OGH 15Os72/95

OGH15Os72/9522.6.1995

Der Oberste Gerichtshof hat am 22.Juni 1995 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kuch, Mag.Strieder, Dr.Rouschal und Dr.Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr.Radichevich als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Winfried Wilhelm D***** wegen des Verbrechens nach § 12 Abs 1 vierter Fall, Abs 2 erster Satz erster Fall SGG und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Schöffengericht vom 20. Februar 1995, GZ 35 Vr 1486/94-102, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

Gemäß § 390 a StPO fallen dem Angeklagten auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil, das auch unbekämpft gebliebene Teilfreisprüche enthält, wurde Winfried Wilhelm D***** des Verbrechens nach § 12 Abs 1 vierter Fall, Abs 2 erster Satz erster Fall SGG (A), des Vergehens nach § 16 Abs 1 vierter und fünfter Fall SGG (B) sowie des Finanzvergehens der gewerbsmäßigen Abgabenhehlerei nach §§ 37 Abs 1 lit a, 38 Abs 1 lit a FinStrG (C) schuldig erkannt und hiefür einerseits nach § 12 Abs 2 SGG, § 28 StGB zu einer Freiheitsstrafe, andererseits nach § 38 Abs 1 FinStrG zu einer Geldstrafe verurteilt.

Danach hat er in Innsbruck und anderen Orten

(zu A) zwischen Ende 1992 und Juni 1994 den bestehenden Vorschriften zuwider Suchtgift in einer großen Menge, nämlich mindestens 125 Gramm Heroin (mit einem Reinheitsgehalt von 25 %, sohin 31,25 Gramm reine Heroinbase), durch gewerbsmäßigen Verkauf an 36 im Urteil namentlich genannte abgesondert verfolgte Personen (darunter auch an seine frühere Lebensgefährtin Alexandra R***** und an Erich S*****) sowie an weitere namentlich nicht bekannte Drogenkonsumenten in Verkehr gesetzt;

(zu B) zwischen Mitte 1991 und Juni 1994 außer den Fällen der §§ 12 und 14 a SGG den bestehenden Vorschriften zuwider ein Suchtgift, nämlich nicht näher feststellbare Mengen Heroin, für den Eigengebrauch erworben und besessen;

(zu C) durch die unter Punkt A angeführten Handlungen vorsätzlich und gewerbsmäßig mindestens 125 Gramm Heroin ausländischer Herkunft im Wert von 312.500 S, auf welches Eingangsabgaben in Höhe von 78.437 S entfallen und hinsichtlich dessen von (seinem Bruder) Christoph D***** bzw von nicht bekannten Personen ein Schmuggel begangen worden ist, verhandelt.

Rechtliche Beurteilung

Diesen Schuldspruch bekämpft der Angeklagte mit einer auf die Z 3, 5 a, 9 lit a und 10 des § 281 Abs 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde, den Strafausspruch mit Berufung.

Vorweg ist festzustellen, daß Punkt 1. der Rechtsmittelanträge (98/IV) zwar dahin geht, "das angefochtene Urteil zu beheben", sich somit auf alle Schuldspruchsfakten bezieht; zum Schuldspruch wegen des Vergehens nach § 16 Abs 1 StGB (B) finden sich jedoch weder in der Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde (ON 103) noch in der Rechtsmittelschrift sachbezogene Ausführungen, weshalb es der Beschwerde insoweit an der gebotenen deutlichen und bestimmten Bezeichnung jener Tatumstände gebricht, die die Nichtigkeitsgründe bilden sollen (§ 285 a Z 2 StPO).

Eine Urteilsnichtigkeit nach der erstbezeichneten Gesetzesstelle (Z 3) erblickt der Beschwerdeführer darin, daß in der Hauptverhandlung vom 20.Februar 1995 die sicherheitsbehördliche Niederschrift des inzwischen verstorbenen Erich S***** (211 ff/II) gegen den Widerspruch des Verteidigers verlesen und dieses Beweisergebnis auch im Urteil verwertet worden sei; solcherart habe das Erstgericht aber sowohl gegen das im § 252 Abs 4 StPO statuierte (Nichtigkeit begründende) Umgehungsverbot als auch gegen den (im Art 6 Abs 3 lit d EMRK verankerten) Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen.

Die Rüge versagt; denn gemäß § 252 Abs 1 Z 1 StPO dürfen unter anderem gerichtliche und sonstige amtliche Protokolle über die Vernehmung von Zeugen dann verlesen werden, wenn - wie hier - der Vernommene in der Zwischenzeit gestorben ist. Allein daraus erhellt, daß der Vorsitzende des Schöffengerichtes durch die gerügte Vorgangsweise keineswegs gegen das Umgehungsverbot des § 252 Abs 4 StPO verstoßen konnte, weil sich dieses Umgehungsverbot (nur) auf die Fälle erstreckt, in denen das Protokoll über eine Aussage nicht verlesen werden darf (vgl die Gesetzesmaterialien, zitiert bei Pleischl/Soyer Strafprozeßordnung in der Fassung des Strafprozeßänderungsgesetzes 1993 S 179).

