OGH 1Ob199/20a

OGH1Ob199/20a27.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der zu AZ 47 Cg 21/19v des Handelsgerichts Wien anhängigen Rechtssache der klagenden Partei L***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Bertram Broesigke, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei M***** GmbH, *****, vertreten durch Mag. Rupert Rausch, Rechtsanwalt in Wien, wegen Delegierung, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 18. September 2020, GZ 6 Nc 56/20p‑3, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00199.20A.1127.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.867,86 EUR (darin enthalten 311,31 EUR USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die klagende Gesellschaft wurde mit dem Dachgeschossausbau eines Zinshauses beauftragt. Das Haus gehört der Gesellschafterin und alleinigen Geschäftsführerin (in der Folge nur Gesellschafterin) der beklagten Gesellschaft. Nach Punkt 5. des dem Werkvertrag zugrundeliegenden Auftrags wurde dieser „vom Haus, von einer Privatperson und von einer Firma erteilt. Ein Teil wird vom Haus bezahlt, die Rechnungslegung für den Rest soll daher auf folgende Weise erfolgen: 1/3 der Gesamtrechnungssumme wird ausgestellt auf: [die Beklagte] 2/3 … auf: [die Gesellschafterin]“.

[2] Die Klägerin klagte die Gesellschafterin auf Zahlung von 2/3 des offenen Werklohns beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien und die beklagte Gesellschaft auf Zahlung von 1/3 des offenen Werklohns beim Handelsgericht Wien.

[3] Die beklagte Gesellschaft beantragte die Delegation der Rechtssache vom Handelsgericht Wien an das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien gemäß § 31 JN mit der Begründung, die in den einzelnen Verfahren beklagten Parteien wären bei gemeinsamer Inanspruchnahme materielle Streitgenossen, sodass aufgrund des Gerichtsstands des § 93 Abs 1 JN auch das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien für die Beklagte sachlich zuständig sein könne. Durch eine Delegation und anschließende Verbindung der Verfahren könne eine Verkürzung und Verbilligung des Verfahrens erreicht werden. Vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien seien bereits umfangreiche Schriftsätze zur Sache erstattet worden. Nach Beiziehung eines Sachverständigen sei die Verhandlung zur Fällung eines die Klage teilweise abweisenden Teilurteils geschlossen worden. Es könne auf diesem Verfahrensstand aufgebaut und ein zügiger Abschluss beider Verfahren erreicht werden. Ohne die Delegation wären zwei in der Sache idente Verfahren abzuführen.

[4] Die Klägerin sprach sich gegen eine Zuständigkeitsübertragung aus. Im Verfahren vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien habe noch keine Beweisaufnahme stattgefunden. Das Gericht habe lediglich die unrichtige Ansicht vertreten, dass sie ihrer Rechnungslegungspflicht nicht nachgekommen sei. Das Teilurteil werde sie mit – zwischenzeitig tatsächlich eingebrachter – Berufung bekämpfen. Mit der baldigen Durchführung eines Beweisverfahrens sei daher nicht zu rechnen.

[5] Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien wies mit Teilurteil vom 20. 8. 2020 die wegen Zahlung von 104.001,67 EUR sA anhängige Klage gegen die Gesellschafterin mangels ordnungsgemäßer Rechnungslegung hinsichtlich eines Betrags von 76.480,92 EUR sA ab.

[6] Das Oberlandesgericht Wien erachtete die Delegation für nicht zweckmäßig und wies den Delgierungsantrag ab. Es erläuterte, dass Leitgedanke der Prozessverbindung zur gemeinsamen Verhandlung die Verfahrensökonomie sei. Die Möglichkeit der Prozessverbindung diene der Konzentration, Vereinfachung und Verbilligung sowie einer sach- und ergebnisorientierten Gliederung der betreffenden Verfahren. Eine Verbindung von Rechtsstreiten schaffe eine Grundlage dafür, dass die darin zu klärenden Tat- und Rechtsfragen widerspruchsfrei gelöst und damit – insbesondere in Verbindung mit dem durch § 404 Abs 2 ZPO ermöglichten gemeinschaftlichen Urteil – einander widersprechende Entscheidungen vermieden werden könnten. Die Verbindung von Rechtssachen, die in verschiedenen Instanzen anhängig sind, komme aber nicht in Betracht. Die Voraussetzung der Anhängigkeit „bei einem Gericht“ müsse nicht nur örtliches Kriterium, sondern auch als Erfordernis derselben aktuellen funktionellen Zuständigkeit gesehen werden. Berücksichtige man, dass das Verfahren des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien aufgrund des Teilurteils vom 20. 8. 2020 zumindest teilweise, wenn auch noch nicht rechtskräftig, beendet sei und die Beklagte die Einbringung einer Berufung in Aussicht gestellt hat, wäre die gleiche funktionelle Zuständigkeit für beide Rechtssachen zumindest nicht im vollen Umfang gegeben und bereits deshalb die Zulässigkeit einer Verbindung zweifelhaft.

[7] Dass es in Anbetracht des Verfahrensstands bei einer Delegation zu einer schnelleren und kostensparenderen Erledigung dieser Rechtssache käme und die Zuständigkeitsübertragung im Interesse beider Parteien läge, sei daher – jedenfalls derzeit – nicht evident.

[8] Gegen diesen Beschluss wendet sich der Rekurs der Beklagten, mit dem sie weiterhin die Delegierung an das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien anstrebt.

