OGH 4Ob139/14s

OGH4Ob139/14s17.9.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen M***** H*****, in Pflege und Erziehung seiner Mutter N***** H*****, vertreten durch MMag. Dr. Susanne Binder‑Novak, Rechtsanwältin in St. Pölten, über den Revisionsrekurs des Vaters M***** E*****, vertreten durch Dr. Michéle Grogger‑Endlicher, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 21. Mai 2014, GZ 23 R 210/14a‑184, womit der Beschluss des Bezirksgerichts St. Pölten vom 4. April 2014, GZ 3 PS 110/10k‑176, ersatzlos aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0040OB00139.14S.0917.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Der Minderjährige lebt seit der Trennung seiner Eltern durchgehend im Haushalt seiner Mutter. Seit Jahren gibt es keine Kontakte des Minderjährigen zu seinem Vater. Die Einstellung des Sohnes gegenüber seinem Vater verschlechterte sich im Laufe der Jahre zu einer mittlerweile auf seinem freien und unbeeinflussten Willen beruhenden Ablehnung. Seit August 2011 befindet sich der Sohn in Psychotherapie, die regelmäßig wöchentlich stattfindet. Der Therapeut sprach sich gegen eine Kontaktanbahnung zum Vater aus und bestätigte die Angstzustände des Sohnes.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Mutter bewusst die Ängste des Sohnes herbeigeführt oder ihm zugeredet hätte, den Vater abzulehnen. Sie hat aber die Ängste des Sohnes, die auf den tatsächlichen Wahrnehmungen und dem Verhalten des Vaters beruhten, durch ihr Verhalten begünstigt und noch verstärkt. Sie hat ihre eigenen Ängste und Sorgen, die Ergebnis ihrer eigenen Wertung des Verhaltens des Vaters während aufrechter Beziehung waren, auf den Sohn projiziert und ihm damit auch vermehrt ein negatives Bild vom Vater vermittelt, obwohl dies der Sohn selbst aufgrund seiner eigenen Erfahrungen nicht hatte. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Mutter dies bewusst getan hätte, um eine Entfremdung zwischen dem Sohn und dem Vater herbeizuführen. Sie hat vielmehr dem Sohn trotzdem zugeredet, die Kontakte wahrzunehmen, auch wenn diese Erklärungen offenkundig in einem Widerspruch zu ihrer übrigen Haltung dem Vater gegenüber standen.

Tatsächlich fanden die Kontakte immer seltener statt, zwischen 20. Jänner und 5. April 2009 gab es keine Besuchskontakte, später kam es noch zu einem Zusammentreffen des Sohnes mit seinem Vater anlässlich der Befunderhebung bei der Sachverständigen am 17. Oktober 2009 sowie am 5. Jänner 2011, als der Vater unangekündigt zum Geburtstag des Sohnes zu ihm nach Hause kam. Der Sohn reagierte ängstlich, lief davon und rief dem Vater zu, er solle verschwinden.

Dieser für die kindliche Entwicklung ungünstigen Entwicklung (mangelnder Kontakt zum leiblichen Vater) kann einerseits durch die Weiterführung der bereits stattfindenden Psychotherapie des Sohnes, andererseits auch durch eine gemeinsame Therapie von Mutter, Vater und Sohn begegnet werden. Der Sohn ist ausreichend stabil, um sich im geschützten Umfeld einer Therapie, im Beisein seiner Mutter und auch eines Therapeuten einen Kontakt mit dem Vater zu stellen.

Mit Beschluss vom 22. März 2014 wies das Erstgericht den Antrag des Vaters auf Verhängung von Beugemitteln über die Mutter zur Durchsetzung der gerichtlich geregelten Besuchszeiten sowie einen Ferienbesuchsantrag (jeweils vom 14. April 2009) sowie den Antrag des Vaters ab, der Mutter die Obsorge für den Sohn zu entziehen, und setzte die Besuchskontakte des Vaters aus.

Am 4. April 2014 trug das Erstgericht beiden Eltern auf, eine Familientherapie unter Einbeziehung beider Elternteile und des Minderjährigen, allenfalls begleitet durch eine Mediation, bei einer bestimmten Therapeutin, die sich zur Übernahme der Familientherapie in diesem Verfahren auch grundsätzlich bereit erklärt hat, in Anspruch zu nehmen und die Durchführung eines Erstgesprächs bis 1. Juni 2014 nachzuweisen. Es sei auch der weitere Therapieverlauf durch Bestätigung der genannten Therapeutin in dreimonatigen Abständen nachzuweisen; schließlich wurde der Mutter im Fall der Nichtbeachtung oder Nichtumsetzung der ihr aufgetragenen Sicherstellung der Mitwirkung des Sohnes an dieser Therapie eine Beugestrafe in Höhe von 300 EUR angedroht.

Das Rekursgericht hob diesen Beschluss über Rekurs der Mutter ersatzlos auf und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels einheitlicher und gesicherter Rechtsprechung zu derartigen Maßnahmen zulässig sei.

