OGH 15Os123/12w

OGH15Os123/12w12.12.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. Dezember 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Dr. Michel‑Kwapinski und Mag. Fürnkranz als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Krausam als Schriftführerin in der Strafsache gegen Reinhold S***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 14. Mai 2012, GZ 25 Hv 3/12f‑15, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch II., demnach auch im Strafausspruch und im Privatbeteiligtenzuspruch aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache in diesem Umfang an das Landesgericht Innsbruck verwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde zurückgewiesen.

Mit ihren Berufungen werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Reinhold S***** (zu I.) der Vergehen der Blutschande nach § 211 Abs 2 StGB und (zu II.) des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er im Zeitraum vom 31. Mai bis 30. Juli 2011

I. in W***** seine leibliche Tochter Nadja L*****, sohin eine Person, mit der er in absteigender Linie verwandt ist, wiederholt zum Geschlechtsverkehr verführt, indem er ihr mehrfach zu verstehen gab, dass sie wieder alleine sein werde, wenn sie etwas erzähle, er sich in sie verliebt habe und nicht ohne sie leben könne;

II. an einer unbekannten Örtlichkeit im Zuge einer Fernfahrt nach Deutschland bzw Italien Nadja L***** mit Gewalt zum Beischlaf genötigt, indem er sie in seinem LKW an den Haaren zerrte, ihr die Hose entgegen ihrem Willen und obwohl sie diese am Gürtel festhielt, herunterriss, ihre Abwehrhandlungen durch einen Schlag mit der flachen Hand in das Gesicht unterband und sodann gegen ihren Willen den Geschlechtsverkehr an ihr vollzog.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen wendet sich die auf Z 4 und 5a des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der teilweise Berechtigung zukommt.

Das Verfahren gegen den Angeklagten wurde ursprünglich (nur) wegen des Verdachts der Blutschande nach § 211 StGB geführt. Im dazu erstatteten Abschlussbericht der Polizeiinspektion W***** an die Staatsanwaltschaft Innsbruck wird dem Angeklagten zur Last gelegt, er habe als leiblicher Vater Nadja L***** im Zeitraum vom 30. Mai bis zum 30. Juli 2011 zum Geschlechtsverkehr und zu anderen geschlechtlichen Handlungen verführt. Zu diesem Vorwurf war der Angeklagte insoweit geständig, als er den Beischlaf mit seiner Tochter zugab.

Über Antrag der Staatsanwaltschaft beraumte das Landesgericht Innsbruck für den 3. November 2011 die kontradiktorische Zeugenvernehmung der Nadja L***** zum Thema „Verdacht der Blutschande durch Reinhold S*****“ an. Zu diesem Termin wurde auch der Angeklagte mit dem Beisatz: „Es wird Ihnen Gelegenheit zur Teilnahme an der kontradiktorischen Einvernahme der Zeugin Nadja L***** gemäß § 165 Abs 1 und 2 StPO gegeben.“ geladen (ON 1 S 5). In der Folge wurde die Beweistagsatzung auf den 17. November 2011 verlegt und an diesem Tag ‑ in Abwesenheit des nicht erschienenen, von der Verlegung laut VJ‑Register jedoch verständigten Angeklagten ‑ auch durchgeführt (ON 4).

Zu diesem Zeitpunkt war der Angeklagte nicht durch einen Anwalt vertreten; die Bestellung eines Amtsverteidigers erfolgte erst im Februar 2012 (ON 8).

Erstmals im Rahmen der kontradiktorischen Vernehmung erhob die Zeugin L***** den Vorwurf einer gewaltsamen Nötigung zum Geschlechtsverkehr durch Reinhold S*****. Dies legte die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten in der Anklageschrift vom 4. Jänner 2012 (ON 5) als Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB zur Last (Punkt II. des Anklagetenors).

