OGH 2Ob617/88

OGH2Ob617/8810.1.1989

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik, Dr.Vogel, Dr.Melber und Dr.Kropfitsch als Richter in der Pflegschaftssache betreffend die mj.Karla Z***, geboren am 22.August 1972, Margit Z***, geboren am 5.Mai 1975, Philipp Z***, geboren am 2.Oktober 1981 und Therese Z***, geboren am 29.Mai 1984, infolge Revisionsrekurses der Mutter Inge Z***, Hausfrau, ErzherzogJohann-Straße 5, 8130 Frohnleiten, vertreten durch Dr.Guido Held, Rechtsanwalt in Graz, und des Vaters Dr.Wolfgang Z***, Hoechster Straße 16, D-4370 Marl, Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Dr.Manfred Thorineg, Rechtsanwalt in Graz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgerichtes vom 21. November 1988, GZ 1 R 445/88-11, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Frohnleiten vom 9.September 1988, GZ P 69/88-4, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs des Vaters wird ebenso wie die vom Vater zum Revisionsrekurs der Mutter erstattete Rekursbeantwortung zurückgewiesen.

Dem Revisionsrekurs der Mutter wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird hinsichtlich der Kinder Karla und Margit dahin abgeändert, daß auch in diesem Umfang die Entscheidung des Erstgerichtes aufgehoben und dem Erstgericht die Einleitung des gesetzlichen Verfahrens aufgetragen wird.

Text

Begründung

Karla, Margit, Philipp und Therese Z*** sind eheliche Kinder des Dr.Wolfgang und der Inge Z***, die am 25.September 1971 die Ehe geschlossen haben. Eltern und Kinder sind österreichische Staatsangehörige. Sie lebten bis Juni 1988 gemeinsam in der Ehewohnung in Marl, Hoechster Straße 16, in der Bundesrepublik Deutschland. Die Mutter verließ im Juni 1988 mit den beiden jüngeren Kindern diese Ehewohnung und lebt seither mit ihnen in Frohnleiten, Erzherzog-Johann-Straße 5. Zwischen den Eltern ist ein Scheidungsverfahren anhängig.

Kurz nach den Auszug seiner Ehefrau mit den beiden jüngeren Kindern aus der Ehewohnung beantragte der Vater beim Amtsgericht Marl die Übertragung des Sorgerechtes für alle vier Kinder an ihn. Eine Entscheidung darüber ist nach der Aktenlage bisher nicht erfolgt.

Am 28.Juli 1988 langte ein Antrag der Mutter beim Erstgericht ein, ihr hinsichtlich aller vier Kinder die aus den familienrechtlichen Beziehungen erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) allein zu übertragen. Sie begründete diesen Antrag im wesentlichen damit, daß der Vater zu einer ordnungsgemäßen Obsorge für die Kinder nicht in der Lage sei und den Kindern gegenüber ein solches Verhalten an den Tag lege, daß ihr Wohl die Übertragung des Sorgerechtes an die Mutter erfordere. Das Erstgericht wies diesen Antrag der Mutter wegen örtlicher Unzuständigkeit zurück. Es begründete seine Entscheidung im wesentlichen damit, daß beide Eltern ihren allgemeinen Gerichtsstand vor dem Amtsgericht Marl hätten und daß auch die Kinder diesen Gerichtsstand teilten. Zuständig zur Entscheidung über den Antrag der Mutter sei daher das Amtsgericht Marl. Der Antrag der Mutter sei somit wegen örtlicher Unzuständigkeit zurückzuweisen. Dem gegen diese Entscheidung des Erstgerichtes gerichteten Rekurs der Mutter gab das Rekursgericht mit dem angefochtenen Beschluß teilweise Folge. Es bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes hinsichtlich der Kinder Karla und Margit "mit der Maßgabe", daß es den Antrag der Mutter in diesem Umfang mangels inländischer Gerichtsbarkeit zurückwies. Im übrigen (also hinsichtlich der Kinder Philipp und Therese) hob es die Entscheidung des Erstgerichtes auf; in diesem Umfang trug es dem Erstgericht die Einleitung des gesetzmäßigen Verfahrens auf.

Das Rekursgericht führte im wesentlichen aus, maßgebend seien die Vorschriften des Haager Minderjährigenschutzabkommens. Sowohl Österreich als auch die Bundesrepublik Deutschland seien Vertragsstaaten. Die Regelung hinsichtlich der Obsorge von Kindern bei Getrenntleben der Eltern stelle eine Maßnahme zum Schutz der Person des Minderjährigen dar. Art 1 MSA sehe eine internationale Zuständigkeit der Behörden des Staates vor, in dem sich der gewöhnliche Aufenthalt des Minderjährigen befinde; daneben bestehe ein Kompetenzvorrang des Heimatstaates, weshalb beide Zuständigkeiten nebeneinander bestehen könnten.