Maßnahmen, die auch im weitesten Sinn weder mit der Beratung noch der Streitschlichtung oder der Verhinderung einer Verbringung eines Kindes ins Ausland vergleichbar seien, seien unzulässig, auch wenn sie grundsätzlich der Sicherung des Kindeswohls dienten, weil sie über den vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmen des § 107 Abs 3 AußStrG hinausgingen. Die gerichtliche Anordnung einer Psychotherapie, auch die hier zu beurteilende Familientherapie sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensparteien. Weder § 181 ABGB noch § 107 Abs 3 AußStrG könnten dafür eine hinreichende Rechtsgrundlage sein.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters, mit dem er die Wiederherstellung der erstgerichtlichen Anordnung der Familientherapie, allenfalls begleitet durch eine Mediation, anstrebt, ist aus den vom Rekursgericht genannten Gründen zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Der vom Revisionsrekurswerber geltend gemachte Nichtigkeitsgrund iSd § 477 Abs 1 Z 9 ZPO, der dem in § 57 Z 1 AußStrG genannten Verfahrensmangel entspricht, liegt nicht vor. Der Spruch der rekursgerichtlichen Entscheidung steht mit sich selbst nicht in Widerspruch, die Begründung ist nachvollziehbar und überprüfbar.

2. Die geltend gemachte Aktenwidrigkeit liegt nicht vor. Die Feststellungsgrundlage ist entgegen den Revisionsrekursausführungen zureichend (die geltend gemachten Feststellungsmängel liegen nicht vor), weil die zu lösenden Rechtsfragen (Dringlichkeit der Maßnahme, Zulässigkeit der Maßnahme, gelindestes in Frage stehendes Mittel) aufgrund des festgestellten Sachverhalts beantwortet werden können.

3. Die vom Erstgericht angeordnete Familientherapie, allenfalls begleitet durch eine Mediation, kann nicht nach § 107 Abs 3 AußStrG angeordnet werden.

Nach § 107 Abs 3 AußStrG (in der hier anzuwendenden, mit 1. Februar 2013 in Kraft getretenen Fassung gemäß dem Kindschafts‑ und Namenrechts‑Änderungsgesetz 2013, BGBl I 2013/15) hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls erforderlichen Maßnahmen anzuordnen, soweit dadurch nicht Interessen einer Partei, deren Schutz das Verfahren dient, gefährdet oder Belange der übrigen Parteien unzumutbar beeinträchtigt werden. Als derartige Maßnahmen kommen insbesondere in Betracht

1. der verpflichtende Besuch einer Familien‑, Eltern‑ oder Erziehungsberatung;

2. die Teilnahme an einem Erstgespräch über Mediation oder über ein Schlichtungsverfahren;

3. die Teilnahme an einer Beratung oder Schulung zum Umgang mit Gewalt und Aggression;

4. das Verbot der Ausreise mit dem Kind und

5. die Abnahme der Reisedokumente des Kindes.

Mit § 107 Abs 3 AußStrG wurde der Katalog der dem Pflegschaftsgericht zur Sicherung des Kindeswohls zur Verfügung stehenden Maßnahmen nicht nur klargestellt, sondern ‑ jedenfalls im Verhältnis zur jüngeren höchstgerichtlichen Rechtsprechung ‑ deutlich erweitert (EB zur RV, 2004 BlgNR 24. GP  38). Dabei sollen nach dem Willen des Gesetzgebers bei inhaltlich unverändertem § 176 Abs 1 ABGB aF, nunmehr § 181 Abs 1 ABGB nF, mit einer ‑ verfahrensrechtlichen ‑ Norm, nämlich § 107 Abs 3 AußStrG, (auch) materiell‑rechtlich wirkende Eingriffe in die Persönlichkeits‑ und Obsorgerechte der Eltern ermöglicht werden (9 Ob 53/13d mwN).

Die in § 107 Abs 3 AußStrG geregelten Maßnahmen dienen der Sicherung des Kindeswohls. Dieses ist nunmehr in § 138 ABGB mit einer ausführlichen Liste von (nur demonstrativ aufgezählten) „leitenden Gesichtspunkten“ beschrieben. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist nicht Voraussetzung; ebensowenig müssen sie ultima ratio zur Sicherung des Kindeswohls sein, sodass sie erst nach Ausschöpfung anderer Maßnahmen zulässig wären. Allerdings muss das Gericht hier stets den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. Die angeordnete Maßnahme muss zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich und geeignet sein. Außerdem darf der damit verbundene Eingriff in das Privatleben der betroffenen Person nicht außer Verhältnis zu der damit intendierten Förderung der Interessen des Kindes stehen (EB zur RV, 2004 BlgNR 24. GP  39).

