OGH 2Ob152/12k

OGH2Ob152/12k7.5.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Sol, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Manfred Rath und andere Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagten Parteien 1. A***** H*****, 2. A***** Gesellschaft m.b.H., *****, und 3. G***** AG, *****, sämtliche vertreten durch Dr. Stefan Herdey und Dr. Roland Gsellmann, Rechtsanwälte in Graz, wegen 19.595,22 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 1. Juni 2012, GZ 2 R 91/12p-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 13. März 2012, GZ 21 Cg 34/11h-20, in der Hauptsache bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 963,89 EUR (darin 160,65 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Am 24. 8. 2010 ereignete sich gegen 6:15 Uhr auf dem Jakominiplatz in Graz ein Verkehrsunfall zwischen einem von der klagenden Partei gehaltenen Straßenbahnzug und einem vom Erstbeklagten gelenkten, von der zweitbeklagten Partei gehaltenen und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten Lkw. Zur Unfallszeit befand sich im Bereich der zwischen Reitschulgasse und Gleisdorferstraße gelegenen Umkehrschleife eine Baustelle. Der Erstbeklagte, der Baumaterial für die Gleisbauarbeiten zu liefern und abzuladen hatte, hielt mit dem Lkw nahe den Schienen. Als die Straßenbahn in die Umkehrschleife einfuhr, kam es zu einem „Auswandern“ der Heckpartie des Straßenbahnzugs und zum Kontakt mit dem Lkw. Die Überdeckung betrug 10 cm.

Die Vorinstanzen wiesen das auf Schadenersatz gerichtete Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, dass dem Erstbeklagten kein messbares Verschulden vorzuwerfen sei. Er habe sich auf der Baustelle befunden, um Baumaterialien abzuladen. Ein weiteres Ausweichen vor dem herannahenden Straßenbahnzug sei ihm nicht möglich gewesen. Die Straßenbahnfahrerin hätte den Platzbedarf des Straßenbahnzugs vor dem Einfahren in die Umkehrschleife bedenken müssen.

Seinen Ausspruch, mit dem es die ordentliche Revision zuließ, begründete das Berufungsgericht damit, dass es hinsichtlich der zulässigen Beeinträchtigung des Straßenbahnverkehrs durch Ladetätigkeiten im Bereich einer Baustelle (§ 28 Abs 2 und § 62 StVO) an höchstgerichtlicher Judikatur fehle. Dieser Frage komme über den hier zu entscheidenden Sachverhalt hinaus wesentliche Bedeutung zu.

Rechtliche Beurteilung

In ihrer gegen das Berufungsurteil erhobenen Revision strebt die klagende Partei noch den Ersatz von zwei Drittel ihres Schadens an. Die Revision ist jedoch entgegen dem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig. Weder in der Begründung des zweitinstanzlichen Zulassungsausspruchs noch in der Revision wird eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dargetan.

1. § 28 Abs 2 Satz 1 StVO dient im Allgemeinen nicht nur der Sicherheit, sondern auch der Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs mit Schienenfahrzeugen (ZVR 1980/63; RIS-Justiz RS0075177). Die Bestimmung trägt dem Umstand Rechnung, dass die an Gleise gebundenen Fahrzeuge nicht ausweichen können und überdies in der Regel ein geringeres Bremsvermögen haben (2 Ob 218/78 = ZVR 1980/63; 8 Ob 74/83 = ZVR 1984/259; 2 Ob 2305/96a; vgl auch 2 Ob 222/06w mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien).

Andererseits sollen sich Bauarbeiter und Baufahrzeuge im Baustellenbereich den durchzuführenden Bauarbeiten und dem Baufortschritt entsprechend frei bewegen können, ohne auf weitere, die Verkehrsfläche befahrende Verkehrsteilnehmer achten zu müssen (2 Ob 140/11v). Es liegt nahe, dass dies nicht nur für Baufahrzeuge, sondern auch für die den Baustellenbereich befugt befahrenden Lieferanten von Baumaterial gelten soll.