Der Bezugnahme des Beschwerdeführers (der Sache nach) auf Art 6 Abs 3 lit d EMRK genügt es zu entgegnen, daß das Recht eines Angeklagten, die Vernehmung von Zeugen zu erwirken, nach der Rechtsprechung der Straßburger Instanzen und des Obersten Gerichtshofes kein absolutes ist, sofern weitere, die - (auch) ohne Beisein des Angeklagten oder eines Verteidigers - in einem früheren Verfahrensstadium gemachten Angaben des Zeugen bestärkende Beweise vorliegen, was insbesondere dann gilt, wenn das Beweismittel (der Zeuge) - wie hier - infolge seines Todes nunmehr unerreichbar ist (vgl in diesem Sinn für viele 15 Os 45/94 = RZ 1995/16 und 15 Os 112/94 mit Judikatur- und Literaturhinweisen insbesondere aus der Rechtsprechung der Straßburger Instanzen).

Vorliegend hat das Schöffengericht im Sinne dieser Judikatur das dem bekämpften Schuldspruch laut Punkt A des Urteilssatzes zugrunde gelegte Inverkehrsetzen einer Suchtgiftmenge von mindestens 125 Gramm Heroin ohnehin auf eine Reihe anderer gewichtiger Beweisergebnisse gestützt, vor allem auf das Geständnis des Angeklagten selbst, demzufolge er insgesamt 100 bis 150 Gramm Heroin in Verkehr gesetzt hat, ferner auf die Erhebungen der Sicherheitsbehörden und verschiedene Zeugenaussagen (vgl US 9 dritter Absatz, 15 unten bis 16 oben, 17 dritter Absatz und 18 unten bis 19 erster Absatz) und damit das - zwar als zutreffend beurteilte - seinerzeitige Vorbringen des Zeugen Stefan S***** (US 15 zweiter Absatz) im Ergebnis keineswegs als ausschließliches Beweismittel für die Konstatierung des Ausmaßes des an S***** weitergegebenen Giftes herangezogen.

Nach dem Inhalt der Tatsachenrüge (Z 5 a) "sei "davon auszugehen, daß schwerwiegende, die Verpflichtung zur amtswegigen Wahrheitsforschung ignorierende Verfahrensmängel vorliegen und ist das Verfahren daher nichtig", weil die Zeugin Alexandra R***** (die vormalige Lebensgefährtin des Beschwerdeführers) in der Hauptverhandlung nach ihrer Belehrung gemäß § 152 Abs 1 Z 1 StPO zwar Angaben gemacht habe (22/IV), im Urteil sei aber (nach Meinung des Nichtigkeitswerbers) unrichtig und unbekämpfbar festgestellt, daß sie sich "berechtigt der Aussage entschlagen" habe (US 14 unten); das Erstgericht setzte sich mit den ihr vom Angeklagten immer wieder kostenlos übergebenen Heroinmengen überhaupt nicht auseinander; bei pflichtgemäßer amtswegiger Erforschung der Wahrheit hätte es (im Hinblick auf den Vorwurf gewerbsmäßigen Inverkehrsetzens von Heroin) "zur Feststellung kommen müssen", daß er einen "erheblichen Teil" des Suchtgiftes kostenlos an R***** weitergegeben habe.

Soweit sich in einem Teil dieser Einwände - der Sache nach - der Vorwurf eines Feststellungsmangels nach § 281 Abs 1 Z 10 StPO zu verbergen scheint, ist der materiell-rechtliche Nichtigkeitsgrund nicht gesetzmäßig ausgeführt; denn der Beschwerdeführer übergeht unzulässig die gegenteilige - formell einwandfrei begründete - Urteilskonstatierung (US 14 unten), wonach sich die der R***** "insgesamt [kostenlos] übergebene Menge nicht näher quantifizieren läßt", weil der Angeklagte das nicht anzugeben vermochte oder wollte und weil sich R***** (im Gegensatz zu ihrer sicherheitsbehördlichen Vernehmung; 55 ff/II - zu dieser Frage) berechtigt der Aussage entschlagen hat.

Zum Kernproblem der Beweisrüge genügt der Hinweis auf die klare Bestimmung des § 152 Abs 4 StPO, derzufolge auch ein bloß "teilweises" Zeugnisentschlagungsrecht besteht, "wenn sich der Grund für die Zeugnisentschlagung nur auf einen von mehreren Sachverhalten bezieht" (in dem hier aktuellen Fall: bloß auf den eigenen Heroinerwerb der Zeugin R*****) und - wie hier - eine Sonderungsmöglichkeit der Aussagenkomplexe besteht (vgl 20 f/IV). Im Hinblick auf den von der Staatsanwaltschaft Innsbruck gegen Alexandra R***** gestellten Verfolgungsantrag wegen § 12 SGG (vgl 3 uu f des Antrags- und Verfügungsbogens) bejahte das Schöffengericht fallbezogen auch zutreffend die (partielle) Entschlagungsberechtigung dieser Zeugin.

