OGH 1Ob14/12h

OGH1Ob14/12h1.3.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj R***** W*****, vertreten durch Dr. Hans Kröppel, Rechtsanwalt in Kindberg, gegen die beklagte Partei Land Steiermark, vertreten durch Dr. Arno R. Lerchbaumer, Rechtsanwalt in Graz, wegen 7.000 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 5.000 EUR) gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 14. September 2011, GZ 6 R 310/10t-78, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 26. August 2010, GZ 210 C 2258/08x-67, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist weiters schuldig, der beklagten Partei die mit 1.908,10 EUR (darin 648 EUR Barauslagen und 210,02 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger wurde im Alter von siebzehn Monaten das erste Mal gegen Mumps, Masern und Röteln geimpft, wobei es zu keinen Komplikationen kam. Für die zweite Impfung im Rahmen einer Schulimpfaktion, die von einer bei der Beklagten beschäftigten Amtsärztin durchgeführt wurde, wurde der Impfstoff „Priorix“ verwendet. Seine Eltern hatten der Impfung zugestimmt, nachdem sie vom Sanitätsreferat der Bezirkshauptmannschaft eine Information über die Impfung erhalten hatten, die unter anderem folgenden Passus enthält:„Die MMR-Impfung erfolgt mit einem sehr gut verträglichen Kombinationslebendimpfstoff und wird subcutan verabreicht. Ein leichter Schnupfen, eine leichte Verkühlung stellt kein Hindernis für die Impfung dar. Für einen 100%igen Impfschutz bis zum Erwachsenenalter sollten alle Kinder und Jugendliche 2 MMR-Impfungen erhalten. Die erste Impfung wird im Kleinkindalter ab dem 14. Lebensmonat verabreicht, in Einzelfällen wird auch bereits vor Eintritt in die Volksschule die 2. MMR-Impfung verabreicht. Geimpft werden nur jene Kinder, die noch keine oder erst eine MMR-Impfung erhalten haben.“ In dieser Information wurden weiters die möglichen Folgen einer Masern-, Mumps- oder Rötelerkrankung (ua Lungen-, Gehirn- und Mittelohrentzündungen, Unfruchtbarkeit etc) dargestellt. Eine persönliche Aufklärung der Eltern über die vom Obersten Sanitätsrat empfohlene Impfung erfolgte nicht.

Zehn Tage nach der Impfung wurde beim Kläger eine akute Immunthrombozytopenie Purpura (ITP) festgestellt, worauf eine einwöchige stationäre Behandlung erfolgte. Der Kläger musste für rund vierzehn Tage das Bett hüten und über einen Zeitraum von insgesamt drei Monaten diverse Einschränkungen (Schonung, Verbot der Teilnahme am Turnunterricht, Unterlassen von gefährlichen Tätigkeiten, die zu Verletzungen führen könnten) erdulden, die mit der Zeit gelockert wurden. Er besuchte insgesamt rund zwei Monate die Schule nicht. Nach rund drei Monaten durfte er auch wieder am Turnunterricht teilnehmen und es waren keine weiteren Einschränkungen mehr erforderlich. Er erlitt insgesamt (komprimiert berechnet) sieben Tage starke und 38 Tage mittlere Schmerzen. ITP ist im Beipacktext des Impfstoffs als sehr seltene Nebenwirkung ausgewiesen. Die Wahrscheinlichkeit daran zu erkranken, liegt bei der ersten Teilimpfung zwischen 1 : 40.000 und 1 : 22.300. Die erste Teilimpfung führt bei 97 % der Geimpften zu einer erfolgreichen Antikörperantwort. Um diesen Prozentsatz wird die Wahrscheinlichkeit, dass es bei der zweiten Impfung zu einer Erkrankung an ITP kommt, reduziert. Allgemein sind mehr als 70 % aller Fälle von ITP Folge einer Virusinfektion. Ob die Eltern des Klägers die Einwilligung zur (zweiten) Impfung erteilt hätten, wenn sie über die Möglichkeit des Auftretens einer ITP-Erkrankung als Folge der Impfung aufgeklärt worden wären, konnte nicht festgestellt werden.

