European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0150OS00095.24W.1209.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Grundrechte
Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Gründe:
[1] Mit Beschluss vom (richtig:) 5. November 2023, GZ 313 HR 10/22a-97, erklärte das Landesgericht für Strafsachen Wien die Auslieferung der albanischen Staatsangehörigen * G* zur Strafverfolgung an die Republik Albanien wegen der im Auslieferungsersuchen vom 26. Mai 2022 beschriebenen Tatvorwürfe, die der ersuchende Staat als aktive Korruption hoher staatlicher oder regional gewählter Amtsträger begangen in Mittäterschaft nach Art 245 und 25 albanisches Strafgesetzbuch sowie Wäsche von Erträgen aus Straftaten oder kriminellen Tätigkeiten nach Art 287 lit a und b ausgeführt unter den als in Mittäterschaft qualifizierten Umständen nach Art 287 Abs 2 albanisches Strafgesetzbuch qualifizierte, für zulässig.
[2] Der dagegen erhobenen Beschwerde der Betroffenen gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 9. April 2024, AZ 22 Bs 305/23y, nicht Folge.
[3] Mit dem auf beide Entscheidungen bezogenen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wendet G* Verletzungen der Art 2, 3, 6 und 8 MRK sowie solche nach dem StGG und dem B‑VG ein.
Rechtliche Beurteilung
[4] Dem Antrag kommt keine Berechtigung zu.
[5] Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten Erneuerungsantrag (RIS‑Justiz RS0122228) gelten alle bezogen auf die Anrufung dieses Gerichtshofs normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737 [T1], RS0128394).
[6] Soweit sich der Antrag – inhaltlich, teilweise unsubstantiiert – auch gegen den erstinstanzlichen Beschluss richtet, verfehlt er den Bezugspunkt (RIS‑Justiz RS0124739 [T2], RS0122737 [T41]).
[7] Ein Antrag auf Erneuerung des Verfahrens kann auch im (wie hier) erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO – dessen Wortlaut folgend – nur wegen einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle gestellt werden (RIS‑Justiz RS0132365), wobei nur eine Prüfung auf Grundrechtsstufe (Grobprüfung) und keine Auseinandersetzung nach Art einer zusätzlichen Beschwerde- oder Berufungsinstanz im Sinn einer Feinprüfung auf Gesetzesstufe stattfindet (RIS‑Justiz RS0129606 [T2, T3]; Rebisant, WK‑StPO §§ 363a bis 363c Rz 42 f).
[8] Demnach hat das Antragsvorbringen, soweit es sich auf eine Verletzung nationaler Grundrechte (Art 2 StGG iVm Art 7 B-VG) oder Garantien der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art 47 f GRC) bezieht, auf sich zu beruhen (RIS‑Justiz RS0132365 [T2]).
[9] Verfahren über die Auslieferung fallen als solche grundsätzlich nicht in den Schutzbereich des Art 6 MRK, weil in ihnen nicht über die „Stichhaltigkeit“ einer „strafrechtlichen Anklage“ im Sinn der Konvention entschieden wird (RIS‑Justiz RS0132638, RS0123200 [insb T3]; Göth‑Flemmich/Riffel in WK2 ARHG § 19 Rz 14 mwN). Gegenteiliges wird anhand der von der Erneuerungswerberin (isoliert) zitierten Literaturmeinungen nicht nachgewiesen und ist den dort angeführten Aussagen des EGMR (9. 4. 2015, 30460/13, A.T. gegen Luxemburg) und des Verfassungsgerichtshofs (2. 7. 2016, SV 3/2015) auch nicht zu entnehmen (so bereits 15 Os 63/22m Rz 9).
[10] Auf die unter dem Aspekt des Art 6 Abs 1 MRK behaupteten Begründungsdefizite (insb Willkür; siehe dazu RIS‑Justiz RS0129981) und Rechtsfehler (vgl RIS‑Justiz RS0129606) des bekämpften Beschlusses des Oberlandesgerichts ist daher nicht näher einzugehen (15 Os 63/22m Rz 10).
[11] Die Verfahrensgarantien des Art 6 MRK können für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nur dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) droht (RIS‑Justiz RS0123200; Göth‑Flemmich/Riffel in WK2 ARHG § 19 Rz 14 mwN).
[12] Zum Nachweis einer Verletzung von Art 6 MRK im Strafverfahren des ersuchenden Staats sind substantiierte Gründe vorzubringen. Ein pauschaler Einwand mangelnder Rechtsstaatlichkeit genügt ebenso wenig wie der Umstand, dass es im Zielland in der Vergangenheit regelmäßig Konventionsverstöße gab (RIS‑Justiz RS0123200 [T9]; Göth‑Flemmich/Riffel in WK2 ARHG § 19 Rz 15).