Die Anordnung anderer als in § 107 Abs 3 Z 1 bis 5 AußStrG angeordneter Maßnahmen ist angesichts ihrer demonstrativen Aufzählung zulässig. Auch sind alle Parteien des Verfahrens Adressaten dieser Bestimmung, weil nur dadurch sichergestellt ist, dass das Kindeswohl umfassend gesichert werden kann. Durch die Maßnahmen dürfen aber ‑ so § 107 Abs 3 AußStrG ausdrücklich ‑ weder die Interessen einer Partei, deren Schutz das Verfahren dient, gefährdet noch die Belange der übrigen Parteien unzumutbar beeinträchtigt werden. So wird etwa in der Lehre die Feststellung eines Kinderbeistands, eines Besuchsmittlers oder die Anordnung einer Besuchsbegleitung als mögliche im Einzelfall vom Gericht anzuordnende Maßnahmen angesehen (9 Ob 53/13d mwN).

Die nach dem Gesetzeswortlaut äußerst weitgehende Möglichkeit des Einsatzes von Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG ist im Einzelfall zu begrenzen. Andere geeignete Maßnahmen iSd § 107 Abs 3 AußStrG müssen daher sowohl nach ihrer Art und ihrem Umfang, aber auch in ihrer Qualität den gesetzlich angeordneten Maßnahmen gleichwertig sein. Die gesetzlich angeführten Maßnahmen betreffen solche, die (im weiteren Sinn) der Beratung (Z 1 und 3), der Streitschlichtung (Z 2) oder der Verhinderung einer (unzulässigen) Verbringung eines Kindes ins Ausland (Z 4 und 5) dienen sollen. Nur in diesem Rahmen können sich daher die vom Gericht angeordneten Maßnahmen bewegen (9 Ob 53/13d).

Zu 9 Ob 53/13d verneinte der Oberste Gerichtshof die Möglichkeit, der Mutter gemäß § 107 Abs 3 AußStrG aufzutragen, in ein Mutter‑Kind‑Heim zu ziehen. Die dort vom Erstgericht ebenfalls aufgetragene Psychotherapie war nicht Gegenstand der Überprüfung, weil dieser Auftrag nicht bekämpft war.

Vom Gesetz ausdrücklich genannte Maßnahmen sind der Besuch einer Familien‑, Eltern‑ oder Erziehungsberatung (Z 1) sowie die Teilnahme an einem Erstgespräch über Mediation oder ein Schlichtungsverfahren (Z 2). Von einer „Zwangsmediation“ der Eltern distanzierte sich der Gesetzgeber hingegen, weil er eine solche mit der Grundidee der Mediation („Verführung zum konstruktiven Miteinander“) nicht vereinbar sei (2004 BlgNR 24. GP  38). Dies legt nahe, eine zwangsweise psychotherapeutische Behandlung, die einen noch wesentlich massiveren Eingriff in die Persönlichkeit des Betroffenen bildet, als vom gesetzgeberischen Willen nicht gedeckt anzusehen (vgl LGZ Wien 44 R 489/13g = iFamZ 2013/24 [ Gabriele Thoma‑Twaroch ]). Psychotherapie darf gemäß § 14 Abs 3 PsychotherapieG nur mit Zustimmung des Behandelten ausgeübt werden. Dies korrespondiert mit dem Recht des Einzelnen zu entscheiden, welchen Therapeuten in welcher Lebensphase er welche persönlichen Einstellungen, Erfahrungen und Ängste offenlegen will ( Beck , Auftrag zur Psychotherapie?, EF‑Z 2014/75, 123 [124]; in diesem Sinne auch dBVervG, 1 BvR 1572/10 Rz 15; vgl auch Thunhart , Können Eltern gegen ihren Willen zur Zusammenarbeit mit außergerichtlichen Institutionen gezwungen werden?, iFamZ 2011, 139).

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass nach § 107 Abs 3 AußStrG die Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer Beratung oder Schulung (vgl Beratung oder Schulung zum Umgang mit Gewalt und Aggression, Z 3) oder zur Information über alternative Formen der Streitbeilegung (Mediation oder Schlichtungsverfahren, Z 2) ausgesprochen werden kann, nicht aber die Verpflichtung zur Teilnahme an der Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mit wissenschaftlich‑psychotherapeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einem oder mehreren Behandelten und einem oder mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern (§ 1 Abs 1 PsychotherapieG).

4. Selbst wenn man Eltern und Kind umfassende Familientherapie als gleichwertige Maßnahme iSd § 107 Abs 3 AußStrG ansehen würde, ist die hier zu prüfende Anordnung weder zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich oder auch nur zweckmäßig, wenn man berücksichtigt, dass der 13‑jährige Minderjährige die Teilnahme an der Familientherapie und überdies die vom Erstgericht ausgewählte Therapeutin die Behandlung ablehnt (sie sieht die „zwangsweise“ Einbeziehung des Minderjährigen als nicht lege artis an; Mitteilung vom 20. Mai 2014, ON 180).

Dem Revisionsrekurs musste daher ein Erfolg versagt bleiben.

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