European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0150OS00036.21I.0915.000
Spruch:
Im Verfahren AZ 4 U 99/02i des Bezirksgerichts Villach verletzen
1./ die Verfügung der Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung und des Antrags auf Bestrafung vom 26. November 2002 an den Angeklagten in deutscher Sprache ohne Anschluss einer Übersetzung zumindest der wesentlichen Passagen der Urkunden in die griechische Sprache § 38a StPO idF BGBl 1993/526 iVm Art 6 Abs 3 lit a und e MRK;
2./ die Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils am 26. Februar 2003 in Abwesenheit des Angeklagten § 459 StPO idF BGBl 1975/631;
3./ das Unterlassen einer Protokollführung über die Hauptverhandlung vom 26. Februar 2003 § 271 Abs 1 StPO idF BGBl 1997/105 iVm § 447 StPO idF BGBl 1993/526;
4./ die Verfügung der Zustellung des Abwesenheitsurteils samt Rechtsmittelbelehrung in deutscher Sprache an den Angeklagten ohne Anschluss einer Übersetzung in die griechische Sprache § 56 Abs 1 und 3 StPO iVm Art 5 Abs 3 des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Villach vom 26. Februar 2003, GZ 4 U 99/02i‑4, wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Bezirksgericht verwiesen.
Gründe:
[1] Mit Antrag auf Bestrafung vom 30. Oktober 2002 (ON 3) legte die Staatsanwaltschaft Klagenfurt im Verfahren AZ 4 U 99/02i des Bezirksgerichts Villach ***** C***** das Vergehen der Urkundenfälschung nach § 223 Abs 2 StGB zur Last. Danach habe er am 10. Juli 2002 auf der Südautobahn A2 als Lenker eines LKW‑Zuges eine verfälschte Urkunde, nämlich eine mit sieben nachgemachten ÖKO‑Punkten versehene ÖKO‑Karte, durch Vorweisen anlässlich der Zollkontrolle im Rechtsverkehr zum Beweis seiner Berechtigung zur Transitfahrt durch Österreich gebraucht.
[2] Der Beschuldigte griechischer Staatsangehörigkeit war zu diesem Vorwurf von Beamten der Zollwachabteilung A***** als Verdächtiger befragt worden, wobei er einen in Griechenland gelegenen Hauptwohnsitz bekannt gab und die Einvernahme in englischer Sprache erfolgte (ON 2 S 7, 13 und 15).
[3] Für die für den 26. Februar 2003 anberaumte Hauptverhandlung verfügte der zuständige Bezirksrichter am 26. November 2002 die Zustellung der Ladung des Angeklagten über das Amtsgericht S***** in Deutschland im Rechtshilfeweg (ON 1 S 1). Trotz entsprechender Indikation unterblieb eine Übersetzung des Ladungsformulars und des Antrags auf Bestrafung in eine für den Angeklagten verständliche Sprache.
[4] Mit Abwesenheitsurteil vom 26. Februar 2003 wurde ***** C***** anklagekonform schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen á 15 Euro verurteilt (ON 4).
[5] Ein Protokoll über die Hauptverhandlung vom selben Tag wurde nach der Aktenlage nicht aufgenommen.
[6] Die Zustellung des Urteils zu eigenen Handen an den Angeklagten konnte in der Folge nicht bewerkstelligt werden (vgl ON 5). Erst im Jahr 2020 wurde dessen Adresse in N*****/Deutschland bekannt (ON 16), woraufhin die nunmehr zuständige Richterin mit Verfügungen vom 20. Februar 2020 und 3. April 2020 die Zustellung des Abwesenheitsurteils samt Rechtsmittelbelehrung – abermals ohne Übersetzung – im Postweg mit internationalem Rückschein veranlasste (ON 1 S 4).
[7] Aufgrund eines mit C***** geführten Telefonats ersuchte die Bezirksrichterin schließlich das Amtsgericht N***** im Rechtshilfeweg um Erhebung, ob dieser der deutschen Sprache hinreichend mächtig sei. Seine diesbezügliche Anhörung ergab, dass eine Verständigung nur über den beigezogenen Dolmetscher für die griechische Sprache möglich war (ON 19).
Rechtliche Beurteilung
[8] Im Verfahren AZ 4 U 99/02i des Bezirksgerichts Villach wurde das Gesetz – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt – mehrfach verletzt.
