Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde und die (angemeldete) „Berufung wegen Schuld“ werden zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Anton W***** (zu I) jeweils eines Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 StGB und nach § 206 Abs 1 StGB (richtig: eines Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 StGB [zum Nachteil des Daniel G*****] und einer unbestimmten Anzahl von Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB [zum Nachteil beider Unmündiger]; vgl dazu RIS-Justiz RS0120828), des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 2 StGB (II) sowie jeweils mehrerer Vergehen der sexuellen Belästigung nach § 218 Abs 1 Z 2 StGB (III) und der sittlichen Gefährdung von Personen unter sechzehn Jahren nach § 208 Abs 1 StGB (IV) schuldig erkannt und seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB angeordnet.
Danach hat er von Sommer 2009 bis 25. März 2010 in Wiener Neustadt „oftmals wiederholt“
(I) mit unmündigen Personen, nämlich mit dem am 16. April 1998 geborenen Dominik G***** und mit dem am 23. August 1999 geborenen Daniel G*****, dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, wobei „die Tat“ eine schwere Körperverletzung des Daniel G*****, nämlich eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung in Form einer (psychischen) Anpassungsstörung von Krankheitswert zur Folge hatte, indem er
1) den Penis der Genannten in den Mund nahm und sie dazu veranlasste, sein entblößtes Glied in den Mund zu nehmen und daran zu „saugen“,
2) mit seinem Penis in den After der Genannten einzudringen trachtete und
3) Daniel G***** einen „Labello-Stift“ in den After einzuführen versuchte;
(II) in der Absicht, sich dadurch geschlechtlich zu erregen, eine unmündige Person dazu verleitet, eine geschlechtliche Handlung an sich selbst vorzunehmen, indem er Dominik G***** zur Masturbation vor ihm veranlasste;
(III) Personen durch eine geschlechtliche Handlung vor ihnen unter Umständen, unter denen dies geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen, belästigt, indem er vor Dominik und Daniel G***** onanierte;
(IV) in der Absicht, sich dadurch geschlechtlich zu erregen, eine Handlung, die geeignet ist, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen unter sechzehn Jahren zu gefährden, vor unmündigen Personen vorgenommen, indem er Dominik und Daniel G***** pornografische Filme vorführte.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen aus den Gründen der Z 4 und 5 des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten verfehlt ihr Ziel.
Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch die Abweisung der in der Hauptverhandlung am 16. Dezember 2010 gestellten Anträge auf Einholung von „Obergutachten“ zu jenen der Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie DDr. Gabriele W***** (zu den gesundheitlichen Folgen der Tathandlungen bei den unmündigen Opfern) und Prim. Dr. Heinz P***** (zur Tatsachengrundlage für die Entscheidung nach § 21 Abs 2 StGB; ON 57 S 23 ff) Verteidigungsrechte nicht verletzt. Vorauszuschicken ist zunächst, dass dem erstgenannten Begehren - zufolge Nichtannahme der vom Anklagevorwurf umfassten Qualifikation des § 206 Abs 3 StGB in Ansehung des Dominik G***** - nur hinsichtlich der bei Daniel G***** eingetretenen Folgen der Tat entscheidungswesentliche Bedeutung zukommt.
Ein in § 127 Abs 3 StPO bezeichneter - durch Befragung nicht zu beseitigender - Mangel und dessen (deutliche und bestimmte) Bezeichnung bei der Antragstellung gehören zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen Verfahrensrüge bei Abweisung des Verlangens nach Einholung eines zweiten Gutachtens (§ 127 Abs 3 StPO; RIS-Justiz RS0117263).
Dem zur Fundierung des das Gutachten DDr. W***** betreffenden Antrags erhobenen Einwand (ON 57 S 24) zuwider ist die - isoliert und aus dem Zusammenhang gerissen zitierte - Passage aus dieser Expertise, wonach es für einen Gutachter „äußerst schwierig bis fast unmöglich“ sei, „exakt anzugeben“, in welchem Ausmaß die jetzt fassbaren psychischen Störungen der Kinder auf deren problematische Vorgeschichte einerseits und auf den verfahrensgegenständlichen Missbrauch andererseits zurückzuführen seien, keineswegs nach Denkgesetzen unvereinbar (vgl dazu Ratz, WK-StPO § 281 Rz 438; Hinterhofer, WK-StPO § 127 Rz 20) mit der von der Sachverständigen im Anschluss vorgenommenen - und ausdrücklich als solche bezeichneten - prozentuellen Schätzung (wonach die bei Daniel G***** festgestellte mehr als 24 Tage dauernde psychische Gesundheitsschädigung von Krankheitswert zu etwa 70 % der Missbrauchserfahrung zuzuordnen sei; ON 57 S 19; ON 49 S 73 f). Demgemäß liegt die behauptete Widersprüchlichkeit (oder eine dadurch bewirkte sonstige Mangelhaftigkeit des Gutachtens im Sinn des § 127 Abs 3 StPO) nicht vor.
