters Bezirkshauptmannschaft T***** - Jugendabteilung sowie des Vaters der Beschluß des Bezirksgerichtes Tulln vom 24. Juli 1997, GZ 1 P 160/96t-270, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden in ihrer Abweisung des Herabsetzungsantrages bis zum 1.4.1997 bestätigt. Im übrigen werden sie aufgehoben; die Pflegschaftssache wird in diesem Umfang zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Der 1947 geborene Vater des Minderjährigen war zuletzt aufgrund des Beschlusses des Bezirksgerichtes F***** vom 20.9.1993 (ON 196) zu monatlichen Unterhaltsleistungen von S 3.200.- an seinen außerehelichen Sohn verpflichtet. Weitere Unterhaltspflichten bestehen gegenüber seinen weiteren Kindern Adriana Carolina K*****, geb. 30.3.1995, und Oskar K*****, geb. 6.4.1997; ob sein weiterer Sohn Markus, geb. 2.6.1976, schon selbsterhaltungsfähig ist, wurde nicht festgestellt. Der Minderjährige befindet sich in der Obsorge seiner alleinerziehenden Mutter, deren zuletzt erzieltes Monatseinkommen in einer Höhe von ca. S 8.300.- aktenkundig ist.

Der Vater hat bis 1977 in Deutschland eine Ausbildung zum Versicherungsfachwirt abgeschlossen und in diesem Beruf 1980 vor seiner Rückkehr nach Österreich zuletzt umgerechnet ca. S 40.000.- monatlich verdient. Seit April 1981 ist der Kläger als arbeitssuchend gemeldet, fand jedoch mit Ausnahme weniger Monate keinen Arbeitsplatz. Er schloß ein Studium der Betriebswirtschaft 1989 mit Promotion zum Dr. phil. ab, beendete ein studium irregulare (Verhaltenswissenschaften) 1990 mit Sponsion zum Mag. rer. nat. und promovierte 1992 zum Dr. rer. soc. oec. (Soziologie). Trotz laufender Bewerbungen ist es ihm bisher nicht gelungen, einen seiner mehrfachen akademischen Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz zu bekommen. Grundlage der zuletzt erfolgten Unterhaltsbemessung war ein berufskundliches Gutachten vom 26.3.1993 (ON 183), das dem Vater bescheinigt, auf alle körperlich und sittlich zumutbaren Berufstätigkeiten verweis- und vermittelbar zu sein, wobei er ein Monatseinkommen von mindestens S 19.937.- erzielen könne.

Am 29.11.1996 (ON 253) beantragte der Vater unter Verweis auf eine Reduktion der Notstandshilfe, die Unterhaltsverpflichtung "entsprechend" herabzusetzen. Er präzisierte diesen Antrag am 8.4.1997 (ON 260) dahin, daß er eine Herabsetzung auf monatlich S 800.- begehre, und brachte ergänzend vor, daß seit der letzten Unterhaltsentscheidung eine weitere Unterhaltspflicht für seinen am 6.4.1997 geborenen Sohn Oskar hinzugekommen sei; auch habe er am 18.3.1997 einen Verkehrsunfall erlitten, der seine Pflegebedürftigkeit zur Folge habe. Dieser Umstand und auch sein Alter in Verbindung mit der allgemeinen Lage auf dem Arbeitsmarkt für Akademiker machten ihm eine Beschäftigung unmöglich. Der Unterhaltssachwalter Bezirkshauptmannschaft T***** - Jugendamt erklärte sein Einverständnis nur zu einer Herabsetzung auf monatlich S 2.200.- ab 1.5.1997 (ON 64). Mit Schreiben vom 25.6.1997 (ON 267) wiederholte der Vater seinen Herabsetzungsantrag und brachte vor, daß er sich weiterhin unfallbedingt in Krankenstand befinde; es sei ungewiß, ob überhaupt eine gänzliche Genesung eintreten werde. Es sei ihm unmöglich, eine berufliche Tätigkeit auszuüben.

