OGH 15Os43/23x

OGH15Os43/23x29.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Juni 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz, Dr. Mann und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Eschenbacher in der Strafsache gegen *E* wegen Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Schöffengericht vom 15. November 2022, GZ 22 Hv 17/22y‑55, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0150OS00043.23X.0629.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Sexualdelikte

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * E* jeweils mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I./1./, 2./ und 4./), in einem Fall (I./3./) auch nach § 15 StGB sowie des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (II./1./ und 2./) und jeweils mehrerer Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 1 StGB (III./), des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (IV./) sowie der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB (V./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in L* im Zeitraum von Februar/März 2020 bis 23. Juni 2021

I./ mit der am * 2010 geborenen, sohin unmündigen S* En* den Beischlaf und dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen und (zu I./3./) zu unternehmen versucht, indem er

1./ in wiederholten Angriffen ihr in den Intimbereich griff und seinen Finger in ihre Vagina einführte;

2./ im Mai 2021 den Analverkehr an ihr vollzog und bei einem weiteren Angriff im Juni 2021 mit seinem Penis anal in sie eindrang;

3./ den Vaginalverkehr an ihr zu vollziehen versuchte;

4./ von ihr einen Oralverkehr an sich vornehmen ließ;

II./ außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen

1./ an S* En* vorgenommen, indem er ihr mehrfach auf die Scheide griff und seine Hand kreisend bewegte;

2./ von S* En* an sich vornehmen lassen, nämlich einen Handverkehr;

III./ eine Handlung, die geeignet ist, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen unter 16 Jahren zu gefährden, vor S* En* vorgenommen, um sich dadurch geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, indem er mehrfach vor ihr onanierte und ihr dabei zumindest bei zwei Gelegenheiten Pornofilme zeigte;

IV./ durch die zu I./ und II./ beschriebenen Taten mit einer mit ihm in absteigender Linie verwandten minderjährigen Person, nämlich seiner Tochter, geschlechtliche Handlungen vorgenommen und von dieser an sich vornehmen lassen;

V./ S* En* wiederholt durch die sinngemäße Äußerung, dass sie niemandem von den zu I./ bis III./ angeführten Taten erzählen dürfe, weil sie sonst „im Heim lande“, sohin durch gefährliche Drohung mit einer Verletzung an der Freiheit zur Abstandnahme, sich jemandem anzuvertrauen, genötigt.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3, 4 und 5 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

[4] Die Verfahrensrüge (Z 3) behauptet einen Verstoß gegen § 252 Abs 1 StPO, weil das im Verfahren AZ 7 C 17/21p des Bezirksgerichts Linz aufgenommene Protokoll der Vernehmung der S* En* sowie der in diesem Verfahren ergangene Beschluss vom 19. Juli 2021 (ON 14a S 7 und 16 f) verlesen worden seien, obwohl der genannte Beschluss Feststellungen enthalte, die aus den Vernehmungen der Zeuginnen S* und M* En* stammen würden, wobei die Zeugin M* En* im Strafverfahren überdies von ihrem Aussagebefreiungsrecht nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO Gebrauch gemacht habe. Sie scheitert daran, dass „der gesamte Akteninhalt“ gemäß § 252 Abs 2a StPO, „und zwar die Niederschriften nach [§ 252] Abs 1 Z 4 StPO und die sonstigen Unterlagen nach [§ 252] Abs 2 StPO“, „einverständlich resümeehaft vorgetragen“ wurden (ON 53 S 4). Da die Zustimmung des Angeklagten zu einem Vortrag gemäß § 252 Abs 2a StPO dessen Einverständnis (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO) beinhaltet, dass die vom Vortrag umfassten Aktenstücke in der Hauptverhandlung vorkommen (§ 258 Abs 1 StPO), bestand das in § 252 Abs 1 StPO normierte Verlesungs- und Vorführverbot gegenständlich nicht (RIS-Justiz RS0127712).