[9] Die Klägerin begehrt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] 1. Der Rekurs ist unabhängig vom Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage zulässig, weil das Oberlandesgericht funktional in erster Instanz entschieden hat (RIS-Justiz RS0116349); er ist aber nicht berechtigt.

[11] 2. Gemäß § 31 JN kann aus Gründen der Zweckmäßigkeit auf Antrag einer Partei anstelle des zuständigen Gerichts ein anderes Gericht gleicher Gattung zur Verhandlung und Entscheidung bestimmt werden. Über einen solchen Antrag entscheidet, wenn sowohl das angerufene Gericht wie auch dasjenige, an welches das Verfahren nach dem Antrag delegiert werden soll, im selben Oberlandesgerichtssprengel liegen, das zuständige Oberlandesgericht (§ 31 Abs 1 JN).

[12] 3. Das Gericht, das über den Delegierungsantrag zu entscheiden hat, hat nach § 31 Abs 3 JN dem Gerichte, welches zur Verhandlung oder Entscheidung an sich zuständig wäre, sowie den Parteien unter Bestimmung einer Frist die „zur Aufklärung nöthigen“ Äußerungen abzufordern.

[13] Auch wenn es richtig ist, dass das Oberlandesgericht Wien vom Handelsgericht Wien keine Erklärung nach § 31 Abs 3 JN abverlangte, liegt ein Verfahrensmangel nicht vor. Die Entscheidung über den Delegierungsantrag erfordert dann keine weitere „Aufklärung“ nach § 31 Abs 3 JN, wenn sich das Vorlagegericht nur zu dem bereits bekannten Akteninhalt äußern könnte (RS0112499 [T4]). Bisher hat im Verfahren vor dem Handelsgericht Wien noch keine Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung stattgefunden. Es ist im vorliegenden Fall weder ersichtlich, zu welcher weiteren Erkenntnis seine Äußerung führen könnte (vgl RS0113776 [T2, T3]), noch vermag die Beklagte dies darzulegen. Dessen Äusserung ist nicht „nötig“ im Sinne des § 31 Abs 3 JN.

[14] 4. Zweckmäßig ist eine Delegierung, wenn die Zuständigkeitsübertragung an das andere Gericht zu einer wesentlichen Verkürzung des Prozesses, zur Erleichterung des Gerichtszugangs und der Amtstätigkeit oder zu einer wesentlichen Verbilligung des Rechtsstreits beitragen kann (vgl RS0046333 [T1]; RS0053169). Sie ist Ausnahmefall, darf nicht durch großzügige Handhabung zu einer faktischen Durchbrechung der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung führen (RS0046589 [T1, T2]) und daher nur nach strenger Prüfung der Zweckmäßigkeit zulässig (RS0118569). Lässt sich die Frage der Zweckmäßigkeit nicht eindeutig zugunsten beider Parteien lösen und hat – wie hier – eine Partei der Delegation widersprochen, so ist sie abzulehnen (RS0046589; RS0046333 [T7, T32]; RS0053169 [T31] uva).

[15] 5. Auch kommt eine Delegierung nur so lange in Frage, als (im zu delegierenden Verfahren) noch eine Verhandlung durchzuführen und eine Entscheidung zu fällen ist, nicht mehr aber, wenn die Verhandlung geschlossen oder das Verfahren überhaupt bereits rechtskräftig beendet ist (RS0046213; RS0046312; vgl auch RS0046224). Dies muss umgekehrt auch für den Fall gelten, dass zwar nicht das zu delegierende Verfahren, aber jenes, mit dem es verbunden werden soll, so weit fortgeschritten ist und die angestrebte Prozessverbindung der einzige Grund für den Delegationsantrag ist. Angesichts des Umstands, dass im Verfahren vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien, dessen (im Übrigen nicht zwingende) Verbindung mit dem Verfahren vor dem Handelsgericht Wien die Beklagte anstrebt, ein Teilurteil über den Großteil der geltend gemachten Forderung ergangen ist und eine Berufung gegen das Urteil (noch dazu verbunden mit einem Ablehnungsantrag) eingebracht wurde, kann bei der geforderten strengen Prüfung die Zweckmäßigkeit der Delegation nicht bejaht werden, ist doch damit eine wesentliche Verkürzung der Verfahrensdauer gerade nicht zu erwarten, sondern eher das Gegenteil. Zweckmäßig im Sinne des § 31 JN ist eine Delegation nicht, wenn zwar im Bereich einer Beurteilungskomponente „Vorteile“ gegeben sein mögen (hier etwa betreffend die Einvernahme von Parteien und Zeugen, wobei erwähnt sei, dass die Beiziehung eines Sachverständigen im Verfahren vor dem Handelsgericht Wien derzeit weder beantragt, noch evident notwendig ist), sich aus der Verbindung des Prozesses aber gleichzeitig nicht unbeachtliche „Nachteile“ (hier in zeitlicher Hinsicht) für das allenfalls zu delegierende Verfahren ergeben.

[16] 6. Ist der Rekurs schon deswegen nicht berechtigt, bedarf die Frage, ob nach den Klageangaben (vgl RS0035340) überhaupt die Delgierungsvoraussetzung eines Gerichts gleicher Gattung (§ 31 Abs 1 JN) gegeben wäre, keiner Erörterung, worauf bereits im angefochtenen Beschluss hingewiesen wurde.

[17] 7. Die Entscheidung über die Kosten der Rekursbeantwortung im zweiseitigen Rekursverfahren über die Delegierung (RS0119172 [T1]) beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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