OGH 1Ob80/21b

OGH1Ob80/21b18.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Dr. Katharina Sedlazeck‑Gschaider, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen die beklagte Partei Land Salzburg, Salzburg, Chiemseehof, vertreten durch Dr. Harald Schwendinger und Dr. Brigitte Piber, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen 20.500 EUR sowie Feststellung (Streitwert 2.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 11. Februar 2021, GZ 4 R 136/20b-14, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 10. August 2020, GZ 7 Cg 7/20w‑10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132023

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger besuchte eine von der Beklagten geführte landwirtschaftliche Fachschule. Er verletzte sich bei der Benutzung einer Glastüre im Schulgebäude. Im Baubewilligungsbescheid der Salzburger Landesregierung aus 1994 war eine Verglasung der Türe mit Sicherheitsglas vorgeschrieben; tatsächlich wurde ein solches nicht verwendet. Mit Bescheid der Landesregierung aus 1998 wurde im Rahmen einer baupolizeilichen Überprüfung festgestellt, dass das Schulgebäude im Wesentlichen in Übereinstimmung mit der erteilten Baubewilligung errichtet wurde. Dass für die Tür kein Sicherheitsglas verwendet worden war, wurde nicht beanstandet.

[2] Der Kläger rechnet sich ein 50 %iges Mitverschulden am Unfall an und begehrt im Wege der Amtshaftung den Ersatz der verbleibenden Hälfte des ihm entstandenen Schadens sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden in diesem Ausmaß. Er stützt seine Ansprüche darauf, dass die Glastüre nicht den Regeln der Technik bzw den bei Errichtung des Schulgebäudes geltenden Bauvorschriften entsprochen habe und die Organe der beklagten Partei dies nicht überprüft hätten. Das beklagte Land hafte nicht nur als Schulerhalter sowie als Rechtsträger der Schulaufsicht sondern aufgrund der ihm mit Zuständigkeitsübertragungsverordnung der Salzburger Landesregierung vom 9. 12. 1968 (LGBl 98/1968) übertragenen Aufgaben auch als Baubehörde. Das Haftungsprivileg des Schulerhalters sei nach § 335 Abs 3 iVm § 333 Abs 1 ASVG insoweit nicht anzuwenden, als die beklagte Partei in ihrer Funktion als Schulaufsichtsbehörde sowie als Baubehörde tätig war. Im Übrigen sei ihren Organen auch ein wissentlicher Verstoß gegen Bauvorschriften vorzuwerfen.

[3] Das Erstgericht wies die Klage ab, weil § 333 ASVG die Haftung des Dienstgebers und ihm gleichgestellter Personen für Personenschäden infolge von Arbeitsunfällen auf Fälle vorsätzlicher Verursachung beschränkt und § 335 Abs 3 ASVG diese Regelung auf Unfälle unfallversicherter Schüler ausdehnt. Die beklagte Partei werde dadurch nicht nur in ihrer Funktion als Schulerhalter privilegiert, sondern auch in ihrer Eigenschaft als Schulaufsichts- sowie Baubehörde. Eine vorsätzliche Schädigung sei nicht erfolgt.

[4] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Haftungsprivileg des Schulerhalters beziehe sich auch auf das „in diesem Zusammenhang erfolgende baurechtliche und baupolizeiliche Verwaltungsgeschehen“. Entscheidend sei nur, ob sich der Unfall im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule ereignet habe, was hier der Fall gewesen sei. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil keine Rechtsprechung zur Frage bestehe, ob § 333 Abs 1 iVm § 335 Abs 3 ASVG bei einem Schulunfall auch Handlungen umfasst, die „außerhalb der eigentlichen Schulverwaltung liegen“, wie hier das behauptete Fehlverhalten von Organen der Landesregierung als Baubehörde.

Rechtliche Beurteilung

[5] Die ordentliche Revision des Klägers ist zulässig und mit ihrem Aufhebungsantrag berechtigt.

[6] 1. Gemäß § 333 Abs 1 ASVG ist der Dienstgeber dem Versicherten zum Ersatz des Schadens, der ihm durch eine Verletzung am Körper infolge eines Arbeitsunfalls entstanden ist, nur verpflichtet, wenn er den Unfall vorsätzlich verursacht hat. Nach ständiger Rechtsprechung umfasst dieser Haftungsausschluss alle Schäden, die durch eine Körperverletzung entstanden sind, ohne Rücksicht darauf, in welcher Form sie sich auswirken und wodurch sie ausgeglichen und behoben werden (vgl 2 Ob 38/08i; RIS‑Justiz RS0031306).

[7] 2. Ein entsprechendes Haftungsprivileg kommt gemäß § 335 Abs 3 ASVG bei Unfällen von in einem Ausbildungsverhältnis stehenden Pflichtversicherten dem Träger der Einrichtung zu, in der die Ausbildung erfolgt. Dieser steht dem Dienstgeber des § 333 ASVG gleich. Die Beschränkung der Haftpflicht kommt dann zum Tragen, wenn eine mit den Aufgaben des gesetzlichen Schulerhalters betraute Person für die Folgen eines Unfalls haften soll, für den – weil sich der Geschädigte im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule befand – Versicherungsschutz nach § 175 Abs 4 ASVG besteht (RS0050027 [T1 bis T3]). Privilegierter „Träger der Einrichtung“ nach § 335 Abs 3 ASVG ist jedenfalls der Schulerhalter (1 Ob 4/88). Daneben haftet auch jener Rechtsträger, dessen Vollzugsbereich die Ausbildungsleistung zugehört, wenn er nicht mit dem Schulerhalter ident ist (vgl 1 Ob 4/88; 1 Ob 251/03y).

