OGH 2Ob55/12w

OGH2Ob55/12w28.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Sol, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Andreas N*****, vertreten durch Dr. Charlotte Böhm, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. Markus W*****, 2. Viktor L*****, und 3. U***** AG, *****, alle vertreten durch Dr. Elisabeth Messner, Rechtsanwältin in Wien, wegen 119.888,40 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 11. Jänner 2012, GZ 13 R 10/11b-121, womit das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 13. Oktober 2010, GZ 4 Cg 89/07i-111, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung nunmehr insgesamt zu lauten hat:

„1. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 87.443 EUR samt 4 % Zinsen seit 3. 12. 2004 zu bezahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand dem Kläger für alle aus dem Unfall vom 2. 12. 2004 noch entstehenden Schäden haften, die drittbeklagte Partei beschränkt mit der Haftpflichtversicherungssumme des am Unfalltag bestehenden Kfz-Haftpflichtversicherungsvertrags für den Klein-Lkw Renault Master GD mit dem behördlichen Kennzeichen MA-297 AM.

3. Das Mehrbegehren, die beklagten Parteien seien überdies zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 32.445,40 EUR samt 4 % Zinsen aus 30.935,07 EUR vom 3. 12. 2004 bis 18. 8. 2010 und aus 32.445,40 EUR ab 19. 8. 2010 zu bezahlen, wird abgewiesen.

4. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 20.462,61 EUR bestimmten Kosten aller drei Instanzen (darin enthalten 5.567,40 EUR Barauslagen und 2.659,93 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Text

Entscheidungsgründe:

Am 2. 12. 2004 ereignete sich in Korneuburg auf der Bundesstraße 3 auf Höhe des Straßenkilometers 53 ein Verkehrsunfall dadurch, dass der Erstbeklagte mit einem Fahrzeug des Zweitbeklagten, das bei der Drittbeklagten haftpflichtversichert ist, auf ein stehendes Fahrzeug auffuhr, in dem der Kläger als Fahrlehrer saß. Die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung liegt im Bereich von ca 10 km/h. Der Kläger war im Unfallszeitpunkt angegurtet.

Durch den Kontakt stieß der Kläger mit dem Kopf gegen die B-Säule des Fahrzeugs. Er zog sich eine Schädelprellung und eine Zerrung der Hals- und Lendenwirbelsäule zu, woraus ein Tag mittelschwere und drei Tage leichte Schmerzen resultierten. Weiters trat durch den Unfall eine Netzhautablösung des rechten Auges sowie ein Netzhautdefekt des linken Auges ein. Aufgrund der massiv herabgesetzten Sehleistung beider Augen ist von einer Gebrauchsminderung von insgesamt 90 % auszugehen. Dadurch hatte der Kläger 14 Tage schwere, 35 Tage mittelschwere und 60 Tage leichte Schmerzen zu erleiden. Durch die Sehbehinderung ist der Kläger bei Wegen im öffentlichen Raum verunsichert, es fehlt ihm am räumlichen Sehen, sodass insbesondere Gehsteige oder Stufen Hindernisse darstellen, die leicht zum Sturz führen können.

Aufgrund des Unfalls veränderte sich auch die Persönlichkeit des Klägers. War er davor unauffällig und umgänglich gewesen, entwickelte sich zunehmend eine feindselig-gereizte und misstrauische Haltung gegen die Umwelt. Der Kläger zog sich zunehmend zurück und ist chronisch nervös. Es kam zu einer Einschränkung der Lebensqualität und einer organischen Persönlichkeitsstörung, die die mitmenschlichen Kontakte und die Lebensqualität in durchaus erheblichem Ausmaß beeinträchtigt. Dadurch erlitt der Kläger aus psychiatrischer Sicht 14 Tage schwere, 28 Tage mittelschwere und 98 Tage leichte seelische Schmerzen.

Der Kläger machte - neben im Revisionsverfahren nicht mehr strittigen Ersatzansprüchen und unter Berücksichtigung einer vorprozessualen Schmerzengeldzahlung von 8.000 EUR - ein restliches Schmerzengeld in Höhe von 70.000 EUR geltend.

Die Beklagten argumentierten dagegen, die Kollision sei mit derart geringer Geschwindigkeit eingetreten, dass dies keinerlei Folgen haben könne. Die beim Kläger bestehenden Gesundheitsschäden seien auf Vorverletzungen bzw Vorschäden zurückzuführen. Auch könne der Kläger ohne Begleitung in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein.

Das Erstgericht sprach - ausgehend von einem berechtigten Schmerzengeld von 40.000 EUR abzüglich der vorprozessual gezahlten 8.000 EUR - 32.000 EUR Schmerzengeld zu. Die Wahrscheinlichkeit von gravierenden Verletzungsfolgen bei derart geringen Kollisionsgeschwindigkeiten sei zwar grundsätzlich gering, aber nicht ausgeschlossen. Aus medizinischer Sicht wäre es im konkreten Fall äußerst unwahrscheinlich, dass sich die Beeinträchtigungen an beiden Augen gleichzeitig spontan entwickelt hätten und nicht in unfallkausalem Zusammenhang stünden. Dies lasse durchaus darauf schließen, dass der Kläger mit dem Kopf gegen die B-Säule gestoßen und es dadurch zu den festgestellten Augenschäden gekommen sei. Aufgrund der festgestellten Schmerzperioden sei ein Schmerzengeldbetrag von 40.000 EUR abzüglich der geleisteten Teilzahlung zuzusprechen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es verwarf die Mängel- und die Beweisrüge und gelangte im Hinblick auf das Schmerzengeld in rechtlicher Hinsicht zu dem Ergebnis, dass der Kläger unter dem weitgehenden Verlust eines Sinnesorgans und dauernden Auswirkungen auf seine Lebensgestaltung zu leiden habe. Unter Berücksichtigung der festgestellten Schmerzperioden und der nachhaltigen Beeinträchtigung stehe ihm ein Schmerzengeld von 40.000 bis 45.000 EUR zu. Der Zuspruch des Erstgerichts halte sich im Ermessensspielraum.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, der einen weiteren Schmerzengeldzuspruch von 35.000 EUR erreichen will. Es stelle sich allgemein die Frage, wie der Verlust eines wichtigen Sinnesorgans schadenersatzrechtlich zu bewerten sei. Bedenke man, dass in 4 Ob 34/05m bei einer Einschränkung des Sehvermögens bei Dämmerung und in der Nacht auf 40 % rechts und 20 % links bereits ein Schmerzengeld in Höhe von 30.000 EUR zuerkannt worden sei, stehe die nunmehr getroffene Schmerzengeldentscheidung in Widerspruch dazu.

