European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0030OB00154.21Z.1125.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die Eltern der beiden Minderjährigen sind seit September 2015 getrennt und seit März 2017 geschieden. Beide Kinder leben seit der Trennung der Eltern bei der Mutter. Seit Juli 2017 strebt die Mutter die alleinige Obsorge für beide Kinder an.
[2] Das Erstgericht sprach aus, dass beiden Eltern weiterhin die Obsorge gemeinsam zukomme und die Minderjährigen hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut werden; den Antrag der Mutter, die Obsorge auf sie allein zu übertragen, wies es ab.
[3] Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung und ließ den Revisionsrekurs nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
[4] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, der sich gegen die gemeinsame Obsorge für den Minderjährigen M* wendet, zeigt keine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf.
[5] 1.1 Maßstab für die Entscheidung über die Obsorge und der Frage, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird (§ 180 Abs 2 ABGB) ist das Kindeswohl. Auch für die Anordnung oder die Belassung der beiderseitigen Obsorge, die seit dem KindNamRÄG 2013 der Regelfall sein soll (RS0128811), ist maßgebend, ob die Interessen des Kindes auf diese Weise am besten gewahrt werden können. Das Kindesinteresse ist dem Willen der Eltern dabei übergeordnet (vgl RS0130247). Die Obsorge beider Eltern kann daher auch gegen den Willen beider oder gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden (RS0128810).
[6] 1.2 Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge durch beide Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider Eltern voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entscheidungen zu treffen. Erforderlich ist daher, dass eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder zumindest in absehbarer Zeit hergestellt werden kann (RS0128812). Ob eine ausreichende Kommunikationsbasis besteht, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden und begründet regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage (RS0128812 [T15]; RS0007101; RS0115719). Inwieweit nach Art und Umfang der Kommunikation eine ausreichende Gesprächsbasis für eine gemeinsame Entscheidungsfindung anzunehmen ist, kann nicht verallgemeinert werden (1 Ob 15/20t).
[7] 1.3 Entgegen der Ansicht der Mutter steht die Beurteilung des Rekursgerichts, dass die Kommunikationsbasis der Eltern für die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge ausreicht, mit der Rechtsprechung im Einklang. Nach den Feststellungen kommunizieren die Eltern seit dem Ausbruch der Corona‑Pademie häufig und „durchaus freundlich“ und „durchgehend in einem ruhigen und sachlichen Ton“; sie brachten ihre jeweiligen Sichtweisen zum Ausdruck und ließen einander ausreden. Die im Revisionsrekurs erwähnte Auseinandersetzung und die Behauptung angeblicher Wohnungsverkäufe ohne Zustimmung der Mutter betreffen eine deutlich vor der Scheidung liegende Zeit und sind für die Entscheidung über die Obsorge nicht relevant.
[8] 2.1 Gemäß § 138 Z 5 ABGB ist ein wichtiger Aspekt des Kindeswohls die Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit der Meinungsbildung, wobei nach der Rechtsprechung ab dem zwölften Lebensjahr von der Urteilsfähigkeit eines Kindes bezüglich einer Obsorgezuteilung auszugehen ist (RS0048820 [T9]).
[9] 2.2 Zum erklärten Willen des – im Zeitpunkt seiner Befragung elfjährigen – M* steht fest, dass dieser eine alleinige Obsorge der Mutter befürwortete, weil er sich dadurch erhoffte, dass es dann keinen Streit der Eltern mehr geben werde; elterliche Streitigkeiten in Erziehungsfragen belasten ihn. Die Begründung des Rekursgerichts, dass bereits das Erstgericht diesen erklärten Willen des Minderjährigen nicht übergangen, sondern überzeugend argumentiert habe, es sei unrealistisch, dass die Eltern im Fall einer Alleinobsorge der Mutter nicht mehr streiten würden, ist nicht zu beanstanden. Auch das Rekursgericht hat sich mit dem – nicht allein ausschlaggebenden – Willen des M* auseinandergesetzt und diesen in seiner Entscheidung berücksichtigt; Ausführungen zur Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Buben erübrigen sich daher. Soweit der Revisionsrekurs Behauptungen über angeblichen „Psychoterror“ des Vaters enthält, entfernt er sich vom festgestellten Sachverhalt und ist nicht gesetzmäßig ausgeführt (vgl RS0043312 [T12, T14]; RS0043603 [T2, T8]).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)