OGH 4Nc25/17i

OGH4Nc25/17i12.12.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr.

 Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen M***** C*****, geboren am ***** 2014, wegen Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 2 JN, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0040NC00025.17I.1212.000

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Traun vom 20. Oktober 2017, GZ 27 Ps 125/15t‑153, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung dieser Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien wird gemäß § 111 Abs 2 JN genehmigt.

 

Begründung:

Die Minderjährige lebt seit 6. 5. 2017 gemeinsam mit ihrer Mutter im Sprengel des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien. Der Aufenthalt ist auf Dauer angelegt.

Nach jahrelangem Verfahren vor dem Bezirksgericht Traun – in dessen Sprengel die Minderjährige zunächst wohnte – wurden zuletzt nach Entscheidung des Obersten Gerichtshofs sowie aufgrund einer Vereinbarung in der Tagsatzung vom 19. 10. 2017 die strittigen Kontaktrechtsfragen geklärt. Anhängig ist derzeit nur ein Obsorgeantrag des Vaters vom 22. 9. 2017, der in der Tagsatzung vom 19. 10. 2017 vor allem auch deshalb nicht zurückgezogen wurde, um sich die Möglichkeit eines allfälligen Gesetzesprüfungsverfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof offen zu halten. Das Bezirksgericht Traun hat in Bezug auf den Obsorgeantrag noch keine Verfahrensschritte gesetzt.

Beide Eltern haben ihr ausdrückliches Einverständnis zur Übertragung der Zuständigkeit der Pflegschaftssache vom Bezirksgericht Traun an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien erklärt.

Das Bezirksgericht Traun übertrug unter Hinweis auf den nunmehrigen Wohnsitz der Minderjährigen mit inzwischen in Rechtskraft erwachsenem Übertragungsbeschluss vom 20. 10. 2017 die Zuständigkeit zur Besorgung dieser Pflegschaftssache hinsichtlich Personensorge und Unterhalt gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien.

Das Bezirksgericht Innere Stadt Wien lehnte die Übernahme der Pflegschaftssache mit der Begründung ab, der Obsorgeantrag ziele darauf ab, den Wohnsitz der Minderjährigen wieder in den Sprengel des Bezirksgerichts Traun zurückzuverlegen. Darüber hinaus habe das Bezirksgericht Traun durch die bisherige aufwändige Verfahrensführung besondere Sachkenntnis und Kenntnis der beteiligten Personen erlangt. Es erscheine daher zweckmäßiger, dass das Bezirksgericht Traun über den offenen Antrag entscheidet.

Das Bezirksgericht Traun legte den Akt am 27. 11. 2017 zu GZ 27 Ps 198/17f‑156 dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung nach § 111 Abs 2 JN vor.

Die vom Bezirksgericht Traun verfügte Übertragung der Zuständigkeit ist gerechtfertigt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen oder sonstigen Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird.

Ausschlaggebendes Kriterium einer Zuständigkeitsübertragung nach § 111 Abs 1 JN ist stets das Kindeswohl (RIS‑Justiz RS0047074). Dabei ist in der Regel das Naheverhältnis zwischen Pflegebefohlenem und Gericht von wesentlicher Bedeutung; im Allgemeinen ist daher das Gericht am besten geeignet, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder (gewöhnlichen) Aufenthalt hat (8 Ob 115/12p mwN).

Offene Anträge sind kein grundsätzliches Übertragungshindernis (RIS‑Justiz RS0046895; RS0047027 [T8]; RS0047074; RS0046929; RS0049144), sondern es hängt von den Umständen des einzelnen Falls ab, ob eine Entscheidung darüber durch das bisherige Gericht zweckmäßiger ist, etwa weil dieses zur Erledigung effizienter geeignet wäre (Fucik in Fasching/Konecny³ § 111 JN Rz 5; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 111 JN Rz 16; Mayr in Rechberger, ZPO4 § 111 JN Rz 4).

Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ausschließlich daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann. Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen und es sind Zukunftsprognosen miteinzubeziehen. Um beurteilen zu können, bei welchem Elternteil das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen die derzeitigen Lebensumstände bei beiden Elternteilen in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfelds einander gegenübergestellt (und unter Umständen auch der Betreuungsbeitrag der Großeltern mitberücksichtigt) werden. Nur wenn eine Erforschung aller maßgeblichen Lebensumstände aller Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet.

An diesen Überlegungen ist auch die Zweckmäßigkeit der Übertragung zu messen. Es kommt nicht entscheidend darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen (5 Nc 103/02w). Auch eine Entscheidung über einen Obsorgeantrag durch das bisher zuständige Gericht ist nur dann sinnvoll, wenn dieses bereits über entsprechende Sachkenntnisse verfügt oder jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht; nur dann ist es für den Pflegebefohlenen von Vorteil, dass das bisher zuständige Gericht über den Obsorgeantrag entscheidet (RIS‑Justiz RS0047027 [T3]).

Im vorliegenden Fall hat das Bezirksgericht Traun in dieser Pflegschaftssache bereits ein jahrelanges Verfahren geführt und sodann Obsorge- und Kontaktrechtsentscheidungen getroffen, wobei das Kontaktrecht zuletzt zwischen den Eltern einvernehmlich geregelt wurde.

Wenn nun der Vater neuerlich einen Obsorgeantrag stellt, das übertragende Gericht dazu noch kein Verfahren geführt hat und die Minderjährige dauerhaft nach Wien verzogen ist, ist nicht ersichtlich, warum nun das übertragende Gericht das Verfahren effizienter zu führen in der Lage sein soll als das Wohnsitzgericht. Der Umstand, dass der am übertragenden Gericht tätige Richter die Parteien und deren (frühere) Lebensumstände kennt, kann nicht zur Folge haben, dass die Zuständigkeit dieses Pflegschaftsgerichts (allenfalls bis zur Volljährigkeit der Minderjährigen) perpetuiert wird, nur weil sich die Minderjährige in ihren ersten drei Lebensjahren in seinem Sprengel aufgehalten hat und ein Verfahren anhängig war.

Aufgrund des neuen Antrags wird das Gericht auf Basis der aktuellen Lebensumstände die Obsorgeentscheidung zu treffen haben. Unter diesen Umständen ist aus der Sachbearbeitung durch das bisherige Gericht kein überwiegender Vorteil zu erwarten. Es hat daher bei der allgemeinen Regel zu bleiben, dass das Naheverhältnis zwischen Pflegebefohlenem und Gericht von wesentlicher Bedeutung und daher das Gericht besser geeignet ist, in dessen Sprengel die Minderjährige ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat (vgl 4 Nc 14/17x).

Wegen der Verlegung des ständigen Aufenthalts der Minderjährigen nach Wien entspricht die Übertragung der Zuständigkeit dem Kindeswohl. Der entsprechende Beschluss des Bezirksgerichts Traun ist daher zu genehmigen.

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