European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0030OB00122.21V.0901.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Das Rekursgericht bestätigte den Beschluss des Erstgerichts, mit dem den Eltern die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung über die Minderjährige entzogen und diese dem Land Wien (Magistrat der Stadt Wien, MA 11 für den 3. Bezirk, *****) als Träger der Kinder- und Jugendhilfe übertragen wurde.
Rechtliche Beurteilung
[2] Mit dem dagegen erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine erhebliche Rechtsfrage auf.
[3] 1. Die behaupteten sekundären Feststellungsmängel liegen – wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat – nicht vor. Die Vorinstanzen haben den relevanten Sachverhalt umfassend erhoben. Bei der Rüge der Mutter handelt es sich im Wesentlichen um eine Gegendarstellung. Daraus lässt sich keine unvollständige Tatsachengrundlage ableiten.
[4] 2.1 § 211 Abs 1 zweiter Satz ABGB verpflichtet den Kinder- und Jugendhilfeträger im Bereich von Pflege und Erziehung im Fall von Gefahr in Verzug, die zur Gefahrenabwendung erforderlichen Maßnahmen mit vorläufiger Wirkung bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst zu treffen. In der Folge hat er unverzüglich die gerichtliche Entscheidung nach § 181 ABGB zu beantragen (8 Ob 80/17y).
[5] 2.2 Nach § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und an den Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete sichernde oder unterstützende Maßnahmen treffen. Eine Änderung der Obsorgeverhältnisse ist nur als ultima ratio unter Anlegung eines strengen Maßstabs zulässig und sie darf nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung notwendig ist (RS0048712). Bei der Anordnung von Maßnahmen im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen (RS0048736).
[6] Ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung erfüllt sind und eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, hängt letztlich von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage (RS0115719).
[7] 2.3 Im Anlassfall waren aufgrund der Familiensituation mehrere Polizeieinsätze und Gefährdungsabklärungen notwendig. Die Minderjährige kennt keine Grenzen, will ihre eigenen Entscheidungen treffen und lehnt nicht nur den Schulbesuch, sondern auch jede Art von Betreuung und Unterstützung ab. Die Ursache für diese Problematik besteht im familiären Umfeld und im Verhalten der Mutter, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsproblematik mit der Minderjährigen und der Betreuungssituation überfordert ist, die Bedürfnisse der Minderjährigen nicht wahrnehmen und ihre kindgerechte Entwicklung nicht fördern kann. Der Mutter mangelt es an der Erziehungsfähigkeit sowie an der Kooperationsfähigkeit mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger und der Wohngemeinschaft, weshalb sie sich auch nicht an Abmachungen mit diesen Institutionen hält.
[8] Die vom Kinder- und Jugendhilfeträger dargelegte Gefährdung des Kindeswohls bei Pflege und Erziehung durch die Mutter hat sich bewahrheitet. Die Beurteilung der Vorinstanzen, wonach die Voraussetzungen für die Entziehung der Obsorge gegeben sind, hält sich im Rahmen der Rechtsprechungsgrundsätze. Entgegen der Ansicht der Mutter ist der Anlassfall nicht „zu wenig gravierend“.
[9] 2.4 Die Vorinstanzen haben sich auch mit den zukünftigen Entwicklungen beschäftigt. In diesem Sinn haben sie dargelegt, dass die Mutter aufgrund ihrer Persönlichkeitsproblematik (nachhaltig) nicht in der Lage ist, sich gegen den Willen des Kindes durchzusetzen und aufgrund ihrer mangelnden Kooperationsfähigkeit sogar Rückführungsversuche gescheitert sind. Zudem haben sie festgehalten, dass aufgrund der Persönlichkeitsproblematik der Mutter selbst der Erfolg einer Erziehungsberatung fraglich ist.
[10] 3. Die persönliche Anhörung des Kindes nach § 105 AußStrG soll diesem eine unbeeinflusste Meinungsäußerung (hier) zur Obsorgefrage ermöglichen. Der Wunsch der Minderjährigen ist bei der Obsorgezuteilung zu berücksichtigen, wobei einem mündigen Kind nicht gegen seinen Willen die Erziehung durch einen Elternteil aufgezwungen werden soll (RS0048818). Der Wille des Kindes kann aber auch nicht allein den Ausschlag geben (RS0048981). Vielmehr ist er als Verfahrensergebnis in eine alle maßgebenden Umstände berücksichtigende Entscheidung einzubeziehen (vgl 7 Ob 18/19a mwN).
[11] Die Vorinstanzen haben auch diese Grundsätze berücksichtigt. Dabei haben sie darauf Bedacht genommen, dass sich die Mutter gegen den Willen der Minderjährigen nicht durchsetzen kann und ihre Entscheidung, nicht in die Schule zu gehen, akzeptiert und dadurch die für die geistige und seelische Entwicklung schädliche Einstellung und Verhaltensweise des Kindes sogar fördert. Demgegenüber wird im Rahmen der Wohngemeinschaft die Verweigerung des Schulbesuchs nicht einfach hingenommen, sondern besteht das Bemühen, im Rahmen des Projekts „Extended Soulspace“ für die Minderjährige eine geeignete Unterrichtsform zu finden. Davon ausgehend bewegt sich auch die Beurteilung der Vorinstanzen, dass dem Wunsch des Kindes durch regelmäßige Aufenthalte im Haushalt der Mutter über die Wochenenden angemessen Rechnung getragen wird, innerhalb des ihnen zukommenden Ermessensspielraums.
[12] 4. Mangels Aufzeigens einer erheblichen Rechtsfrage war der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen.
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