[13] Eine insoweit konkret drohende Konventionsverletzung wird mit der Behauptung, die Antragstellerin sei in Albanien „in Abwesenheit verurteilt worden“ und würde dort aufgrund politischer Motive zufolge ihrer familiären Verbindungen (insbesondere ihres Lebensgefährten) verfolgt werden, nicht dargetan. Neuerungen zum Sachverhalt sind nicht Sache des Erneuerungsverfahrens (13 Os 44/21a Rz 13).
[14] Auch der Hinweis auf eine zu erwartende überlange Verfahrensdauer sowie Verdachtslagen gegen einen albanischen Staatsanwalt und eine solche Richterin stellen keine substantiierten Gründe für die Annahme einer offenkundigen Verweigerung eines fairen Verfahrens für die Betroffenein Albaniendar.
[15] Die weiteren Antragsausführungen kritisieren bloß die Beschwerdeannahmen nach Art einer weiteren – nicht bestehenden – Beschwerdeinstanz. Ferner setzt sich die Kritik über weite Teilenicht mit der Argumentation der als grundrechtswidrig reklamierten Entscheidung des Oberlandesgerichts auseinander (siehe dazu die im Folgenden zitierten Fundstellen in der bekämpften Entscheidung).
[16] Da die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Erneuerungswerbergezielt und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein, hat ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu sehen sei (RIS‑Justiz RS0122737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in sämtlichen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS‑Justiz RS0124359) und – soweit er (auf Basis der Gesamtheit der Entscheidungsgründe) nicht Begründungsmängel aufzuzeigen oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen zu wecken vermag – seiner Argumentation die Sachverhaltsannahmen der bekämpften Entscheidung zugrunde zu legen (RIS‑Justiz RS0125393 [T1]).
[17] Indem die Erneuerungswerberin unter der Überschrift „Zum Tatverdacht“ vorbringt, das Beschwerdegericht habe sich mit dem Einwand der wiederholten Strafverfolgung (ne bis in idem) nicht (ausreichend) auseinandergesetzt (siehe aber BS 7 ff), verfehlt sie den dargestellten Bezugspunkt. Ferner wird die Verletzung eines Grundrechts durch die bekämpfte Entscheidung dadurch nicht anhand der Sachverhaltsannahmen des Beschwerdegerichts deutlich und bestimmt angesprochen, sondern lediglich die Beschwerdeentscheidung kritisiert.
[18] Eben dies trifft auf das weitere Vorbringen zu, das das Bestehen eines Tatverdachts einer auslieferungsfähigen strafbaren Handlung in Abrede stellt und dabei der (Schlüssigkeits-)Prüfung des Beschwerdegerichts (vgl RIS‑Justiz RS0125233, RS0087119 [T2]) bloß den eigenen Prozessstandpunkt entgegen hält.
[19] Die Kritik vorweggreifender Beweiswürdigung wegen unterlassener Prüfung des im Beschwerdeverfahren vorgelegten „Beweismaterials“, insbesondere des Country Risk Reports, sowie wegen unterbliebener Beischaffung einer aktuellen Staatendokumentation und des vollständigen Auslieferungsakts aus Albanien verkennt, dass Urkunden, die der Annahme des Tatverdachts allenfalls entgegenstehen könnten, diesen aber noch nicht unmittelbar und zweifelsfrei entkräften, keine Prüfpflicht des ersuchten Staats auslösen (RIS-Justiz RS0125233) und die (insofern auch angesprochene) Garantie des Art 6 MRK im Auslieferungsverfahren selbst keine Anwendung findet (siehe neuerlich RIS‑Justiz RS0123200 [T2, T3 und T15]).
[20] In Fällen, in denen der Erneuerungswerber hinsichtlich einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sowohl eine Verletzung des Art 3 als auch eine des Art 2 MRK rügt, prüft der EGMR – und daran anschließend der Oberste Gerichtshof – regelmäßig nur Art 3 MRK, weil sich der jeweilige Lebenssachverhalt und die zugrunde liegenden Gefährdungen nicht voneinander trennen lassen (13 Os 44/21a Rz 5 mwN).
[21] Unter dem Aspekt des Art 3 MRK kann eine Auslieferung für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn ein konkretes Risiko besteht, dass die betroffene Person im Empfangsstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt wird, die die Schwelle zur unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung erreicht und daher mit Art 3 MRK unvereinbar ist (RIS‑Justiz RS0123229; Göth‑Flemmich/Riffel in WK2 ARHG § 19 Rz 7 mwN). Die betroffene Person hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr einer Art 3 MRK nicht entsprechenden Behandlung schlüssig nachzuweisen, wobei der Nachweis hinreichend konkret sein muss. Dabei muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein reales, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko bestehen, sie würde im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein (RIS‑Justiz RS0123229, RS0123201; Göth‑Flemmich/Riffel in WK2 ARHG § 19 Rz 8 mwN).