[9] 1./ Gemäß § 38a StPO idF BGBl 1993/526 war dem Beschuldigten, wenn er der Gerichtssprache nicht hinreichend kundig war, Übersetzungshilfe zu leisten, soweit dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem zur Wahrung der Verteidigungsrechte, erforderlich war. Diese einfachgesetzliche Bestimmung trug dem Verfassungsgrundsatz des fairen Verfahrens im Sinn des Art 6 Abs 3 lit a und e MRK Rechnung, wonach jede angeklagte Person innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung zu unterrichten ist sowie unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher erhalten muss, wenn sie die Verhandlungssprache nicht versteht oder spricht (vgl dazu Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 24 Rn 113 f, 136 f).
[10] Ob die Sprachkenntnisse des Beschuldigten hinreichend sind, hatte das Gericht zu prüfen und im Zweifel für Übersetzungshilfe zu sorgen. Die Pflicht zur Bekanntgabe von Verfügungen und Anträgen schloss jene zur Übersetzung ein, wobei die jeweiligen Formvorschriften, insbesondere Schriftlichkeit, auch für fremdsprachige Beschuldigte galten. Da Anklageschrift bzw Strafantrag schriftlich einzubringen und zuzustellen sind, waren sie auch nach der damaligen Gesetzeslage in derselben Form, also schriftlich, zu übersetzen (vgl Achammer, WK‑StPO altes Vorverfahren § 38a Rz 2 ff, 10, 16).
[11] Die vom Bezirksgericht verfügte Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung und des Antrags auf Bestrafung ohne Anschluss dessen Übersetzung an den Angeklagten trotz aktenkundigen Hinweises auf dessen mangelnde Kenntnis der deutschen Sprache widersprach daher dem Gesetz.
[12] 2./ Zufolge unwirksamer Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung waren die in § 459 StPO idF BGBl 1975/631 festgelegten Voraussetzungen für deren Durchführung und Fällung des Abwesenheitsurteils nicht erfüllt (RIS‑Justiz RS0117621). Diese – auch mit dem prozessualen Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 6 MRK) unvereinbare – Gesetzesverletzung gereicht dem Angeklagten zum Nachteil.
[13] 3./ Über die Hauptverhandlung ist auch im bezirksgerichtlichen Verfahren (§ 447 StPO) ein vom Vorsitzenden und vom Schriftführer zu unterschreibendes Protokoll aufzunehmen (§ 271 Abs 1 StPO [idF BGBl 1997/105]), um dem Rechtsmittelgericht eine Überprüfung der Richtigkeit des Urteils zu ermöglichen (Danek/Mann, WK‑StPO § 271 Rz 3). Dieser Verpflichtung ist das Bezirksgericht Villach nicht nachgekommen.
[14] 4./ Liegen anlässlich der Zustellung einer Urkunde im Sinn des Art 5 Abs 1 des Vertrags über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU‑RHÜ; BGBl III 2005/65) Anhaltspunkte dafür vor, dass der Empfänger der Sprache, in der die Urkunde verfasst ist, unkundig ist, so ist gemäß Art 5 Abs 3 EU‑RHÜ die Übersetzung der Urkunde – oder zumindest deren wesentlicher Inhalt – in die Sprache des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet er sich aufhält, oder in eine andere Sprache, deren der Empfänger kundig ist, zu veranlassen (15 Os 57/11p).
[15] Die Beurteilung, ob die Sprachkenntnisse des Beschuldigten ausreichend sind, obliegt auch nach Maßgabe des § 56 StPO – als grundsätzlich weiterreichende Nachfolgebestimmung des § 38a StPO vor BGBl 2004/19 – dem Gericht (vgl Bachner‑Foregger, WK‑StPO § 56 Rz 11). Wesentliche Aktenstücke, zu welchen unter anderem die Ausfertigung des nicht rechtskräftigen Urteils zählt (Abs 3 leg cit), sind, soweit dies zur Wahrung der Verteidigungsrechte und eines fairen Verfahrens erforderlich ist, dem Beschuldigten schriftlich zu übersetzen (Abs 1 leg cit). Die die Zustellung des Abwesenheitsurteils samt Rechtsmittelbelehrung an den Angeklagten ausschließlich in deutscher Sprache anordnenden Verfügungen des Bezirksgerichts Villach vom 20. Februar 2020 und 3. April 2020 stehen daher mit dem Gesetz nicht in Einklang.
[16] Da sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, das Abwesenheitsurteil vom 26. Februar 2003 aufzuheben und die Sache in diesem Umfang an das Erstgericht zu verweisen (§ 292 letzter Satz StPO).
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