OGH 2Ob163/09y

OGH2Ob163/09y27.5.2010

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei (nunmehr) T***** KG, *****, vertreten durch Dr. Hanspeter Egger, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei W***** KG, *****, vertreten durch Dr. Georg Mittermayer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 9.306,22 EUR sA, über die Revisionen beider Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 14. April 2009, GZ 35 R 69/09w-27, womit infolge Berufungen beider Parteien das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 4. Jänner 2009, GZ 27 C 51/08i-19, teils bestätigt und teils abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 559,15 EUR (darin 93,19 EUR USt) bestimmten Kosten ihrer Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage (§ 502 Abs 1 ZPO) kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).

Nach den maßgeblichen Feststellungen der Vorinstanzen fuhr am 29. 8. 2007 gegen 22:00 Uhr ein Straßenbahnzug der Linie 41 bei Freizeichen für seine Fahrtrichtung aus einer Haltestelle in der Währinger Straße in die ampelgeregelte Kreuzung mit der Nußdorfer Straße und der Spitalgasse in Wien 9 ein. Rechts neben den vom Straßenbahnzug befahrenen Gleisen stand im Kreuzungsbereich, parallel zu den Schienen und mit der Front gegen die Fahrtrichtung der Straßenbahn weisend, ein 5,9 m langer, 2,25 m breiter und 2,9 m hoher Lkw, dessen Insassen Gleisschleifarbeiten verrichteten. Da der rechte Außenspiegel des Lkws in den Fahrraum der Straßenbahn ragte, musste der Straßenbahnfahrer im Kreuzungsbereich anhalten. Nachdem der Spiegel eingeklappt worden war, setzte er die Fahrt fort. Dabei beschleunigte er bis auf eine Geschwindigkeit von 4,7 km/h und betätigte auch das akustische Warnsignal (er „läutete“).

Unterdessen hatte sich der Lenker eines von der klagenden Partei gehaltenen Taxis im äußerst rechten Fahrstreifen der Nußdorfer Straße der Kreuzung genähert und den Pkw wegen Rotlichts der Ampel vor der Haltelinie zum Stillstand gebracht. Als für ihn Grünlicht aufleuchtete, setzte er das Fahrzeug in Bewegung und beschleunigte bis auf etwa 10 km/h. Obwohl der 32 m lange Straßenbahnzug in seiner Stillstandposition durch den Lkw nur teilweise verdeckt und der rückwärtige Teil in einem Ausmaß von ca 26 m für den Taxilenker sichtbar war, bemerkte dieser die Straßenbahn weder im Stillstand, noch als sie sich wieder in Bewegung setzte. Als der Taxilenker nach der Vorbeifahrt am Heck des Lkws die Gleise überqueren wollte, kam es zur Kollision. Der Straßenbahnfahrer hatte erst unmittelbar davor Sicht auf das von rechts kommende Taxi erlangt.

Die Vorinstanzen erachteten eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Lasten der klagenden Partei für sachgerecht. Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, dass auch der Führer einer im Kreuzungsbereich aufgehaltenen Straßenbahn zur vorsichtigen Räumung der Kreuzung unter Beachtung des Querverkehrs verpflichtet sei. Dabei dürfe er nicht darauf vertrauen, dass die Lenker bei Grünlicht einfahrender Fahrzeuge die Bestimmung des § 28 Abs 2 StVO beachten würden. Andererseits dürften die Lenker von Kraftfahrzeugen auch bei Grünlicht nur dann weiterfahren, wenn es die Verkehrslage zulasse. Ein Verstoß gegen diese Regel wiege im Allgemeinen schwerer als das Verschulden des die Kreuzung unvorsichtig Räumenden.

Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision mit der Begründung für zulässig, dass der Oberste Gerichtshof mit der Frage der Anwendbarkeit des § 28 Abs 2 StVO in einem Fall, in welchem den Straßenbahnfahrer die Verpflichtung zur vorsichtigen Räumung einer Kreuzung treffe, noch nicht befasst gewesen sei.

Die von beiden Parteien erhobenen Revisionen sind entgegen dem gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig. Auch in den Revisionen werden keine erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan.

Rechtliche Beurteilung

I. Zur Revision der klagenden Partei:

1. Die klagende Partei ist durch die den Zulassungsausspruch begründende Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht beschwert, weshalb ihre Revision auch keine Ausführungen dazu enthält.

2. Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor:

Das Berufungsgericht beurteilte das Vorbringen in der Berufung der klagenden Partei zu dem im Rahmen der Rechtsrüge relevierten Feststellungsmangel als Verstoß gegen das Neuerungsverbot. Die klagende Partei habe ihren Schuldvorwurf in erster Instanz nicht auch darauf gestützt, dass der Straßenbahnfahrer das Hindernis im Kreuzungsbereich bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennen hätte können und daher in die Kreuzung gar nicht einfahren hätte dürfen.