[5] Entgegen der weiteren Verfahrensrüge (Z 4) wurde der Angeklagte durch die Abweisung (ON 53 S 7 f) seines Antrags auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens zur Glaubwürdigkeit der Zeugin S* En* (ON 43  S 15) in seinen Verteidigungsrechten nicht verletzt. Die Rüge scheitert schon daran, dass im Antrag nicht dargetan wurde, dass die Zeugin die Zustimmung zu einer psychologischen Untersuchung erteilen würde (RIS-Justiz RS0097584, RS0108614). Im Übrigen ist die Hilfestellung durch einen Sachverständigen bei der Prüfung der Glaubwürdigkeit einer Zeugin nur bei – durch Beweisergebnisse indizierten – Bedenken gegen deren allgemeine Wahrnehmungs- und Wiedergabefähigkeit oder deren (vom Einzelfall unabhängige) Aussageehrlichkeit sowie bei Anhaltspunkten für eine psychische Erkrankung, Entwicklungsstörung oder einen sonstigen erheblichen Defekt der Zeugin erforderlich (RIS-Justiz RS0097733, RS0120634). Anhaltspunkte für eine solche Ausnahmekonstellation zeigte der Antrag mit dem Vorbringen, die Zeugin habe im Rahmen der kontradiktorischen Vernehmung „die Schilderungen im Großen und Ganzen völlig emotionslos“ erstattet, sie habe „nur nervös [...] aber nicht traurig oder betrübt“ gewirkt, sodass es auch sein könne, „dass das die subjektive Wahrheit ist“, aber nicht auf, sodass er im Ergebnis auf eine (im Hauptverfahren unzulässige) Aufnahme eines Erkundungsbeweises abzielte (RIS-Justiz RS0097576).

[6] Der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) zuwider musste sich das Erstgericht – über die (ausführlichen) Erwägungen zur Glaubwürdigkeit der Zeugin S* En*(US 10 ff) hinaus – unter dem Aspekt von Unvollständigkeit nicht gesondert mit den Angaben derselben in der zu AZ 7 C 17/21p des Bezirksgerichts Linz abgehaltenen Tagsatzung vom 4. August 2021 (ON 11 S 9 f) auseinandersetzen. Denn die dort getätigten Aussagen des Opfers, wonach sie „schon viele Sachen gesehen“ habe, „zum Beispiel ein Mann und ein Mann oder eine Frau und eine Frau“, „wie die sich halt geliebt haben“, „In der Stadt zum Beispiel oder so, am LGBTQ Tag“ und „Ja, im Film, halt in Filmen“, betreffen lediglich die bisherigen Erfahrungen des Opfers mit dem Thema Sexualität und damit (schon) kein erhebliches Verfahrensergebnis, also nicht ein solches, das geeignet ist, die dem Gericht durch die Gesamtheit der übrigen Beweisergebnisse vermittelte Einschätzung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer (für die Schuldfrage oder die Subsumtion relevante und solcherart) entscheidende Tatsache maßgebend zu beeinflussen (RIS-Justiz RS0116877 [T1]). Indem die Beschwerde argumentiert, die ins Treffen geführten Aussagen seien „oftmals gerade nicht kindlich“, was den Erwägungen der Tatrichter (US 11) widerspreche, übt sie in unzulässiger Form Beweiswürdigungskritik.

[7] Gleiches gilt, soweit vorgebracht wird, die (als übergangen reklamierten) Überlegungen des Opfers unmittelbar nach den Tathandlungen (ON 11 S 9) würden ebenso dem vom Gericht angenommenen kindlichen Gedankengang widersprechen, wie die sinngemäße Aussage der Zeugin S* En* (ON 11 S 15), sie habe dem Vater gesagt, wenn er mit den Taten nicht aufhöre, werde sie es ihrer Mama sagen und dann müsse er ins Gefängnis gehen, wobei ihr egal sei, ob es Beweise gebe oder nicht.

[8] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§ 285i StPO).

[9] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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