Da sich die mj.Karla und die mj.Margit nach wie vor in der Bundesrepublik Deutschland bei ihrem Vater aufhielten und nach dem Akteninhalt Maßnahmen nach Art 4 MSA zu ihrem Schutz durch die Behörden des Heimatstaates (Österreich) nicht erforderlich seien, fehle es diesbezüglich an der inländischen Gerichtsbarkeit, sodaß das Erstgericht im Ergebnis mit Recht hinsichtlich dieser beiden Kinder ein Einschreiten abgelehnt habe.

Hinsichtlich des mj.Philipp und der mj.Therese sei davon auszugehen, daß diese beiden Kinder nunmehr ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hätten. Hinsichtlich dieser beiden Kinder sei die internationale Zuständigkeit des Erstgerichtes nach Art 1 MSA gegeben. Auch bei bereits getroffenen Maßnahmen durch das Amtsgericht Marl hätte hinsichtlich dieser beiden Kinder zufolge des eingetretenen Wechsels in ihrem gewöhnlichen Aufenthalt Art 5 MSA zur Anwendung zu gelangen und wäre nach dieser Bestimmung das Erstgericht berechtigt, nach Rücksprache im unmittelbaren Verkehr mit dem Amtsgericht Marl dessen allenfalls bereits getroffene Maßnahmen aufzuheben oder durch andere zu ersetzen. Gegen diese Entscheidung des Rekursgerichtes richten sich die Revisionsrekurse der Mutter und des Vaters. Die Mutter bekämpft sie nur im Umfang der hinsichtlich der Kinder Karla und Margit getroffenen Anordnung mit dem Antrag, die Entscheidung des Rekursgerichtes in diesem Umfang dahin abzuändern, daß auch hinsichtlich der Kinder Karla und Margit dem Erstgericht die Einleitung des gesetzmäßigen Verfahrens aufgetragen werde; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag. Der Vater bekämpft die Entscheidung des Rekursgerichtes im Umfang der hinsichtlich der Kinder Philipp und Therese getroffenen Anordnung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluß in diesem Umfang im Sinne der Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes abzuändern. Der Vater hat zum Revisionsrekurs der Mutter eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag erstattet, dieses Rechtsmittel der Mutter ab- bzw zurückzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters ist verspätet. Die Entscheidung des Rekursgerichtes wurde seinem Vertreter am 29.November 1988 zugestellt; der Revisionsrekurs des Vaters wurde am 23. Dezember 1988, also nach Ablauf der im § 14 Abs 1 AußStrG normierten vierzehntägigen Rechtsmittelfrist zur Post gegeben. Eine Berücksichtigung dieses verspäteten Rechtsmittels im Sinne des § 11 Abs 2 AußStrG kommt nicht in Betracht. Die hinsichtlich der Kinder Philipp und Therese gefällte Entscheidung des Rekursgerichtes ist nicht nur, wie sich aus den folgenden Rechtsausführungen zum Revisionsrekurs der Mutter ergibt, sachlich richtig; sie läßt sich auch nicht ohne Nachteil der Mutter, nämlich ohne Eingriff in die mit dieser Entscheidung der Mutter eingeräumten prozessualen Rechte, abändern.

Der Revisionsrekurs des Vaters ist daher als verspätet zurückzuweisen.

Auch die vom Vater erstattete Rekursbeantwortung ist als unzulässig zurückzuweisen, weil im Verfahren außer

Streitsachen - abgesehen von hier nicht zur Anwendung kommenden Sonderbestimmungen - eine Rekursbeantwortung nicht vorgesehen ist (7 Ob 652/86; 2 Ob 525/87 ua).

Bei der Entscheidung des Rekursgerichtes im Umfang der Anfechtung durch die Mutter handelt es sich um keine bestätigende Entscheidung im Sinne des § 16 Abs 1 AußStrG, weil das Erstgericht den Antrag der Mutter wegen örtlicher Unzuständigkeit zurückwies, das Rekursgericht aber in diesem Umfang das Vorliegen der inländischen Gerichtsbarkeit verneinte. Damit wurde trotz der "Maßgabebestätigung" des erstgerichtlichen Beschlusses sein Inhalt derart verändert, daß nicht vom Vorliegen einer bestätigenden Entscheidung ausgegangen werden kann (RZ 1972, 185; EFSlg 18.995 uva; zuletzt etwa 5 Ob 17/87, 7 Ob 26/87). Die Mutter ist daher bei der Bekämpfung der Entscheidung des Rekursgerichtes in diesem Umfang nicht auf die im § 16 Abs 1 AußStrG normierten Anfechtungsgründe beschränkt.

Auch sachlich ist ihr Revisionsrekurs im Ergebnis berechtigt. Österreich hat sich gemäß Art 13 Abs 3 MSA vorbehalten, die Anwendung des Übereinkommens auf Minderjährige zu beschränken, die einem der Vertragsstaaten angehören. Die mj.Karla und die mj.Margit sind österreichische Staatsangehörige und haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland; diese ist ebenso wie Österreich Vertragsstaat. Die Anwendbarkeit des MSA blieb sowohl vom Inkrafttreten des IPRG unberührt (§ 53 IPRG) als auch vom Inkrafttreten der Bestimmungen der ZVN 1983 (insbesondere § 110 JN;

vgl EB zur RV 669 BlgNR 15.GP zu § 110 JN, Punkt 5; EFSlg 46.583;

EFSlg 49.230; 8 Ob 653/87 ua).