Grundsätzlich hat jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu behaupten und zu beweisen (RIS-Justiz RS0037797). Die Behauptungs- und Beweislast für jene Tatumstände, auf die ein Verschuldensvorwurf gegründet wird, trifft den Kläger, weshalb Unklarheiten zu seinen Lasten gehen (RIS-Justiz RS0022783). Wie der erkennende Senat bereits dargelegt hat, sind an die Behauptungspflicht des Klägers in einem Prozess wegen eines Verkehrsunfalls grundsätzlich keine übertriebenen Anforderungen zu stellen. Lassen sich etwa die maßgeblichen Positionen der unfallbeteiligten Fahrzeuge erst durch ein kraftfahrzeugtechnisches Sachverständigengutachten exakt ermitteln, wäre die Forderung an den Kläger überzogen, sein Tatsachenvorbringen entweder dem Sachverständigengutachten detailgetreu anzupassen oder bereits zuvor sämtliche Eventualitäten des möglichen Unfallgeschehens umfangreich darzulegen (2 Ob 179/06x = ZVR 2007/53 = RIS-Justiz RS0037797 [T42]). Letztlich geht aber die Auslegung des Parteienvorbringens und damit die Beantwortung der Frage, ob eine im Berufungsverfahren unzulässige Neuerung vorliegt, in ihrer Bedeutung über den Einzelfall nicht hinaus und begründet daher - vom Fall krasser Fehlbeurteilung abgesehen - keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (3 Ob 18/09g mwN; RIS-Justiz RS0042828).

Eine derartige Fehlbeurteilung ist dem Berufungsgericht bei der Auslegung des klägerischen Prozessvorbringens nicht unterlaufen. Die klagende Partei hat das Klagebegehren in erster Instanz auf eine Verletzung des Vorrangs durch die Straßenbahn sowie darauf gestützt, dass diese für den Taxilenker nicht wahrnehmbar gewesen sei. Dieses Vorbringen indiziert bei einer ampelgeregelten Kreuzung in der vorliegenden Konstellation aber grundsätzlich nur die Tatsachenbehauptung, dass das gegnerische Fahrzeug bei Gelblicht oder bei Rotlicht (§ 38 Abs 2 und 5 StVO) in den Kreuzungsbereich eingefahren sei. Das Berufungsgericht hat demnach die prozessuale Frage, ob das Vorbringen in der Berufung, der Straßenbahnfahrer hätte vor Einfahrt in die Kreuzung erkennen können, dass ihm der abgestellte Lkw kein ungehindertes Passieren ermöglichen werde, gegen das Neuerungsverbot verstößt (vgl RIS-Justiz RS0043171), in unbedenklicher Weise gelöst.

3. Die Verschuldensabwägung richtet sich stets nach den besonderen Umständen des Einzelfalls und begründet regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (RIS-Justiz RS0087606, RS0042405). Dem Berufungsgericht ist keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung unterlaufen, wenn es angesichts der auf einem gravierenden Aufmerksamkeitsmangel des Taxilenkers beruhenden Verletzung des Gebots, der Straßenbahn die Räumung der Kreuzung zu ermöglichen (§ 38 Abs 4 Satz 2 StVO; vgl 2 Ob 62/07t mwN; RIS-Justiz RS0075304), den Verschuldensanteil des Taxilenkers höher gewichtete als jenen des Straßenbahnfahrers. Der von der klagenden Partei mit dem Hinweis auf die gegebene Sichtbehinderung ins Treffen geführten „erhöhten Diligenzverpflichtung“ des Straßenbahnfahrers hat das Berufungsgericht ohnedies Rechnung getragen.

II. Zur Revision der beklagten Partei:

1. Der gerügte Mangel des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Dass das Berufungsgericht nicht auf alle in der Berufung der beklagten Partei vorgetragenen rechtlichen Argumente eingegangen ist, könnte allenfalls zu einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung führen, verwirklicht aber nicht den Revisionsgrund nach § 503 Z 2 ZPO. Dies wäre nur dann der Fall, wenn das Berufungsgericht die Rechtsrüge zu Unrecht als nicht gesetzmäßig ausgeführt erachtet und deshalb ihre sachliche Behandlung verweigert hätte (RIS-Justiz RS0043231). Ein derartiger Verfahrensmangel wird aber in der Revision der beklagten Partei zu Recht nicht releviert.

2. Der Oberste Gerichtshof hat zu § 28 Abs 2 StVO bereits wiederholt ausgesprochen, dass ein Fahrzeuglenker nur dann vor einem herannahenden Straßenbahnzug die Gleise überqueren darf, wenn er ganz sicher ist, diesen in seiner Weiterfahrt nicht zu behindern (ZVR 1980/140; ZVR 1981/182; 2 Ob 2305/96a). Dabei handelt es sich aber um keine Vorrangregel zu Gunsten der Straßenbahn (ZVR 1971/75; zum Zweck der Bestimmung vgl Pürstl, StVO12 § 28 Anm 4; Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 28 Rz 26 ff).