3. Dass sich der Unfall des Klägers im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der seine (Unfall‑)Versicherung begründenden Schulausbildung ereignete, ist nicht strittig. Der Kläger wendet sich auch nicht dagegen, dass dem beklagten Bundesland in seiner Eigenschaft als Schulerhalter das Haftungsprivileg des § 333 ASVG iVm § 335 Abs 3 ASG (grundsätzlich) zusteht. Er steht jedoch auf dem Standpunkt, dass dessen Organen (welche dies konkret sein sollen, wird nicht ausgeführt) ein vorsätzliches Verhalten im Sinn des § 333 Abs 1 erster Satz ASVG vorzuwerfen sei. Sein Vorbringen bezieht sich aber – auch in der Revision – nur auf die vorsätzliche Verletzung baubehördlicher Vorschriften und nicht auf den Eintritt eines dadurch verursachten Schadens, was aber Voraussetzung für die Haftung nach der genannten Bestimmung wäre (vgl RS0085680 [T2, T3]).

[8] 4. Ob sich die beklagte Partei auch als Träger der Schulaufsicht auf § 333 iVm § 335 Abs 3 ASVG berufen kann, muss nicht näher geprüft werden, weil die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach eine Haftung für ihre in dieser Funktion tätigen Organe bereits daran scheitert, dass diese zu keiner „bautechnischen“ Überprüfung des Schulgebäudes verpflichtet waren, keiner Korrektur bedarf.

[9] Gemäß § 106 Abs 2 des Gesetzes vom 19. Mai 1976 über das land- und forstwirtschaftliche Berufs- und Fachschulwesen im Lande Salzburg (Salzburger LGBl Nr 57/1976; Salzburger Landwirtschaftliches Schulgesetz 1976) in der zum Unfallszeitpunkt geltenden Fassung hatte die Landesregierung als Schulbehörde nach § 105 leg cit die Aufsicht („Schulinspektion“) durchzuführen, insbesondere die Einhaltung des Lehrplans, die Unterrichtsführung, den Unterrichtserfolg und die erzieherische Tätigkeit der Lehrer (lit a), die Einhaltung der Vorschriften über die Ordnung von Unterricht und Erziehung (lit b) sowie den Zustand der Schule in räumlicher, ausstattungsmäßiger und schulhygienischer Beziehung (lit c) zu überwachen. Daraus kann nicht abgeleitet werden, dass die Überprüfung, ob die Errichtung des Schulgebäudes den (damals) geltenden Bauvorschriften entsprach, in deren Aufgabenbereich fällt, zumal die Verantwortlichkeit für die Errichtung und Erhaltung von Schulgebäuden in § 33 Abs 2 Salzburger Landwirtschaftliches Schulgesetz 1976 nicht der Schulbehörde, sondern dem Schulerhalter zugeordnet wurde (dem das Haftungsprivileg des § 333 Abs 1 iVm § 335 Abs 3 ASVG zukommt).

[10] 5. Soweit der Kläger die Haftung der beklagten Partei darauf stützt, dass ihr mit Zuständigkeitsübertragungsverordnung der Salzburger Landesregierung vom 9. 12. 1968 (LGBl 98/1968) Aufgaben der örtlichen Baupolizei übertragen wurden (gemäß § 1 Punkt II lit a leg cit unter anderem die Zuständigkeit zur Entscheidung über – wie unstrittig hier – auf Kosten des Landes geführte Bauvorhaben), steht ihr das Haftungsprivileg entgegen der Ansicht der Vorinstanzen nicht zu, weil ihre Organe insoweit nicht im Aufgabenbereich des Schulerhalters tätig wurden bzw sie der Kläger nicht als Träger der Ausbildungseinrichtung nach § 335 Abs 3 ASVG in Anspruch nimmt (zur Beschränkung des Haftungsprivilegs auf den Aufgabenbereich des Schulerhalters, bzw Ausbildungsträgers vgl auch Auer‑Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, SV‑Kommentar [2020] § 335 ASVG Rz 18; Hintermeier in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG Praxiskommentar [2019] § 335 ASVG Rz 4; Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek 4 § 335 ASVG Rz 4).

[11] Stets ist darauf abzustellen, in welcher Funktion der Rechtsträger vom Geschädigten in Anspruch genommen wird. Es würde einen Wertungswiderspruch begründen, könnte sich ein Rechtsträger nur deshalb auf die Haftungsbefreiung berufen, weil er auch Aufgaben als Schulerhalter bzw als Träger der Ausbildung erfüllt (und sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der Schulausbildung ereignete), obwohl die ihm vorgeworfene Pflichtverletzung in keinem Zusammenhang mit diesem Aufgabenbereich steht und einem Rechtsträger, dem nur dieser Aufgabenbereich und nicht auch jener des Schulerhalters oder Trägers der Ausbildungsleistung zugewiesen ist, der Haftungsausschluss des § 333 Abs 1 ASVG iVm § 335 Abs 3 ASVG nicht zukäme.

[12] 6. Da die Vorinstanzen zu Unrecht davon ausgingen, dass sich die beklagte Partei gemäß § 335 Abs 3 ASVG auch hinsichtlich des Vorwurfs, sie habe „als Baubehörde“ rechtswidrig gehandelt, auf diese Bestimmung berufen kann, ist die Rechtssache insoweit – wovon das Berufungsgericht selbst ausgeht – nicht entscheidungsreif. Entgegen der Auffassung der Revisionsgegnerin hat nicht der Geschädigte das Verschulden der Behördenorgane am inhaltlich unrichtigen Überprüfungsbescheid darzulegen (RS0049961; RS0049794). Die Entscheidungen sind daher aufzuheben und dem Erstgericht ist eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung zur Frage des insoweit behaupteten Behördenfehlers aufzutragen.

[13] 7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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