In der Hauptverhandlung am 14. Mai 2012 wurden die DVD über die kontradiktorische Vernehmung der Zeugin L***** (die im Rahmen derselben erklärt hatte, in der Hauptverhandlung nicht mehr aussagen zu wollen [ON 4, S 2]) ‑ ohne Widerspruch des Verteidigers ‑ vorgeführt und mit ausdrücklicher Zustimmung des Staatsanwalts und des Verteidigers der gesamte Akteninhalt, sohin auch das Protokoll über die genannte kontradiktorische Vernehmung gemäß § 252 Abs 2a StPO zusammengefasst vorgetragen (vgl RIS‑Justiz RS0127712; ON 14 S 10).

Mit der Verfahrensrüge (Z 4) kritisiert der Beschwerdeführer die Abweisung seines in der Hauptverhandlung am 19. März 2012 gestellten und am 14. Mai 2012 wiederholten Antrags auf ergänzende Vernehmung der Zeugin L***** unter anderem zum Beweis dafür, „dass es diesen Vorfall im LKW, bei dem Nadja L***** ihren Angaben zufolge mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten gezwungen worden sein will, nicht gegeben hat“ (ON 11 S 9 f), somit hinreichend erkennbar, um die Zeugin zu der zu II. der Anklageschrift inkriminierten Tat befragen zu können.

Gemäß § 156 Abs 1 Z 2 StPO sind Personen, die durch die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat in ihrer Geschlechtssphäre verletzt worden sein könnten, von der Pflicht zur Aussage befreit, wenn die Parteien Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen kontradiktorischen Vernehmung (§§ 165, 247 StPO) zu beteiligen. Das Protokoll über eine solche Vernehmung sowie Ton‑ und Bildaufnahmen davon dürfen gemäß § 252 Abs 1 Z 2a StPO in der Hauptverhandlung verlesen oder vorgeführt werden. Dabei ist es ‑ weil das Gesetz insoweit keine Einschränkungen vorsieht ‑ gleichgültig, in welchem gegen den Angeklagten geführten gerichtlichen Verfahren, in welchem Verfahrensstadium und bei welcher (im Ermittlungsverfahren regelmäßig schmäleren) Verdachtslage die kontradiktorische Vernehmung stattgefunden hat (RIS‑Justiz RS0110798).

Voraussetzung dafür, insoweit die Beschuldigteninteressen gegenüber dem Zeugenschutz zurücktreten zu lassen, ist es aber, dass der Beschuldigte davor die Möglichkeit hatte, seine Verteidigungsrechte effektiv wahrzunehmen. Art 6 Abs 3 lit d MRK verlangt, dass im Strafverfahren in der Regel Zeugenaussagen im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung präsentiert und kontradiktorisch erörtert werden. Im Ermittlungsverfahren gewonnene Beweise sind nicht für sich unvereinbar mit Art 6 Abs 1 iVm Art 6 Abs 3 lit d MRK, vorausgesetzt dem Beschuldigten wurde angemessen Gelegenheit gegeben, diese Beweismittel in Frage zu stellen, insbesondere die Glaubwürdigkeit von Belastungszeugen anzuzweifeln, indem er sie befragt. Stützt sich das Gericht ausschließlich oder in entscheidendem Maße auf die Aussage von Zeugen, die der Angeklagte oder sein Verteidiger nicht befragen konnten, muss diese Einschränkung der Verteidigungsrechte durch ausreichende Faktoren kompensiert werden ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 5 § 24 Rz 117 ff; U EGMR 10. 5. 2012 Aigner gg Österreich , EvBl‑MRK 2012/8; U EGMR 19. 7. 2012 Hümmer gg Deutschland , NLMR 2012, 252).

Eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte im Rahmen einer kontradiktorischen Vernehmung setzt aber voraus, dass dem Beschuldigten (bzw seinem Verteidiger) nicht nur Ort und Zeit der Beweistagsatzung, sondern auch der Gegenstand der Befragung bekannt gegeben wurden (zur wertungsmäßig vergleichbaren Situation bei Anklageausdehnung in Abwesenheit des Angeklagten Bauer/Jerabek , WK‑StPO § 427 Rz 12). Im vorliegenden Fall erhielt die Ladung den Hinweis auf den „Verdacht der Blutschande“, sohin lediglich auf die zu I. des Schuldspruchs angeführten Taten, nicht aber auf den ‑ erst im Zuge der Vernehmung hervorkommenden ‑ Verdacht einer weiteren ‑ zu II. des Schuldspruchs als Vergewaltigung beurteilten ‑ Tat. Die Vernehmung war daher im Umfang des Schuldspruchs II. nicht kontradiktorisch iSd § 165 StPO, weil der Beschuldigte keine Information hatte, die ihm ermöglicht hätte, sein Recht zur Befragung der Zeugin zu diesem Tatvorwurf wahrzunehmen und ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen.