Der Kläger begehrte letztlich 7.000 EUR Schmerzengeld, weil die Beklagte und deren Organe auf die Möglichkeit einer ITP-Erkrankung als Folge der Impfung nicht hingewiesen und auch keine Untersuchung auf Impfverträglichkeit vorgenommen hätten. Im Informationsblatt seien nur die positiven Wirkungen der Impfung unterstrichen worden, was die Eltern des Klägers zu einem Einverständnis bewogen habe.

Die Beklagte wandte im Wesentlichen ein, die eingetretenen Gesundheitsschäden seien nicht auf die verabreichte Impfung zurückzuführen. Nach der (unproblematischen) Erstimpfung sei die Wahrscheinlichkeit einer solchen Folge der zweiten Impfung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Sollte tatsächlich die Impfung die Erkrankung hervorgerufen haben, handle es sich um einen unvorhersehbaren schicksalshaften Verlauf. Die vorgenommene Aufklärung der Eltern sei ausreichend gewesen. Eine Aufklärung über mögliche schädliche Folgen einer Behandlung sei dann nicht erforderlich, wenn die Schäden in äußerst seltenen Fällen auftreten und anzunehmen sei, dass sie bei einem verständigen Patienten für seinen Entschluss, in die Behandlung einzuwilligen, nicht ernsthaft ins Gewicht fielen. Auch bei ausreichender Aufklärung hätten die Eltern die Zustimmung zur Impfung erteilt, zumal das Krankheitsbild nur in äußerst seltenen Fällen auftrete.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Eine Aufklärung über mögliche schädliche Folgen einer Behandlung sei dann nicht erforderlich, wenn solche Schäden nur in äußerst seltenen Fällen auftreten und anzunehmen sei, dass sie für einen verständigen Patienten bei seinem Entschluss, in die Behandlung einzuwilligen, nicht ernsthaft ins Gewicht fielen. Die Aufklärungspflicht des Arztes sei umso umfassender, je weniger die Maßnahme dringlich oder geboten erscheine. Im vorliegenden Fall habe die Wahrscheinlichkeit, nach der ersten Teilimpfung an ITP zu erkranken, 1 : 40.000 bis 1 : 22.300, also 0,0025 bis 0,0045 %, betragen. Die Wahrscheinlichkeit einer derartigen Erkrankung als Folge der zweiten Teilimpfung sei noch einmal um 97 % geringer und betrage damit nur noch zwischen 0,000075 und 0,000135 %. Berücksichtige man die äußerst geringe Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung durch die zweite Teilimpfung sowie die Gefahren, die Masern-, Mumps- oder Rötelerkrankungen mit sich bringen (beispielsweise Tod, Mittelohrentzündung, Lungenentzündung, körperliche oder geistige Behinderung, Gehirnentzündung, Schwellung und Entzündung der Hoden, Unfruchtbarkeit) so zeige sich, dass eine solche Aufklärung bei einem verständigen Patienten bzw dessen gesetzliche Vertreter für den Entschluss, in die Behandlung einzuwilligen, nicht ernsthaft ins Gewicht fallen könne. Es liege daher im Ergebnis kein kausaler Aufklärungsfehler vor.

Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im Sinne einer Klagestattgebung im Umfang von 5.000 EUR samt Zinsen ab und bestätigte die Abweisung des Mehrbegehrens; es erklärte die ordentliche Revision letztlich für zulässig. Die von der Beklagten bestrittene Kausalität der Impfung für die eingetretene Erkrankung sei zu bejahen, lasse sich doch aus dem Sachverständigengutachten ergänzend feststellen, dass sich die beim Kläger aufgetretene Symptomatik nicht durch andere Infektionen oder Medikamentenverabreichungen erklären lasse, auch wenn es sich um eine sehr seltene Nebenwirkung handle. Ob eine Pflicht zur Aufklärung über die (äußerst unwahrscheinliche) Erkrankung an ITP als Folge der Impfung bestanden habe, sei danach zu beurteilen, ob die sich beim Kläger schließlich verwirklichte Nebenwirkung bei einem verständigen Patienten bei seinem Entschluss, in die Impfung einzuwilligen, ernsthaft ins Gewicht falle. Dabei sei auch ins Kalkül zu ziehen, dass die Aufklärungspflicht um so umfassender sei, je weniger die Maßnahme dringlich oder gar geboten erscheine. Grundgedanke der Aufklärungspflicht sei, dass der Patient gerade bei einer nicht vordringlichen Behandlung entsprechend seinem Selbstbestimmungsrecht in die Lage versetzt werden solle, die Risiken der Behandlung vor seiner Zustimmung einzuschätzen. Selbst auf die Möglichkeit äußerst seltener Nebenwirkungen sei dann hinzuweisen, wenn für den Eingriff aus medizinischer Sicht keine Dringlichkeit oder überhaupt keine zwingende Indikation bestehe. Die Aufklärung bezwecke, den Patienten überhaupt in die Lage zu versetzen, eine Risikoabwägung durchzuführen. Bei der Frage, ob ein Patient die Behandlung dennoch durchführen hätte lassen, sei nicht auf den verständigen Patienten, sondern darauf abzustellen, ob sich der Patient in seiner höchstpersönlichen Entscheidungsfreiheit für die Behandlung entschieden hätte. Mangels Dringlichkeit der Impfung und der damit einhergehenden umfassenden Aufklärungspflicht wäre im vorliegenden Fall auch auf solche äußerst seltenen, aber um so gravierenderen Risken zumindest hinzuweisen gewesen. Die Aufklärung über die beim Kläger eingetretene Nebenwirkung wäre hier geboten gewesen, zumal diese auch im Beipackzettel des verabreichten Impfstoffs erwähnt worden sei und gegenüber den Eltern der Eindruck der völligen Ungefährlichkeit der Impfung erweckt worden sei. Der angesichts der feststehenden Aufklärungspflichtverletzung erforderliche Beweis, dass die Eltern auch bei entsprechender Aufklärung in die Impfung eingewilligt hätten, sei der Beklagten nicht gelungen. Die Revision sei zulässig, weil der Oberste Gerichtshof die Frage, wie weit die Aufklärungspflicht im Zusammenhang mit (Vorsorgeschutz-)Impfungen gehe, unterschiedlich beantwortet habe, diese aber von großem rechtlichen und auch öffentlichen Interesse sei.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Revision der Beklagten ist zulässig und berechtigt.

Zutreffend haben die Vorinstanzen auf die herrschende Rechtsprechung hingewiesen, wonach die Pflicht des Arztes zur Aufklärung um so umfassender ist, je weniger dringlich der vorgesehene Eingriff erscheint (RIS-Justiz RS0026772), wobei dieser Grundsatz auch für die Aufklärung vor einer Impfung gilt (T3). Ebenso wurde in einer Vielzahl von höchstgerichtlichen Entscheidungen ausgesprochen, dass die Frage des Umfangs der ärztlichen Aufklärungspflicht stets nur im Einzelfall entschieden werden kann und der Arzt nicht auf alle nur denkbaren Folgen der Behandlung hinweisen muss (RIS-Justiz RS0026529). Die Anforderungen an den Umfang der Aufklärung des Patienten über mögliche schädliche Auswirkungen könne nicht einheitlich, sondern nach den Gesichtspunkten gewissenhafter ärztlicher Übung und Erfahrung den Umständen des Einzelfalls und den Besonderheiten des Krankheitsbildes Rechnung tragend ermittelt werden. Es könnten auch keine Prozentsätze (Promillesätze) dafür angegeben werden, bei welcher Wahrscheinlichkeit von Schädigungen eine Aufklärungspflicht nicht mehr besteht (RIS-Justiz RS0026529 [T4, T9]). Die Aufklärungspflicht sei aber jedenfalls verletzt, wenn bei einer nicht notwendigen Operation über ein Infektionsrisiko von immerhin 3,5 bis 5 % (8 Ob 646/92) oder bei einer nicht zwingend notwendigen Operation über ein 3%iges Risiko von Lähmungserscheinungen (8 Ob 103/01g) nicht aufgeklärt wird.