Mit Beschluß vom 24.7.1997 (ON 270) bewilligte das Erstgericht eine Herabsetzung der monatlichen Unterhaltsleistung auf S 1.250.- ab 1.5.1997 und wies das Mehrbegehren ab. Es vertrat die Rechtsmeinung, daß sich erst mit der Geburt des weiteren Sohnes Oskar (also ab 1.5.1997) die für die Unterhaltsbemessung maßgeblichen Verhältnisse geändert hätten; ausgehend vom Bezug einer durchschnittlichen monatlichen Notstandshilfe von S 8.046.- errechne sich unter Berücksichtigung der drei weiteren Sorgepflichten ein Unterhaltsbetrag in Höhe von 16 % dieser Bemessungsgrundlage.

In der protokollarischen Verbesserung seines Rechtsmittels gegen diese Entscheidung (ON 281) führte der Kindesvater erneut aus, daß eine Wiederherstellung seiner vollen Arbeitsfähigkeit nicht zu erwarten sei; er bot dazu die Vorlage fachärztlicher Befunde an. Mit Schreiben vom 5.2.1998 (ON 288) machte er weitere Angaben zum erlittenen Unfall und legte dazu Unterlagen vor.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindesvaters nicht, jenem des Unterhaltssachwalters teilweise Folge und verpflichtete den Vater zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von S 2.200.- ab 1.5.1997. Es sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei; es fehle nämlich höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, ab wann und unter welchen Umständen die Anspannung eines Unterhaltspflichtigen nicht mehr zulässig sei, der mehrere Studien betrieben habe und sodann aufgrund seines Alters offenbar nicht mehr vermittelbar sei. Das Rekursgericht ging davon aus, daß der vom Unterhaltssachwalter gebilligte monatliche Unterhalt von S 2.200.- einem erzielbaren Nettoeinkommen von ca. S 15.750.- entspreche, welches Einkommen unter dem vom Vater zuletzt kurzzeitig verdienten und auch unter dem statistischen Durchschnittseinkommen aller unselbständig Erwerbstätigen liege. Eine Anspannung auf diese Unterhaltsleistung überspanne daher die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Vaters nicht.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters (ON 278) ist zulässig, weil das Rekursgericht von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Anspannung abgewichen ist; er ist auch teilweise berechtigt.

Gemäß § 140 Abs 1 ABGB haben die Eltern zur Deckung der ihren Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse des Kindes unter Berücksichtigung seiner Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten nach ihren Kräften anteilig beizutragen. Den Unterhaltspflichtigen trifft demnach die Obliegenheit im Interesse seiner Kinder, alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einzusetzen. Tut er dies nicht, so wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (SZ 63/74; 4 Ob 2236/96v; Schwimann in Schwimann ABGB**2 Rz 60 zu § 140 mwN). Einschränkend setzt die Rechtsprechung diesen sogenannten Anspannungsgrundsatz nur als eine Art Mißbrauchsvorbehalt dort ein, wo schuldhaft die zumutbare Erzielung deutlich höherer Einkünfte versäumt wird. Die Anspannung darf aber nicht zu einer bloßen Fiktion führen, sondern muß immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen in der Lage wäre (1 Ob 597/95; 4 Ob 2330/97v; 9 Ob 23/98t uva).