Das MSA hat eine "Verteilung der Zuständigkeiten" für Schutzmaßnahmen auf den Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes (Art 1 und 2) und auf den Heimatstaat (Art 4) geschaffen, welche Zuständigkeiten nebeneinander bestehen.

Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat (EvBl 1978/128; 8 Ob 653/87 ua), erfaßt der Sachanwendungsbereich des MSA alle Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen (Art 1, 2 und 4 MSA). Da als derartige Maßnahmen alle schützenden Eingriffe und regelnden Maßnahmen mit Gestaltungscharakter zur Wahrung und Förderung des Kindeswohls zu werten sind, gehört dazu auch die Regelung der Obsorge für Kinder bei Getrenntleben der Eltern (EvBl 1988/120 ua).

Nach Art 1 MSA sind die Behörden des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 3, 4 und 5 Abs 3 dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Nach Art 4 Abs 1 MSA können die Behörden des Staates, dem der Minderjährige angehört, wenn es nach ihrer Auffassung das Wohl des Minderjährigen erfordert, nach ihrem eigenen Sachrecht Schutzmaßnahmen treffen, nachdem sie die Behörden jenes Staates verständigt haben, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Schutzmaßnahmen der Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes hindern den Heimatstaat nicht (Art 4 Abs 4 MSA); sie fallen höchstens bei der Prüfung der Erforderlichkeit ins Gewicht. Die Maßnahmen der Heimatbehörden verdrängen jene der Behörden am gewöhnlichen Aufenthaltsort (Art 4 Abs 4, Art 5 Abs 3 MSA) und schließen für die Zeit ihrer Dauer (mit Ausnahme der Gefährdungszuständigkeit nach Art 8 MSA) auch die weitere Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthaltes aus (Art 1 MSA). Es besteht daher ein ganz eindeutiger Vorrang der Heimatbehörden (Schwiemann in JBl 1976, 241; SZ 55/153; 8 Ob 653/87 ua).

Im vorliegenden Fall wird durch die Tatsache, daß die mj.Karla und die mj.Margit ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, die Zuständigkeit der Gerichte des Heimatstaates nicht beseitigt. Sie bleiben vielmehr gemäß Art 4 Abs 1 MSA international zuständig, wenn das Wohl dieser Kinder Schutzmaßnahmen erfordert. Art 4 Abs 1 MSA stellt das Eingreifen der Heimatbehörden in deren pflichtgebundenes Ermessen; allerdings sind Maßnahmen erst nach Verständigung der Behörden des Staates zu treffen, in dem die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Die Heimatbehörde muß sich dabei vom Gesichtspunkt des Kindeswohls leiten lassen. Derartige Maßnahmen der Heimatbehörde, also des österreichischen Pflegschaftsgerichtes, werden insbesondere dann in Betracht kommen, wenn für die Kinder während eines anhängigen Scheidungsverfahrens der Eltern eine Sorgerechtsregelung zu treffen ist (vgl EvBl 1988/120 mwN).

Da im vorliegenden Fall eine derartige Sorgerechtsregelung durch ein Gericht in der Bundesrepublik Deutschland nach der Aktenlage bisher nicht getroffen wurde, erfordert es das Wohl der Kinder, den Streit zwischen den Eltern darüber, wem das Sorgerecht auch hinsichtlich der mj.Karla und der mj.Margit zukommt, möglichst rasch zu beenden, zumal dann, wenn eine Veränderung des Aufenthaltsortes der Kinder erforderlich sein sollte, damit nicht zu lange zugewartet werden darf (vgl. EvBl 1988/120). Dazu kommt noch, daß den vorgetragenen Einwänden der Mutter gegen die Ausübung der Obsorge für diese Kinder durch den Vater nicht von vornherein ohne jede tatsächliche Grundlage die Berechtigung aberkannt werden kann. Es kann daher entgegen der vom Rekursgericht vertretenen Meinung nicht von vornherein gesagt werden, daß das Wohl dieser beiden Kinder ein Einschreiten des österreichischen Pflegschaftsgerichtes nicht erfordere.

Unter diesen Umständen kann aber auch hinsichtlich der mj.Karla und der mj.Margit das Vorliegen der inländischen Pflegschaftsgerichtsbarkeit nicht verneint werden. Das Erstgericht wird vielmehr im Sinne des Art 4 MSA über den Antrag der Mutter auch hinsichtlich dieser beiden Kinder abzusprechen haben, wobei es im Sinne dieser Bestimmung die Behörden des Aufenthaltsstaates dieser Kinder zu verständigen haben wird.

Es war daher in Stattgebung des Revisionsrekurses der Mutter der angefochtene Beschluß dahin abzuändern, daß auch in Ansehung dieser beiden Kinder dem Erstgericht die Einleitung des gesetzlichen Verfahrens aufgetragen wird.

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