Soweit das Begehren auch darauf gestützt wurde, dass eine auf einer Schätzung basierende Auswertung „für das Strafverfahren nicht bestimmt genug“ sei, bezog es sich nicht auf entscheidende (also für die Schuld- oder Subsumtionsfrage relevante) Tatsachen. Der - solcherart in Frage gestellte - Kausalzusammenhang ist nämlich strikt im Sinne der Äquivalenztheorie zu verstehen, die jede Bedingung für deren Erfolg als dessen (Mit-)Ursache definiert. Demnach ist jeder Umstand, der nur das Geringste dazu beigetragen hat, dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt eintritt, für diesen kausal; alle Ursachen (= Bedingungen) sind als gleichwertig (= äquivalent) anzusehen (vgl zur Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung überdies etwa Fuchs AT I7 Rz 13/4, 14; Burgstaller in WK² § 80 Rz 67 ff; Mayerhofer StGB5 Vorbem E 9, 11a; SSt 53/43, 61/1 [17] und vertiefend Burgstaller Fahrlässigkeitsdelikt 90 ff; Kienapfel/Höpfel AT13 Z 10 RN 5, 6, 12). Dass die sexuellen Missbrauchserlebnisse auch unter Mitberücksichtigung der psychischen Vorschäden des Unmündigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (mit-)kausal für die diagnostizierte (psychische) Gesundheitsschädigung von Krankheitswert war, hat die Sachverständige aber - insoweit vom Beschwerdeführer übergangen - unmissverständlich dargelegt (ON 49 S 73 f).
Das Gutachten des Sachverständigen Prim. Dr. Heinz P***** betreffend erschöpfte sich das Antragsvorbringen in einer Kritik an der unterlassenen Einholung der „relevanten Krankengeschichte“ sowie angeblicher Nichtberücksichtigung der „psychiatrischen Behandlung Ende der 90er-Jahre“ und der - nicht näher definierten - „Schäden aus dem Verkehrsunfall aus dem Jahr 2008“ und der darauf aufbauenden Behauptung, dass zur Homophilie und der daraus resultierenden ungünstigen Prognose „ausschließlich Feststellungen aufgrund von Erzählungen des Angeklagten“ getroffen wurden. Solcherart wurde der Sache nach gar keine Widersprüchlichkeit oder Mangelhaftigkeit des Gutachtens, sondern Unvollständigkeit des aufgenommenen Befundes angesprochen, mit der aber für sich alleine noch keine Unbestimmtheit im Sinn des § 127 Abs 3 StPO verbunden ist. Sie könnte allenfalls Anlass für die - hier gerade nicht begehrte - Beauftragung des (bereits befassten) Sachverständigen mit einer ergänzenden Befundaufnahme bieten (Hinterhofer, WK-StPO § 127 Rz 20).
Zudem setzte sich das Vorbringen in keiner Weise mit den die Einwände des Beschwerdeführers umfassend erläuternden Ausführungen des Sachverständigen in der Hauptverhandlung (ON 57 S 6 ff) auseinander (ON 57 S 24), sodass kein - nach Durchführung eines Verbesserungsverfahrens bestehen gebliebener - Mangel von Befund und Gutachten im Sinn des § 127 Abs 3 erster Satz StPO aufgezeigt, sondern bloß eine Überprüfung der Beurteilung des beigezogenen Sachverständigen in der nicht indizierten Erwartung eines für den Antragsteller günstigeren Ergebnisses begehrt wurde, womit der Antrag auf unzulässige Erkundungsbeweisführung abzielte und auch aus diesem Grund zu Recht der Abweisung verfiel (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 351 RIS-Justiz RS0117263, RS0102833).
Zur Begründung beider Anträge im Rechtsmittel nachgetragene Argumente sind unbeachtlich, weil allein der Antrag den Gegenstand der aus Z 4 relevierten Entscheidung des Gerichtshofs bildet (für viele: RIS-Justiz RS0099618).
Dem Standpunkt der Mängelrüge zuwider, ist die Ableitung der Urteilsannahmen zur Ursächlichkeit des Täterverhaltens für den Erfolg (einer länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung in Form einer Anpassungsstörung von Krankheitswert bei Daniel G*****) als Grundlage der objektiven Erfolgszurechnung aus dem in der Hauptverhandlung - durch Vorführung der Bild- und Tonaufzeichnungen über dessen kontradiktorische Vernehmung - vom Minderjährigen gewonnenen Eindruck der Tatrichter im Verein mit dem in freier Beweiswürdigung (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 351) für schlüssig und nachvollziehbar erachteten Gutachten der Sachverständigen DDr. Gabriele W***** (US 10 f) unter dem Aspekt der Begründungstauglichkeit (Z 5 vierter Fall) nicht zu beanstanden (vgl dazu auch RIS-Justiz RS0099508, RS0119301, RS0098716).
Mit dem erneuten Hinweis auf angebliche (nach dem Vorgesagten aber nicht gegebene) Widersprüche in dieser Expertise und der Forderung, die Tatrichter hätten sich „eingehender“ mit den - im Urteil ohnehin berücksichtigten (US 10 f) - psychischen Vorbelastungen des Tatopfers „beschäftigen müssen“, bekämpft die Beschwerde bloß unzulässig die erstgerichtliche Beweiswürdigung nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Schuldberufung. Im Übrigen hat sich auch diese Sachverständige im Rahmen der mündlichen Gutachtenserörterung in der Hauptverhandlung ausführlich mit den Einwendungen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt, sodass das Erstgericht das Gutachten seinen Feststellungen zu Grunde legen konnte, ohne sich - unter dem Aspekt mängelfreier Begründung (Z 5 zweiter Fall) - mit den Einwendungen und den mit diesen in Zusammenhang stehenden Beweismitteln in den Entscheidungsgründen nochmals auseinandersetzen zu müssen (13 Os 67/09s, zuletzt 12 Os 181/10z).
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher - ebenso wie die (angemeldete; ON 58a und ON 61 S 2) gegen schöffengerichtliche Urteile nicht zustehende Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld - bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe (§ 285i StPO).
Die Kostenersatzpflicht beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
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