2. Die hier zu beurteilende Sonderkonstellation, in der die Umkehrschleife der Straßenbahn zumindest teilweise innerhalb des Baustellenbereichs verlief, lässt keine allgemein gültige Aussage im Sinne der Zulassungsbegründung des Berufungsgerichts zu. Maßgeblich sind vielmehr stets die konkreten Umstände des Einzelfalls. Kommt es zu wechselseitigen Behinderungen, so ist gegenseitige Rücksichtnahme erforderlich, die sich nach den gerade vorherrschenden Verhältnissen richten muss. Unter diesen Umständen ist es auch nicht von entscheidender Bedeutung, ob und welche Normen der StVO zur Anwendung gelangen, insbesondere ob das Verhalten des Erstbeklagten eher nach § 23 Abs 1 oder nach § 28 Abs 2 StVO oder nach keiner dieser Bestimmungen zu beurteilen ist.

3. Die Verschuldensabwägung richtet sich stets nach den besonderen Umständen des Einzelfalls und begründet regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (RIS-Justiz RS0087606, RS0042405). Dies gilt auch für die Frage, ob ein geringes Verschulden noch vernachlässigt werden kann (2 Ob 282/06v mwN; RIS-Justiz RS0087606 [T7]).

3.1 Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Straßenbahnfahrerin hätte das „Auswandern“ des Heckbereichs des Straßenbahnzugs bedenken und sich von der Möglichkeit ungehinderten Vorbeifahrens an dem Lkw vergewissern müssen, entspricht der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen (vgl 2 Ob 173/80 = ZVR 1981/158; RIS-Justiz RS0027766; auch VwGH 9. 5. 1966, Zl 956/65 = ZVR 1966/88; Stanek-Elterlein, Die Straßenbahn und die StVO, ZVR 1983, 74 [75]); sie wirft daher keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

3.2 Für den Erstbeklagten war hingegen das Ausmaß des „Auswanderns“ des Heckbereichs der Straßenbahn während der Einfahrt in die Umkehrschleife kaum abschätzbar. Bei Herannahen der Straßenbahn hatte er seine Halteposition so weit wie möglich nach vorne versetzt. Außerdem war für ihn erkennbar, dass der für diese Aufgabe zuständige „Security-Mitarbeiter“ die Einweisung der Straßenbahnfahrerin übernommen hatte. Vorwerfbar wäre ihm somit allenfalls, dass er bei der Wahl seiner ursprünglichen (dann veränderten) Halteposition seine Ausweichmöglich-keiten nicht richtig eingeschätzt hat.

Jedenfalls vertretbar ist die Auffassung des Berufungsgerichts, dass das Handzeichen des Erstbeklagten, mit dem er die aus seiner Sicht mögliche Weiterfahrt der Straßenbahn signalisierte, kein (weiteres) Verschuldens-element zu seinen Lasten begründe. Soweit in der Revision von einer Garantenstellung des Erstbeklagten und dem Ingerenzprinzip die Rede ist, scheint die klagende Partei die Entscheidung 2 Ob 44/08x vor Augen zu haben, die jedoch das einem Kind gegebene Handzeichen zum Überqueren der Fahrbahn betraf. Dieser Sachverhalt ist mit dem gegenständlichen Fall nicht vergleichbar.

Feststellungen, die eine Zurechnung des „Security-Mitarbeiters“ (Einweisers) zu den beklagten Parteien rechtfertigen könnten, liegen nicht vor.

3.3 Dem Berufungsgericht ist keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende gravierende Fehlbeurteilung unterlaufen, wenn es angesichts der konkreten Situation auf der Baustelle und dem Verhalten der Unfallbeteiligten das der klagenden Partei zuzurechnende Verschulden als weit überwiegend, den Verschuldensanteil des Erstbeklagten hingegen als vernachlässigbar gering erachtete.

4. Da es der Lösung von Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht bedarf, ist die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die beklagten Parteien haben in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen.

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