Das potentielle Einkommen aus der Anspannung wird nach einer den subjektiven Fähigkeiten und der objektiven Arbeitsmarktlage entsprechenden sowie zumutbaren Erwerbstätigkeit gemessen. Subjektive Fähigkeiten sowie Zumutbarkeit werden im wesentlichen durch Alter, berufliche Ausbildung, körperliche und geistige Verfassung sowie familiäre Belastung bestimmt. In diesem Rahmen sind die konkreten Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt ausschlaggebend (8 Ob 503/96; 1 Ob 2330/96w; 4 Ob 2236/96v; 8 Ob 191/97i ua). Grundsätzlich ist mit der Anspannung daher dann nicht mehr vorzugehen, wenn der Unterhaltspflichtige bei Arbeitslosigkeit und Meldung als Arbeitssuchender auch bei Einsatz aller seiner persönlichen Fähigkeiten, also seiner Leistungskraft unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines Könnens, nicht in der Lage wäre, einen Arbeitsplatz zu erlangen (ÖA 1992, 51; 4 Ob 2068/96p; 8 Ob 191/97i). Wer - aus welchen Gründen immer (Krankheit, Haft, Schwangerschaft, Alter) - zu einer Erwerbstätigkeit nicht in der Lage ist, dem kann wegen der fehlenden Leistungsfähigkeit kein potentielles Einkommen unterstellt werden (Schwimann aaO mwN; 4 Ob 544/91 = ÖA 1992, 51 U23).

Der Revisionsrekurswerber zeigt zutreffend auf, daß er im laufenden Unterhaltsherabsetzungsverfahren wiederholt darauf verwiesen hat, infolge der bei einem Verkehrsunfall im März 1997 erlittenen Verletzungen arbeitsunfähig zu sein; die Vorinstanzen haben dieses - bereits vor der Erlassung des erstgerichtlichen Beschlusses erstattete - Vorbringen unberücksichtigt gelassen, obwohl das Pflegschaftsgericht aufgrund des im Außerstreitverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatzes verpflichtet ist, von Amts wegen sämtliche wesentlichen Umstände für die Unterhaltsbemessung zu erheben. Gleiches gilt für den schon am 8.4.1997 erhobenen Einwand des Vaters, er habe infolge seines fortgeschrittenen Alters und seiner akademischen Qualifikation keine Chance auf Eingliederung ins Erwerbsleben. Diesem Vorbringen kann durch eine vom Rekursgericht vorgenommene Anspannung auf ein unter dem durchschnittlich erzielten Einkommen aller unselbständig Erwerbstätigen in Österreich liegendes Einkommen nicht ohneweiteres begegnet werden. Es ist nämlich durchaus möglich, daß gerade Langzeitarbeitslosigkeit Dienstgeber davor zurückschrecken läßt, ältere Dienstnehmer einzustellen; ebenso ist zweifelhaft, ob ein dreifacher Akademiker auf eine weit unter seiner beruflichen Qualifikation liegende Arbeitsstelle vermittelbar ist.

Die Fragen, ob eine Anspannung des arbeitslosen Vaters zulässig ist, falls ja, welches Einkommen er erzielen könnte, hängen demnach davon ab, ob bzw. in welchem Umfang er nach seinem erlittenen Unfall im März 1997 arbeitsunfähig ist und ob er seit damals auf dem Arbeitsmarkt noch konkret vermittelbar ist; dazu fehlen Feststellungen. Dieser Feststellungsmangel zwingt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen für den Zeitraum ab 1.4.1997. Mangels wesentlicher Umstandsänderung vor diesem Zeitpunkt kommt eine Unterhaltsherabsetzung bis dahin nicht in Betracht (Schwimann aaO Rz 76 mwN); die Teilabweisung des Herabsetzungsantrages durch die Vorinstanzen war in diesem Umfang daher zu bestätigen.

Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht nach Erweiterung der Entscheidungsgrundlage durch ärztliche Begutachtung des Vaters, danach allenfalls Einholung eines berufskundlichen Gutachtens, festzustellen haben, ob der Vater aufgrund seiner physischen und psychischen Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung der ab April 1997 gegebenen Arbeitsmarktlage überhaupt in der Lage gewesen wäre, einen Arbeitsplatz zu erlangen; sollte diese Frage bejaht werden, wäre weiters festzustellen, welches Einkommen er damit nachhaltig hätte erzielen können. Vor einer allfälligen Unterhaltsneubemessung wird sodann auch noch zu klären sein, ob die Unterhaltspflicht des Vaters gegenüber seinem ältesten Sohn Markus noch besteht.

Da im aufgezeigten Umfang Feststellungen fehlen, erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig.

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