Daher resultierte aus der Vernehmung der Zeugin am 17. November 2011 in Ansehung der Schuldspruch II. betreffenden Tat keine Aussagebefreiung, weshalb es dem Beschwerdeführer ungeachtet seines Einverständnisses zur ‑ rechtens erfolgten (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO) ‑ Verlesung der Angaben der Zeugin vor dem Ermittlungsrichter zugestanden wäre, in der Hauptverhandlung von seinem Fragerecht (§ 249 Abs 1 StPO) Gebrauch zu machen. Dieses grundrechtlich gewährleistete Verteidigungsrecht (Art 6 Abs 3 lit d MRK) wurde von ihm durch entsprechende Antragstellung, die Zeugin ergänzend zu befragen, hinreichend geltend gemacht, ohne dass es hiefür eines Vorbringens über die Eignung der ergänzenden Vernehmung zur Klärung des Beweisthemas iSd § 55 StPO bedurft hätte. Der Angeklagte wurde daher durch die Abweisung seines Antrags, die Zeugin zu diesem Thema ergänzend zu befragen, in seinen Verteidigungsrechten verletzt (vgl 13 Os 150/09x, EvBl 2010, 420; 14 Os 75/09z, EvBl 2009, 1073; Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 233).

In diesem Umfang war der Nichtigkeitsbeschwerde Folge zu geben und Verfahrenserneuerung anzuordnen. Soweit sich das Rechtsmittel jedoch auf den Schuldspruch I. bezieht, verfehlt es sein Ziel.

Der Antrag auf ergänzende Vernehmung der Zeugin L***** zum Beweis dafür, dass die Beziehung zwischen ihr und dem Angeklagten keineswegs von Drohungen und Einschüchterungen des Angeklagten geprägt war, sondern eine Liebesbeziehung zwischen den beiden entstand (ON 11 S 9 f), spricht keine entscheidungswesentliche Tatsache an, steht das angebotene Beweisthema doch einem Verführen iSd § 211 Abs 2 StGB nicht entgegen. Überdies legte der Beschwerdeführer nicht dar, weshalb die zu diesem Themenkomplex (I.) bereits kontradiktorisch vernommene Zeugin nunmehr zu einer Aussage bereit wäre (Z 4).

Letzteres gilt auch für den in der Hauptverhandlung am 14. Mai 2012 gestellten Antrag auf neuerliche Vernehmung dieser Zeugin im Hinblick auf von ihr an ihren Bruder gerichtete SMS‑Nachrichten (ON 14 S 3).

Soweit der Angeklagte in Zusammenhang damit behauptet, er wäre zur Vernehmung der Zeugin L***** im Ermittlungsverfahren nicht geladen worden und hätte somit keine Gelegenheit gehabt, Fragen an sie zu stellen, widerspricht er seinem eigenen Vorbringen an anderer Stelle, wonach er zur Vernehmung am 17. November 2011 deshalb nicht erschienen ist, weil ihm in der Ladung lediglich Vergehen der Blutschande vorgeworfen worden waren, wozu er „ohnehin geständig“ war (ON 20 S 4).

Die Tatsachenrüge (Z 5a) wiederholt lediglich die Einlassung des Angeklagten, es habe sich um eine Liebesbeziehung gehandelt, und stellt eigenständige beweiswürdigende Erwägungen zur Aussage der Zeugin L***** an. Damit gelingt es ihr nicht, beim Obersten Gerichtshof erhebliche Bedenken gegen die dem Schuldspruch I. zugrunde liegenden entscheidenden Tatsachen zu wecken.

In diesem Umfang war die Nichtigkeitsbeschwerde bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO). Mit ihren Berufungen waren der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte