OGH 2Ob2357/96y

OGH2Ob2357/96y31.10.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Prückner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Otto W*****, vertreten durch Dr.Herbert Schachter, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei E*****-AG, ***** vertreten durch Dr.Helfried Kriegel, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 167.247,10 sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 3.Juli 1996, GZ 17 R 123/96z-51, womit das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 29.Februar 1996, GZ 21 Cg 296/93s-34, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 6.086,40 (darin enthalten S 1.014,45 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 26.6.1992 ereignete sich auf der Autobahn Stockerau Richtung Wien ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem PKW Mazda 626 und die bei der beklagten Partei haftpflichtversicherte Ulrike H***** als Halterin und Lenkerin des PKWs Chrysler Le Baron CJ beteiligt waren.

Der Kläger begehrt vom Haftpflichtversicherer der Ulrike H***** Schadenersatz mit der zusammenfassenden Begründung, Ulrike H***** sei infolge Unaufmerksamkeit und Einhaltung einer weit überhöhten Geschwindigkeit gegen das Heck des vom Kläger gelenkten PKWs gestoßen.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens mit der Begründung, der Kläger habe wegen eines verunfallten Fahrzeuges sein Fahrzeug stark abgebremst und ohne Setzung des Fahrtrichtungsanzeigers vom dritten Fahrstreifen in den ersten Fahrstreifen gelenkt, ohne auf den Nachfolgeverkehr zu achten.

Das Erstgericht wies die Klage ab.

Es ging von nachstehenden - zusammengefaßt - Feststellungen aus:

Der Kläger fuhr mit seinem PKW mit einer Geschwindigkeit von etwa 130 km/h auf dem linken Fahrstreifen der drei Fahrstreifen aufweisenden Autobahn. Die Versicherungsnehmerin der beklagten Partei fuhr mit ihrem Fahrzeug auf dem mittleren Fahrstreifen ebenfalls mit einer Geschwindigkeit von ca. 130 km/h hinter dem Fahrzeug des Klägers. Der Kläger sah auf größere Entfernung ein verunfalltes Fahrzeug, das neben der Mittelleitschiene abgestellt war und etwa 40 cm in den linken Fahrstreifen ragte. Er bremste sein Fahrzeug mit eher mäßiger Verzögerung auf ca. 100 km/h ab und wollte zum Pannenstreifen fahren, um dem Lenker des verunfallten Fahrzeuges eventuell Hilfe zu leisten. Er schaltete den rechten Fahrtrichtungsanzeiger ein und lenkte seinen PKW vom linken auf den mittleren Fahrstreifen und bremste. Die Versicherungsnehmerin der beklagten Partei bemerkte das Bremsen wegen des Aufleuchtens der Bremslichter und reagierte mit Rechtslenken und Bremsen, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Der Kläger lenkte sein Fahrzeug weiter nach rechts und beschleunigte aus der auf dem mittleren Fahrstreifen auf ca. 24 km/h oder weniger abgesunkenen Fahrgeschwindigkeit seines Fahrzeuges. In der Folge fuhr die Versicherungsnehmerin der beklagten Partei auf das Heck des vom Kläger gelenkten Fahrzeuges auf. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich beide Fahrzeuge auf dem rechten Fahrstreifen.

Das Erstgericht konnte weder eine Reaktionsverspätung der Versicherungsnehmerin der beklagten Partei noch ein fahrtechnisches Fehlverhalten feststellen. Es bestand kein Grund, das Fahrzeug des Klägers auf eine Geschwindigkeit von 24 km/h oder weniger abzubremsen. Festgestellt wurde noch, daß die Versicherungsnehmerin der beklagten Partei mit rechtskräftiger Strafverfügung des Bezirksgerichtes Korneuburg wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB verurteilt wurde, weil sie "dadurch, daß sie mit ihrem Fahrzeug nicht mehr ausweichen bzw rechtzeitig anhalten konnte, auf den PKW des Klägers aufgefahren sei".

Das Erstgericht lastete dem Kläger das Alleinverschulden an, weil er einen Fahrstreifenwechsel, ohne auf den Nachfolgeverkehr zu achten, vorgenommen habe. Die materielle Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung der Versicherungsnehmerin der beklagten Partei wirke nicht für den Rechtsbereich des aufgrund des Kraftfahrzeug-Versicherungsvertrages deckungspflichtigen Versicherers.