Die beklagten Parteien beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung die Zurückweisung der außerordentlichen Revision als unzulässig und in eventu, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht bei der Bemessung des Schmerzengeldes in aufgreifenswerter Weise von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist; sie ist deshalb auch berechtigt.

Bei der Bemessung der Schmerzengeldes im vorliegenden Fall ist Folgendes zu bedenken:

1. Die Vorinstanzen haben (nur) die Schmerzen, die der Kläger im Hinblick auf die Zerrung der Wirbelsäule, die Augenverletzung und die organische Persönlichkeitsstörung (bereits) erlitten hat, festgestellt. Zukünftig absehbare Schmerzperioden wurden dagegen nicht festgestellt.

2. Wie bereits die Revision darlegt, wurde in 4 Ob 35/05m bei einer geringeren Beeinträchtigung des Sehvermögens, ebenfalls verbunden mit einem neurologisch-psychiatrischen Beschwerdebild und einer Einschränkung der Lebensfreude bereits 2005 ein vorinstanzlicher Zuspruch von 30.000 EUR nicht beanstandet.

In jüngster Zeit wurden in 3 Ob 128/11m, bei einem in der 28. Schwangerschaftswoche geborenen Baby, das eine Netzhautablösung erlitt, die zu einer starken Beeinträchtigung des Sehvermögens des Kindes führte, ohne Feststellung von Schmerzperioden 150.000 EUR zuerkannt.

Darüber hinaus finden sich in der (dort zitierten) Judikatur des Obersten Gerichtshofs Schmerzengeldentscheidungen im Zusammenhang mit der Beeinträchtigung des Sehvermögens älteren Datums:

So wurde in 2 Ob 59/84 einer 17-jährigen, die praktisch erblindet war und darüber hinaus den Geruchs- und Geschmackssinn verloren hatte, aufgewertet auf November 2010 106.000 EUR zugesprochen, in 2 Ob 14/86 einem 24-jährigen, dem auf einem Auge ein 10%iges Sehvermögen verblieb, ebenso aufgewertet 87.000 EUR.

3. Im vorliegenden Fall sind die Vorinstanzen - im Gegensatz zum Fall der Entscheidung 2 Ob 35/10a, wo eine Beeinträchtigung des Sehvermögens nach einem Auffahrunfall nicht als erwiesen angenommen werden konnte - zum Ergebnis gelangt, dass die Beeinträchtigung des Sehvermögens kausal durch den Unfall verursacht wurde.

Davon ausgehend ist die massive Beeinträchtigung des Sehvermögens beider Augen von insgesamt 90 % als so gravierend anzusehen, dass mit einem Schmerzengeldzuspruch in etwa im Bereich der Entscheidung 2 Ob 14/86 vorzugehen ist. Der Zuspruch der Vorinstanzen weicht davon krass nach unten ab, sodass dies im Einzelfall aufzugreifen und entsprechend dem Revisionsantrag das Schmerzengeld des Klägers mit weiteren 35.000 EUR (zuzüglich 32.000 EUR Zuspruch der Vorinstanzen somit 67.000 EUR und unter Berücksichtigung der vorprozessualen Zahlung von 8.000 EUR daher insgesamt 75.000 EUR) zu bemessen war.

Die Kostenentscheidung gründet sich für das erstinstanzliche Verfahren auf § 43 Abs 1 und 2 ZPO, wobei von einem Durchdringen des Klägers mit rund 3/4 seines Begehrens sowohl vor als nach der Klagsausdehnung in ON 100 auszugehen ist. Das erstinstanzliche Kostenverzeichnis der klagenden Partei war im Sinne der Einwendungen der Gegenseite insofern zu korrigieren, als die Urkundenvorlage vom 17. 6. 2009 nach TP 1 zu honorieren ist und die Verhandlung vom 13. 9. 2010 lediglich zwei halbe Stunden dauerte. Entgegen den Einwendungen handelte es sich bei der Äußerung zum Gutachten vom 7. 5. 2009 um einen freigestellten Schriftsatz, ebenso wie bei jenem vom 1. 4. 2008, die daher nach TP 3 zu honorieren waren.

Im Berufungsverfahren ist die klagende Partei mit ihrer Berufung nunmehr rund zur Hälfte durchgedrungen, sodass es insoweit zur Kostenaufhebung und zum Ersatz der halben Pauschalgebühr kommt, wohingegen die Berufung der beklagten Partei weiterhin erfolglos blieb, sodass die Berufungsbeantwortung der klagenden Partei zur Gänze zu honorieren war. In dritter Instanz ist die klagende Partei zur Gänze durchgedrungen.

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