[22] Der Nachweis konkreter Anhaltspunkte und stichhaltiger Gründe erscheint nur verzichtbar, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (RIS‑Justiz RS0123229 [T12]).
[23] Mit dem Vorbringen zur allgemeinen Lage im Zielland in Ansehung politischer Einflussnahme auf die Medienberichterstattung (siehe dazu BS 4, BS 10) sowie dem Hinweis auf „systematische, rezente Menschenrechtsverletzungen durch Albanien“ und der fehlenden Bereitschaft, Vorwürfe einer Verletzung von Art 3 MRK aufzuklären (siehe dazu BS 13 f) wird eine konkrete, die Antragstellerin treffende, ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ebenso wenig dargetan wie eine in Albanien herrschende Praxis ständiger Menschenrechtsverletzungen.
[24] Haftbedingungen verletzen Art 3 MRK, wenn sie erhebliches psychisches oder physisches Leid verursachen, die Menschenwürde beeinträchtigen oder Gefühle von Demütigung und Erniedrigung erwecken (vgl RIS‑Justiz RS0123229 [T4], RS0125074).
[25] Auch mit dem anhand einer aktuellen Länderinformation der Staatendokumentation unterstütztem Vorbringen zu den allgemeinen Haftbedingungen in Albanien (insbesondere in Ansehung psychisch kranker Häftlinge) und der angeblichen Korruption in allen Bereichen der albanischen Justiz sowie hetzerischer medialer Berichterstattung in Ansehung der Antragstellerin und ihres Lebensgefährten wird ein konkretes, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung nicht aufgezeigt (siehe dazu auch BS 4 und BS 15 f).
[26] Die weitere Kritik an der aus Sicht der Antragstellerin „unvollständigen und aktenwidrigen“ Auseinandersetzung des Beschwerdegerichts mit von ihr vorgelegten Urkunden argumentiert neuerlich außerhalb des eröffneten Anfechtungsrahmens. Aktenwidrigkeit begründet nämlich nur die unrichtige Wiedergabe des Inhalts von Beweismitteln, deren Wertung hingegen erfolgt – auch bei Beschlüssen (vgl Lendl, WK‑StPO § 258 Rz 18) – im Rahmen des § 258 Abs 2 StPO (BS 14 zur Staatendokumentation; RIS‑Justiz RS0099431). Unvollständig ist ein Beschluss dann, wenn das Gericht bei der zu den entscheidenden Sachverhaltsannahmen angestellten Beweiswürdigung erhebliche Verfahrensergebnisse unberücksichtigt ließ (§ 89 Abs 2a Z 3 StPO; vgl RIS‑Justiz RS0132725). Hierzu übt die Erneuerungswerberin lediglich unzulässige Beweiswürdigungskritik an den vom Beschwerdegericht gezogenen Schlussfolgerungen.
[27] Der Schutz des Familienlebens im Sinn des Art 8 MRK kann unter bestimmten Umständen einer Auslieferung entgegenstehen, wenn die betroffene Person im Aufenthaltsstaat persönliche oder familiäre Bindungen hat, die ausreichend stark sind und durch die Auslieferung beeinträchtigt würden. Bei der zufolge Art 8 Abs 2 MRK erforderlichen Notwendigkeits‑ und Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass den Interessen der betroffenen Person das öffentliche Interesse des ersuchenden Staats an der Verfolgung bereits begangener Straftaten gegenübersteht, sodass eine Auslieferung nur unter außergewöhnlichen Umständen ungerechtfertigt oder unverhältnismäßig ist (RIS‑Justiz RS0123230; Göth‑Flemmich/Riffel in WK2 ARHG § 22 Rz 6 mwN).
[28] Dass sich die Erneuerungswerberin als albanische Staatsangehörige seit Juli 2021 mit zwei minderjährigen Kindern und ihrem Lebensgefährten in Wien aufhalte, einer geregelten Beschäftigung nachgehe, sich wohlverhalten habe und – wie ihre Kinder – sozial integriert sei, legt nicht dar, weshalb das Beschwerdegericht die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs (Art 8 Abs 2 EMRK; BS 15 ff) auf dieser Sachverhaltsbasis zu Unrecht bejaht haben sollte.
[29] Der Erneuerungsantrag war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).
[30] Für eine Hemmung des Vollzugs der Übergabe (vgl RIS‑Justiz RS0125705) bestand (wegen offenbarer Aussichtslosigkeit des Antrags) kein Anlass.
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