Das Berufungsgericht gab der dagegen gerichtetene Berufung des Klägers nicht Folge.

Es erörterte rechtlich, daß eine durch die Entscheidung des verstärkten Senates 1 Ob 612/95 bejahte Bindungswirkung eines verurteilenden Straferkenntnisses zunächst nicht für den Fall gelte könne, in dem ein Unfallbeteiligter mit einer Strafverfügung bestraft worden sei. Selbst dann, wenn man eine Bindungswirkung der Strafverfügung bejahe, sei ein allfälliges Mitverschulden der Versicherungsnehmerin der beklagten Partei im Hinblick auf das verkehrswidrige Verhalten des Klägers zu vernachlässigen. Schließlich habe der Oberste Gerichtshof eine Bindung des Haftpflichtversicherers des verurteilten Versicherten bereits verneint (2 Ob 2070/96t).

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil in der Entscheidung des verstärkten Senates zu 1 Ob 612/95 zur Frage, ob unter einem "verurteilenden Straferkenntnis" auch Straverfügungen zu verstehen seien, nicht Stellung genommen worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil zur Frage der Bindungswirkung einer strafgerichtlichen Verurteilung auch gegen den Haftpflichtversicherers des Verurteilten ausreichende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes nicht besteht.

Die Revision ist aber nicht berechtigt.

In der Entscheidung des verstärkten Senates 1 Ob 612/95 (= AnwBl

1995, 900; Strigl = RdW 1996, 15; Berger = ZVR 1996, 2 = EvBl 1996,

34 = JBl 1996, 117; vgl auch Oberhammer, verst.Senat "Bindung an Strafurteile", ecolex 1995, 790; Graff zur Bindungswirkung des Strafurteils im Zivilprozeß nach Aufhebung des § 268 ZPO, AnwBl 1996, 77), wurde der Rechtssatz formuliert:

"Wirkt die materielle Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung derart, daß der Verurteilte das Urteil gegen sich gelten lassen muß, und wirkt dieses für den Rechtskreis des Verurteilten, für diesen aber jedermann, so kann sich niemand im nachfolgenden Rechtsstreit einer anderen Partei gegenüber darauf berufen, daß er eine Tat, derentwegen er strafgerichtlich verurteilt wurde, nicht begangen habe, gleichviel, ob der andere am Strafverfahren beteiligt war oder in welcher verfahrensrechtlichen Stellung er dort aufgetreten ist".

Zur Frage, ob eine derartige Bindungswirkung auch im Prozeß gegen den Haftpflichtversicherer des strafgerichtlich Verurteilten bestehe, hat der verstärkte Senat ausdrücklich nicht Stellung genommen (vgl dazu Oberhammer aaO Anm 10).

Die Revision verweist ausdrücklich darauf, daß unter einer "strafgerichtlichen Verurteilung" auch eine rechtskräftige Strafverfügung zu verstehen sei, und daß der "Rechtskreis des Verurteilten" dessen Haftpflichtversicherung umfasse.

Zur Frage, ob unter einer strafgerichtlichen Verurteilung auch eine rechtskräftige Strafverfügung zu verstehen ist, muß aber hier nicht eingegangen werden.

Der erkennende Senat hat bereits in seiner Entscheidung 2 Ob 2070/96t ausgesprochen, daß sich die Bindungswirkung des Strafurteils auf den Haftpflichtversicherer, der im Strafprozeß kein rechtliches Gehör hatte, nicht erstreckt, weil im gegenteiligen Fall das verfahrensrechtliche Grundgesetz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 MRK verletzt würde. Dieses Grundrecht könne nicht dort, wo es zu komplizierten verfahrensrechtlichen Feststellungen führt, einfach ignoriert werden.

An dieser Rechtsansicht hat der erkennende Senat auch in seiner Entscheidung 2 Ob 2287/96d festgehalten.

Auch der hier zu entscheidende Sachverhalt entspricht der in der letzten Entscheidung zu beurteilenden Fallkonstellation, weil auch hier letztlich die Haftpflichtversicherung eines durch rechtskräftige Strafverfügung Verurteilten in Anspruch genommen wird.

Der erkennende Senat hält daher ausdrücklich an seiner Rechtsansicht fest, daß sich die Bindungswirkung einer strafgerichtlichen Verurteilung nicht auf den Haftpflichtversicherer, der im Strafprozeß kein rechtliches Gehör hatte, erstreckt.

Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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