Die beklagte Partei hält diese Bestimmung auch im Bereich einer geregelten Kreuzung für anwendbar, geht aber nicht auf die sich daran anknüpfende, vom Berufungsgericht aufgeworfene (und verneinte) Rechtsfrage ein, ob ein Straßenbahnfahrer beim Räumen einer Kreuzung auf die Einhaltung dieser Bestimmung vertrauen und deshalb die Beachtung des Querverkehrs vernachlässigen dürfe. Allgemeiner Rechtsausführungen zu diesem Thema bedarf es daher nicht.

Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass die Straßenbahn im Kreuzungsbereich zunächst eine gewisse Zeit im Stillstand verharrte und noch nicht „herannahend“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung war. Vor allem aber ist von Bedeutung, dass der Straßenbahnfahrer damit rechnen musste, dass das Anfahren der Straßenbahn infolge des sichtbehindernden Lkws von den Fahrzeuglenkern des Querverkehrs nicht sogleich erkannt werden würde. Jedenfalls in Anbetracht dieser konkreten Umstände des hier zu beurteilenden Einzelfalls lässt die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, der Straßenbahnfahrer sei ungeachtet des in § 28 Abs 2 StVO geregelten Überquerungsverbots zur vorsichtigen Räumung der Kreuzung verpflichtet gewesen, keine Fehlbeurteilung erkennen, die vom Obersten Gerichtshof wahrgenommen werden müsste.

3. Gemäß § 28 Abs 1 StVO sind die Führer von Schienenfahrzeugen von der Einhaltung der straßenpolizeilichen Vorschriften insoweit befreit, als die Befolgung dieser Vorschriften wegen Bindung dieser Fahrzeuge an Gleise nicht möglich ist. Zu den von Führern von Schienenfahrzeugen zu beachtenden Vorschriften gehören auch jene über die Arm- und Lichtzeichen an Kreuzungen (§§ 36 ff StVO; vgl Dittrich/Stolzlechner aaO § 28 Rz 6).

Ein Fahrzeuglenker, der bei Grünlicht in die Kreuzung einfuhr, in ihr aber aufgehalten wurde, darf zwar selbst dann, wenn für ihn bereits Rotlicht gilt, weiterfahren, muss aber besonders vorsichtig fahren und auf den möglichen, einsetzenden Querverkehr achten (RIS-Justiz RS0075300). Die beklagte Partei verwehrt sich nicht gegen die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass diese Verhaltensregeln auch für einen Straßenbahnfahrer maßgeblich sind. Sie macht jedoch geltend, dass die klagende Partei einen derartigen Sorgfaltsverstoß gar nicht behauptet habe und ein solcher auch aus den Feststellungen nicht hervorgehe:

3.1 Zu ersterem kann auf die bereits erörterte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs verwiesen werden, wonach an die Behauptungspflicht des Klägers in einem Prozess wegen eines Verkehrsunfalls keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden dürfen (2 Ob 179/06x) und die Auslegung des Parteienvorbringens in der Regel keine in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausreichende Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO begründet (RIS-Justiz RS0042828). Ein gravierender Fehler bei der Auslegung des Prozessvorbringens ist dem Berufungsgericht auch im gegebenen Zusammenhang nicht unterlaufen, wenn es die auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens festgestellten Geschehensabläufe als vom klägerischen Prozessvorbringen umfasst gesehen und in die rechtliche Beurteilung einbezogen hat.

3.2 Schon das Erstgericht hat in seiner Entscheidungsbegründung der - vom Berufungsgericht erkennbar gebilligten - Rechtsansicht hinreichend deutlich Ausdruck verliehen, der Straßenbahnfahrer hätte seine Weiterfahrt so vorsichtig gestalten müssen, dass er in der Lage gewesen wäre, die Fahrzeuge des Querverkehrs (trotz des sichtbehindernden Lkws) rechtzeitig wahrzunehmen. Dies steht mit der bereits erörterten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Einklang (vgl ZVR 1980/223; RIS-Justiz RS0075300).

Wenn die beklagte Partei demgegenüber das Verhalten des Straßenbahnfahrers als „vorbildlich“ bezeichnet, lässt sie außer Acht, dass dieser die Straßenbahn trotz der eingeschränkten Sichtmöglichkeiten aus dem Stillstand über das Heck des Lkws hinaus bis zum Erreichen der Kollisionsstelle durchgehend, wenn auch nur auf eine Geschwindigkeit von 4,7 km/h beschleunigt hat. Die Auffassung der Vorinstanzen, dass dieses Fahrverhalten dem Gebot besonderer Vorsicht widerspricht, ist noch vertretbar und wirft keine erhebliche Rechtsfrage auf. Angesichts der Sichtbehinderung und der Verweildauer im Kreuzungsbereich begründet es zumindest keine krasse Verkennung der Rechtslage, eine dem „Vortasten“ eines Kraftfahrzeugs vergleichbare Fahrweise des Straßenbahnfahrers als angebracht anzusehen.

III. Zu beiden Revisionen:

Da es der Lösung von Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht bedarf, sind beide Revisionen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO. Während die klagende Partei eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet hat, hat die beklagte Partei auf die Unzulässigkeit der Revision der klagenden Partei hingewiesen.

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