OGH 2Ob148/06p

OGH2Ob148/06p30.11.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Hon. Prof. Dr. Danzl und Dr. Veith sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Grohmann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) Johanna L*****, 2.) Barbara Z*****, und 3.) Gerhard Z*****, sämtliche vertreten durch Mag. Ralf Staindl, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagten Parteien 1.) Peter L*****, vertreten durch MMag. Hermann Bogensperger, Rechtsanwalt in Salzburg, 2.) Wolf-Teja S*****, vertreten durch Dr. Gerald Kopp und andere Rechtsanwälte in Salzburg, und 3.) Johann D*****, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen EUR 178.909,54 sA (erstklagende Partei), und EUR 97.120,22 sA (zweit- und drittklagende Partei), über den Rekurs der erstbeklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 26. April 2006, GZ 4 R 88/06y-21, womit die Berufung der erstbeklagten Partei gegen das Versäumungsurteil des Landesgerichtes Salzburg vom 2. November 2005, GZ 7 Cg 185/05z-5, zurückgewiesen wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der erstbeklagten Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Rekurskosten sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens. Die Rekursbeantwortung der klagenden Parteien wird samt deren Ergänzung vom 6. 10. 2006 zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Kläger begehrten mit der am 9. 9. 2005 beim Erstgericht überreichten Klage von den Beklagten Zahlung von EUR 178.909,54 (Erstklägerin) und EUR 97.120,22 (Zweit- und Drittkläger) jeweils samt Zinsen. Das Erstgericht trug den Beklagten die Beantwortung der Klage binnen vier Wochen auf. Dieser Beschluss wurde den Beklagten samt je einer Gleichschrift der Klage an den in dieser angegebenen Adressen - dem Erstbeklagten durch Hinterlegung - zugestellt. Während die Zweitbeklagte und der Drittbeklagte fristgerecht Klagebeantwortungen erstatteten, verstrich beim Erstbeklagten die Klagebeantwortungsfrist ungenützt.

Das Erstgericht erließ auf Antrag der Kläger am 2. 11. 2005 gegen den Erstbeklagten ein Versäumungsurteil, welches ihm abermals an der in der Klage angeführten Adresse durch Hinterlegung zugestellt wurde und ab 30. 11. 2005 beim zuständigen Postamt zur Abholung bereit lag. Am 25. 1. 2006 beantragte der Erstbeklagte, 1.) das Versäumungsurteil sowie die inzwischen allfällig erteilte Vollstreckbarkeitsbestätigung aufzuheben, das Verfahren bis zur Klagseinbringung als nichtig zu erklären und die Klage an seine nunmehrigen Rechtsvertreter zuzustellen, sowie 2.) das Versäumungsurteil aufzuheben und ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Klagebeantwortungsfrist zu bewilligen. Hilfsweise erhob er gegen das Versäumungsurteil Widerspruch. Zur Begründung seiner Anträge brachte er vor, an der in der Klage angegebenen Adresse niemals wohnhaft oder aufhältig gewesen zu sein und erst durch den Zweitbeklagten vom Vorliegen eines Versäumungsurteiles Kenntnis erlangt zu haben. Das Erstgericht hob nach Durchführung eines Bescheinigungsverfahrens mit Beschluss vom 8. 2. 2006 „die Rechtskraft des Versäumungsurteiles" auf und ordnete die neuerliche Zustellung des Versäumungsurteiles an den Erstbeklagten an. Es erachtete als bescheinigt, dass der Erstbeklagte nie an der in der Klage angeführten Adresse wohnhaft gewesen sei. Die Kläger ließen diesen Beschluss unbekämpft. Am 15. 2. 2006 wurde das Versäumungsurteil dem rechtsfreundlichen Vertreter des Erstbeklagten zugestellt, der dagegen die Nichtigkeitsberufung erhob.

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Berufungsgericht die Berufung zurück. Es stützte sich hiebei auf die an die Entscheidung des verstärkten Senates 1 Ob 6/01s anknüpfende Entscheidung 6 Ob 127/03z, aus deren Begründung es ableitete, dass das Versäumungsurteil gegen den Erstbeklagten formell rechtskräftig und nicht mehr mit Berufung anfechtbar sei. Die Aufhebung der (noch gar nicht erteilten) Vollstreckbarkeitsbestätigung ändere nichts daran, weil dieser Beschluss nicht bindend sei. Die neuerliche Zustellung des Versäumungsurteiles habe keine neue Berufungsfrist, sondern nur die Klagefrist für die Nichtigkeitsklage ausgelöst. Die Berufung sei daher gemäß § 474 Abs 2 ZPO als unzulässig zurückzuweisen. Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs des Erstbeklagten mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO ungeachtet des Vorliegens erheblicher Rechtsfragen zulässig; er ist auch berechtigt. Der verstärkte Senat hat zu 1 Ob 6/01s = SZ 74/200 = JBl 2002, 320 = ecolex 2002, 247 folgenden Rechtssatz formuliert:

„Unter Rechtskraft im Sinne des § 529 Abs 1 Z 2 und Abs 2 ZPO und des § 534 Abs 2 Z 2 und Abs 3 ZPO ist die formelle Rechtskraft zu verstehen, die auch dann eintritt, wenn die Prozessunfähigkeit der Partei nicht erkannt wurde. Die Partei, die ihre Prozessunfähigkeit behauptet, kann mit dem ihr zu Gebote stehenden ordentlichen Rechtsmittel den Nichtigkeitsgrund geltend machen. Ist die Rechtsmittelfrist verstrichen, daher die formelle Rechtskraft eingetreten, kann sie bis spätestens vier Wochen nach der - jedoch keine Zulässigkeitsvoraussetzung bildenden - Zustellung an ihren gesetzlichen Vertreter durch diesen Nichtigkeitsklage aus dem Grund des § 529 Abs 1 Z 2 ZPO erheben."

Im Anschluss an diese Entscheidung vertrat der 6. Senat des Obersten Gerichtshofes in 6 Ob 127/03w = RdW 2004/200 die Rechtsansicht, die Erwägungen des verstärkten Senates hätten auch für den ersten Fall des § 529 Abs 1 Z 2 ZPO Gültigkeit. Für das Vorliegen der Nichtigkeit nach § 529 Abs 1 Z 2 ZPO könne es keinen Unterschied machen, ob sich die fehlende Vertretung einer Partei aus einer nach dem Zustellgesetz (§ 17 Abs 3) oder einer mangels Prozessfähigkeit unwirksamen Zustellung ergebe. Gehe es nicht um einen bloß den Titel betreffenden Zustellmangel, sondern um eine bereits das gesamte Verfahren zur Schaffung dieses Titels umfassende Nichtigkeit, müsse ein Antrag auf Aufhebung der Vollstreckbarkeit des Titels erfolglos bleiben. In diesen Fällen sei mit Nichtigkeitsklage vorzugehen. Dem trat der 5. Senat in der Entscheidung 5 Ob 261/05a = EvBl 2006/124 im Wesentlichen mit der Begründung entgegen, aus der Entscheidung des verstärkten Senates ergebe sich nur, dass die Prozessfähigkeit nicht mehr Voraussetzung einer formell wirksamen Zustellung sein solle. Davon abgesehen hänge jedoch die Beurteilung, ob eine Zustellung formell wirksam sei, von der Einhaltung der zwingenden Normen des Zustellgesetzes ab. Sei die Zustellung eines Urteiles danach unwirksam, könne dieser Mangel mit einem Antrag auf Aufhebung der Vollstreckbarkeit nach § 7 Abs 3 EO geltend gemacht werden. Eine Nichtigkeitsklage scheide deshalb aus, weil es an der formellen Rechtskraft der Entscheidung fehle und zwar unabhängig davon, ob der Zustellmangel nur das Urteil oder das gesamte Verfahren betreffe.

Dieser Rechtsansicht des 5. Senates hat sich in der Folge auch der 7. Senat in der Entscheidung 7 Ob 5/06w angeschlossen. Auch der erkennende Senat hält die Erwägungen der Entscheidung 5 Ob 261/05a für zutreffend und tritt ihnen bei.

Daraus ergibt sich für den vorliegenden Fall, dass die Vorgangsweise des Erstgerichtes mit der zuletzt referierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes im Einklang steht. Da das in erster Instanz durchgeführte Bescheinigungsverfahren zu dem Ergebnis führte, dass die zunächst versuchte Zustellung des Versäumungsurteiles unwirksam war, wurde nach der für dieses Rekursverfahren maßgeblichen Aktenlage der Lauf der vierwöchigen Berufungsfrist erst mit der Zustellung des Urteiles an den rechtsfreundlichen Vertreter des Erstbeklagten in Gang gesetzt.

Dem Rekurs war daher Folge zu geben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die von ihm zu Unrecht als „unzulässig" (inhaltlich aber als verspätet) beurteilte Berufung des Erstbeklagten unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

Der Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichtes, mit welchem dieses die Berufung ohne Sachentscheidung aus formellen Gründen zurückgewiesen hat, ist einseitig (RIS-Justiz RS0098745, RS0043760). An dieser in ständiger Rechtsprechung vertretenen Rechtsansicht hat der Oberster Gerichtshof zuletzt trotz der Bedenken Zechners (in Fasching/Konecny2 IV/1 § 519 ZPO Rz 75 f und § 521a ZPO Rz 14) festgehalten (2 Ob 201/05f; 2 Ob 31/06g; 6 Ob 43/06a; 3 Ob 181/06y). Entscheidend ist auch hier die Beurteilung einer reinen Verfahrensfrage, bei der Art 6 MRK die Einräumung einer Rekursbeantwortung nicht erfordert (6 Ob 43/06a; vgl auch 4 Ob 156/06d; G. Kodek, Zur Zweiseitigkeit des Rekursverfahrens, ÖJZ 2004, 534 [540 f]). Die Rekursbeantwortung der klagenden Parteien war daher samt der per Telefax übermittelten Ergänzung vom 6. 10. 2006 zurückzuweisen.

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