Auch bei medizinischen Behandlungen oder Eingriffen, die zwar nicht im engsten Sinn des Wortes dringlich sind, aber doch im Regelfall zu deutlichen gesundheitlichen Vorteilen gegenüber einer Unterlassung der Maßnahme führen, ist nicht auf jede nur denkbare nachteilige Konsequenz hinzuweisen. Gerade in solchen Fällen ist auch zu bedenken, dass Patienten durch das Aufzählen von verschiedenen - jeweils höchst unwahrscheinlichen - denkbaren Nebenwirkungen davon abgehalten werden könnten, eine an sich sinnvolle und in der Regel gesundheitsfördernde Maßnahme vornehmen zu lassen, zumal eine Vielzahl von Patienten auch mit Wahrscheinlichkeitsangaben im 10.000stel- oder 100.000stel-Bereich nichts anfangen kann.

Wenn der Kläger - wie wohl auch das Berufungsgericht - eine Widersprüchlichkeit in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs darin zu erkennen vermeint, dass einerseits darauf abgestellt wird, ob eine Information (über äußerst seltene Nebenwirkungen) bei der Entscheidungsbildung eines verständigen Patienten ernsthaft ins Gewicht fiele, und andererseits für den Fall der Verletzung der Aufklärungspflicht dem Arzt die Beweislast dafür auferlegt wird, dass der konkrete Patient auch bei ausreichender Aufklärung die Zustimmung erteilt hätte, unterliegt er offenbar einem grundsätzlichen Irrtum. Auf den konkreten Patienten ist nach der dargestellten Rechtsprechung eben nur abzustellen, wenn eine Aufklärungspflichtverletzung bejaht wird. Damit steht es keinesfalls im Widerspruch, für den Umfang der Aufklärungspflicht auf einen verständigen Patienten abzustellen und zu fragen, welche Informationen für eine ausreichend abgewogene freie Willensentscheidung typischerweise erforderlich sind.

Im vorliegenden Fall steht fest, dass das Risiko für den Kläger, nach der in Rede stehenden Impfung an ITP zu erkranken, höchstens zwischen 0,025 und 0,045 % lag, und das auch nur dann, wenn er zur Gruppe von 3 % jener Geimpften gehörte, die nach der ersten Teilimpfung noch keine erfolgreiche Antikörperantwort erhalten hatten. Rein rechnerisch lag die Erkrankungswahrscheinlichkeit daher überhaupt nur zwischen 0,000075 und 0,000135 %.

Berücksichtigt man nun die allgemein bekannten Vorteile eines Impfschutzes gegen Masern, Mumps und Röteln, mit dem die nachteiligen Folgen dieser Infektionskrankheiten verhindert werden können - die Impfung wird vom BM für Gesundheit und Frauen ausdrücklich empfohlen (§ 1 v BGBl II 2003/223 und 2006/526 iVm § 1b Abs 2 ImpfschadenG) -, vermag der erkennende Senat der Beurteilung des Berufungsgerichts nicht zu folgen, dass das äußerst geringe Risiko, als Folge der zweiten Impfung an ITP zu erkranken, bei einem verständigen Impfkandidaten - bzw bei Impfungen im Kindesalter bei seinen Eltern - für die Entscheidung, sich der Impfung zu unterziehen oder diese zu unterlassen, bei vernünftiger Abwägung ins Gewicht gefallen wäre. War nun auf das (geringe) Risiko einer ITP-Erkrankung als Impffolge nicht hinzuweisen, ist die klageabweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens zweiter und dritter Instanz beruht auf den §§ 50 Abs 1, 41 Abs 1 ZPO, wobei die Bemessungsgrundlage für die Revision nur 5.000 EUR beträgt.

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