European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0030OB00137.17V.0830.000
Spruch:
1. Der Revisionsrekurs wird, soweit er sich gegen die bestätigende Entscheidung des Rekursgerichts bezüglich Punkt 2. des erstgerichtlichen Beschlusses richtet, zurückgewiesen.
2. Im Übrigen wird der Revisionsrekurs mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Das Erstgericht trug den Eltern in dem anhängigen Obsorgeverfahren die Inanspruchnahme einer Erziehungsberatung im Ausmaß von jeweils mindestens 20 Wochenstunden innerhalb eines Zeitraums von vier Monaten auf. Der Mutter trug es überdies die Absolvierung eines Anti‑Agressionstrainings im Ausmaß von mindestens acht Stunden pro Monat und insgesamt 50 Stunden auf.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Es verneinte unanfechtbar (RIS‑Justiz RS0030748 [T5]) die gerügte Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens und übernahm die erstgerichtlichen Tatsachenfeststellungen. Der an den Vater erteilte Auftrag ist in Rechtskraft erwachsen.
Die Mutter bekämpft die ihr erteilten Aufträge mit außerordentlichem Revisionsrekurs.
Rechtliche Beurteilung
1. Soweit der Revisionsrekurs den Auftrag zur Inanspruchnahme von Erziehungsberatung anficht, ist er unzulässig:
Die Mutter legte am 30. Juni 2017 (ON 151) eine Urkunde vor, aus der sich ergibt, dass sie 20 Stunden an Erziehungsberatung in Anspruch nahm.
Nach ständiger Rechtsprechung setzt jedes Rechtsmittel eine Beschwer voraus, weil es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, rein theoretische Fragen zu entscheiden (Kodek in Rechberger, ZPO4 Vor § 461 Rz 9 mwN). Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist nicht nur die formelle, sondern auch die materielle Beschwer (RIS‑Justiz RS0041868; RS0006497; Zechner in Fasching/Konecny IV/I2 Vor §§ 514 ff ZPO Rz 66 mwN). Sie liegt vor, wenn der Rechtsmittelwerber in seinem Rechtsschutzbegehren durch die angefochtene Entscheidung beeinträchtigt wird, er also ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RIS‑Justiz RS0041746; RS0043815). Ist das nicht der Fall, ist das Rechtsmittel auch dann zurückzuweisen, wenn die Entscheidung formal vom Antrag abweicht (RIS‑Justiz RS0041868 [T14, T15]). Das Rechtsschutzbedürfnis muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel gegeben sein (RIS‑Justiz RS0043815 [T27]; RS0006497 [T36]; zu allem jüngst: 3 Ob 103/17v).
Im vorliegenden Fall ist die Beschwer bezüglich des Auftrags zur Inanspruchnahme einer Erziehungsberatung weggefallen: Dieser mit dem Revisionsrekurs bekämpfte Auftrag entfaltet infolge seiner Befolgung durch die Mutter für die Zukunft keinerlei Rechtswirkungen. Eine Überprüfung der Rekursentscheidung könnte daher nur noch von theoretischem Interesse sein, weil sie auf die Rechtssphäre der Mutter keinen Einfluss mehr hat.
In diesem Punkt ist daher der Revisionsrekurs als unzulässig zurückzuweisen.
2. Im Übrigen zeigt der außerordentliche Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage auf:
2.1 Im Mittelpunkt des Revisionsrekurses steht der Vorwurf, das Anti-Aggressionstraining sei aufgetragen worden, ohne die Gutachten im Obsorgeverfahren abzuwarten. Ob sich die Mutter überhaupt aggressiv verhalten habe, sei erst nach Durchführung des gesamten Beweisverfahrens endgültig zu klären. Der zuvor erteilte Auftrag zur Absolvierung eines Anti-Aggressionstrainings konterkariere das Verfahren.
Dabei übersieht die Mutter, dass die Verpflichtung zur Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training obsorgerechtliche Maßnahmen gegen einen Elternteil der zu Aggressionen neigt, verhindern kann,. Gerade dieser Zweck gebietet eine frühzeitige Anordnung im Verfahren (Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG, § 107 Rz 23). Warum die von der Erstrichterin beauftragten Sachverständigengutachten, die insbesondere zur Klärung der Erziehungskompetenz der Eltern beitragen sollen, durch ein von der Mutter zu absolvierendes Anti-Aggressionstraining konterkariert werden könnten, ist nicht ersichtlich.
2.2 Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG sind besondere Verfahrensregelungen zur Sicherung des Kindeswohls, wobei eine Gefährdung des Kindeswohls nicht Voraussetzung ist. Das Gericht hat dabei den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren. Die angeordnete Maßnahme muss zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich und geeignet sein. Außerdem darf der damit verbundene Eingriff in das Privatleben der betroffenen Person nicht außer Verhältnis zu der damit intendierten Förderung der Interessen des Kindes stehen (EB zur RV 2004 BlgNR 24. GP 39; 4 Ob 139/14s; 9 Ob 17/16i).
2.3 Nach den Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen, die durch den Hinweis auf ein angebliches Negieren von Beweisergebnissen im Revisionsrekurs nicht bekämpft werden können (RIS‑Justiz RS0108449), steht für den Obersten Gerichtshof bindend fest, dass die Mutter gegenüber dem Vater, aber auch gegenüber den Kindern immer wieder gewalttätig wurde, wobei sich ihr aggressives Verhalten ab dem Jahr 2015 steigerte. Schläge, Schubse, Rempler und Ohrfeigen kamen laufend vor. Überdies beschimpfte sie Vater und Kinder aggressiv und drohte den Kindern verbal. Dieses Verhalten der Mutter führte auch schon zur Erlassung einer einstweiligen Verfügung, womit der Mutter ua das Verlassen der ehelichen Wohnung aufgetragen und ein Rückkehrverbot erlassen wurde.
Der Auftrag zur Absolvierung eines Anti-Aggressionstrainings im Ausmaß von insgesamt 50 Stunden verletzt unter diesen konkreten Umständen des Einzelfalls (RIS‑Justiz RS0130780) keine leitenden Grundsätze der Rechtsprechung zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sondern ist jedenfalls vertretbar.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)