Im übrigen könnte die (nach Ansicht des Angeklagten) ungerechtfertigte Entschlagung eines Zeugen nur unter den Voraussetzungen des § 281 Abs 1 Z 4 und Abs 5 StPO erfolgreich bekämpft werden. Dazu ist der Beschwerdeführer vorliegend aber mangels eines entsprechenden Antrages in der Hauptverhandlung, über seinen erhobenen Widerspruch einen Beschluß des Gerichtshofes herbeizuführen (vgl 28/IV), nicht legitimiert (vgl ua 13 Os 30/95, 14 Os 82/94 sowie Mayerhofer/Rieder StPO3 § 152 E 12 und 16 sowie § 281 Z 4 E 153 mit weiteren Judikaturhinweisen).

Nach Prüfung der gesamten Aktenlage durch den Obersten Gerichtshof - unter besonderer Berücksichtigung der Beschwerdeeinwände - vermag der Nichtigkeitswerber demnach weder schwerwiegende, dem Erfordernis eines konventionskonformen fairen Verfahrens widersprechende und unter Außerachtlassung der Pflicht zur amtswegigen Wahrheitsforschung zustande gekommene Mängel in der Sachverhaltsermittlung aufzuzeigen, noch auf aktenkundige Beweisergebnisse hinzuweisen, die nach den Denkgesetzen oder nach der allgemeinen menschlichen Erfahrung Zweifel - geschweige denn erheblicher Art - gegen die Richtigkeit der Beweiswürdigung in entscheidungswesentlichen Fragen aufkommen lassen (Mayerhofer/Rieder aaO § 281 Z 5 a E 4 f), noch einen sonst unter Nichtigkeitssanktion stehenden Verfahrensfehler darzutun.

Die Rechtsrügen (Z 9 lit a und Z 10 - der Sache nach nur Z 10 -) reklamieren Feststellungsmängel, und zwar darüber, daß einerseits bei der Hausdurchsuchung in der Wohnung des Angeklagten "weder Suchtgift noch Geldmittel" gefunden wurden, andererseits "welche Menge" die Zeugin R***** vom Angeklagten erhalten hat, und schließlich, daß der (seit Jahren suchtgiftergebene) Angeklagte die ihm angelasteten Straftaten nur deshalb begangen hat, um "ausschließlich" seine eigene

Sucht zu befriedigen; bei richtiger rechtlicher Beurteilung - so folgert die Beschwerde daraus sinngemäß - hätte das Erstgericht daher den Angeklagten "gemäß § 12 Abs 2 zweiter Absatz (gemeint zweiter Satz) SGG für schuldig erkennen müssen", zumal er sowohl von seiner Familie als auch von seiner damaligen Lebensgefährtin R***** finanziell unterstützt wurde und er die ihm zur Last gelegten Taten "ausschließlich deshalb begangen hat, um sich für den eigenen Gebrauch Suchtgift zu verschaffen".

Mit diesem Vorbringen argumentiert der Nichtigkeitswerber indes nicht nur an der Aktenlage (vgl 13/IV: bei der Hausdurchsuchung wurde zwar kein Suchtgift, jedoch eine Vielzahl gebrauchter Suchtgiftbestecke und eine elektronische Waage der Marke Tanita 7020 vorgefunden, die auf einen Grammpreis von 3.200 S programmiert war) vorbei, sondern übergeht schlichtweg auch alle auf der Basis der gesamten Verfahrensergebnisse - insbesonders der geständigen Verantwortung des Angeklagten - in freier Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) getroffenen und mängelfrei begründeten Urteilskonstatierungen zur subjektiven und objektiven Tatseite (US 17 ff), welche die erstgerichtliche Annahme, der heroinergebene (US 16 f) Winfried D***** habe das inkriminierte Suchtgiftverbrechen gewerbsmäßig und keineswegs ausschließlich deshalb verübt, um sich für den eigenen Gebrauch Suchtgift oder die Mittel zu dessen Erwerb zu verschaffen, zu tragen vermögen.

Unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Geltendmachung eines materiell-rechtlichen Nichtigkeitsgrundes ist aber auch bei behaupteten Feststellungsmängeln das Festhalten am gesamten wesentlichen Sachverhaltssubstrat, der Vergleich mit dem darauf angewendeten Gesetz und der darauf gegründete Nachweis eines Rechtsirrtums oder Rechtsfehlers. Indem die Beschwerde diesem Gebot nicht gerecht wird, verfehlt sie die prozeßordnungsgemäße Darstellung der geltend gemachten materiell-rechtlichen Nichtigkeitsgründe und bekämpft in Wahrheit bloß - nach Art einer gegen kollegialgerichtliche Urteile unzulässigen - Schuldberufung die tatrichterliche Lösung der Schuldfrage.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher gemäß § 285 d Abs 1 Z 1 und Z 2 iVm § 285 a Z 2 StPO teils als nicht gesetzmäßig ausgeführt, teils als offenbar unbegründet schon bei einer nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen.

Daraus folgt die Kompetenz des Oberlandesgerichtes Innsbruck zur Entscheidung über die Berufung (§ 285 i StPO).

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