Spruch:
(I) Es verletzen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. Dezember 2012, GZ 313 HR 59/11s‑56, und des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 16. April 2013, AZ 22 Bs 39/13s, Art 3 Abs 1 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen sowie Art 6 Abs 1 MRK.
Diese Beschlüsse werden aufgehoben und dem Landesgericht für Strafsachen Wien eine neue Entscheidung aufgetragen.
(II) Mit seinem Erneuerungsantrag wird Timur I***** auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Timur I***** (alias Timur C***** [T*****, vgl ON 27 und ON 29 im Akt AZ 313 HR 59/11s des Landesgerichts für Strafsachen Wien]) war mit Urteil des Rayonsgerichts Leningrad (St. Petersburg) der Stadt Kalininrad vom 27. Oktober 2010 wegen der am 27. November und 16. Dezember 2009 begangenen Straftaten nach Art 30 Abs 3 iVm Art 228.1 Abs 2 lit b („Versuch des ungesetzlichen In‑Verkehr‑Bringens von Betäubungsmitteln in besonders großem Ausmaß, der aus nicht von der Person abhängigen Umständen nicht zu Ende geführt wurde“) sowie Art 30 Abs 1 iVm Art 228.1 Abs 3 lit d („Vorbereitung des ungesetzlichen In-Verkehr-Bringens von Betäubungsmitteln in besonders großem Ausmaß, die aus nicht von der Person abhängigen Umständen nicht zu Ende geführt wurde“) des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation in Abwesenheit schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren „in einer Besserungskolonie mit strengem Regime“ verurteilt worden (ON 26 S 5 und 11 ff).
Mit Beschluss vom 21. Dezember 2012, GZ 313 HR 59/11s-56, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die von der Russischen Föderation mit Note der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 21. Juni 2012, Nr. 81/3-289-11 (ON 26), begehrte Auslieferung des Timur I***** zur Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe für (nicht un-)zulässig.
Das Oberlandesgericht Wien gab der dagegen erhobenen Beschwerde der betroffenen Person mit Beschluss vom 16. April 2013, AZ 22 Bs 39/13s (= ON 63), nicht Folge.
Hinsichtlich des Abwesenheitsurteils ging das Beschwerdegericht ‑ wie zuvor auch schon das Landesgericht für Strafsachen Wien (ON 56 S 3 f) ‑ davon aus, dass zufolge der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 29. August 2012 (Übersetzung ON 50 S 7), sie hafte dafür, dass gemäß Art 3 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungs-übereinkommen dem Betroffenen „das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren gewährleistet werden wird, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden“, keine ausreichend konkrete Befürchtung vorliege, Timur I***** werde in seinem Heimatland ein Art 6 MRK widersprechendes Verfahren bevorstehen (ON 56 S 5 iVm S 2).
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen beide Beschlüsse mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Rechtsgrundlagen für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung zur Vollstreckung einer in einem Abwesenheitsurteil verhängten Strafe nach Russland sind die Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens ergänzt durch Art 3 Abs 1 des Zweiten Zusatzprotokolls. Letztere Bestimmung sieht einen Hinderungsgrund für die Auslieferung zur Vollstreckung einer in einem Abwesenheitsurteil verhängten Strafe vor, wenn „in dem diesem Urteil vorangegangenen Verfahren nicht die Mindestrechte der Verteidigung gewahrt worden sind, die anerkanntermaßen jedem einer strafbaren Handlung Beschuldigten zustehen“, und verweist damit auf den die Einhaltung der Mindestverteidigungsrechte gewährleistenden Schutzbereich des Art 6 Abs 1 MRK (vgl 15 Os 117/07f = EvBl 2008/73, 371 = SSt 2008/3). Wurde der ‑ durch Art 6 Abs 1 MRK grundrechtlich gewährleistete - Mindeststandard der Verteidigung in dem in Abwesenheit des Verurteilten durchgeführten Strafverfahren nicht eingehalten, so ist die Auslieferung nach Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungs-übereinkommen nur dann zulässig, wenn „die ersuchende Vertragspartei eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, der Person, um deren Auslieferung ersucht wird, das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren zu gewährleisten, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden“.
Die der Zulässigerklärung der Auslieferung zugrunde gelegte Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation ist keine als ausreichend zu erachtende im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungs-übereinkommen, weil sie zwar eine allgemeine Absichtserklärung menschenrechtskonformen Vorgehens enthält, ihr aber nicht zu entnehmen ist, ob im ersuchenden Staat eine effektive Möglichkeit der Verfahrenswiederholung auf Basis geltender Gesetze für den Betroffenen tatsächlich besteht. Dies wäre dann der Fall, wenn eine Rechtsmittelbelehrung ergeht und dem Betroffenen ein einfacher Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der keine besondere Darlegungs‑ bzw Beweislast verlangt und zur Verfahrenswiederholung führt (Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl, 205; vgl auch § 11 Abs 1 Z 4 EU‑JZG, der für den Bereich der Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht bloß eine abstrakte Zusicherung des Rechts auf Verfahrenserneuerung, sondern eine ‑ im Einklang mit den Verfahrensvorschriften des ersuchenden Staats stehende ‑ Bescheinigung verlangt, die sowohl die Möglichkeit der Neudurchführung der Verhandlung als auch eine Rechtsmittelbelehrung und die Garantie umfasst, dass für den Betroffenen eine neuerliche Prüfung des Sachverhalts, auch unter Berücksichtigung neuer Beweise, in seiner Anwesenheit und eine Aufhebung der Entscheidung zu erreichen ist, und dass er von den dafür bestehenden Fristen in Kenntnis gesetzt werden wird).
Demzufolge beinhaltet die gegenständliche Erklärung keine die effektive Gewährleistung eines entsprechenden Verfahrenserneuerungsrechts beinhaltende Zusicherung (vgl 15 Os 117/07f = EvBl 2008/73, 371 = SSt 2008/3; vgl auch Murschetz, Aktuelles zur Auslieferung nach einem Abwesenheitsurteil, JBl 2009, 29; Lagodny in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 § 73 IRG Rz 70 ff), womit die Gerichte diese Erklärung zu Unrecht als ausreichend im Sinn des Art 3 Abs 1 zweiter Satz des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen angesehen haben (vgl zum Ganzen 14 Os 145/13z).
Angesichts dessen hätte aber die Erklärung der (nicht Un‑)Zulässigkeit der Auslieferung einer Überprüfung bedurft, ob entgegen dem Vorbringen des Timur I***** dessen Verurteilung in Abwesenheit im Rahmen eines fairen Verfahrens erfolgt ist.
Denn auch nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die ‑ nicht schon als solche konventionswidrige ‑ Durchführung eines Strafverfahrens in Abwesenheit des Beschuldigten ‑ sofern diesem nicht mit hinreichender Sicherheit die Möglichkeit rechtlich gewährleistet ist, eine neuerliche Verhandlung in seiner Anwesenheit zu erreichen ‑ mit dem durch Art 6 (Abs 1) MRK garantierten Recht auf ein faires Verfahren nur vereinbar, wenn der Beschuldigte in unmissverständlicher Weise auf sein Recht auf Teilnahme an der Hauptverhandlung verzichtet hat oder ‑ eindeutige ‑ konkrete Anhaltspunkte für die Absicht des Beschuldigten, sich dem Strafverfahren überhaupt durch Flucht zu entziehen, vorliegen, wobei ein wirksamer Verzicht auf das Anwesenheitsrecht die gerichtliche Verständigung des Beschuldigten von dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren ‑ sowie, soweit möglich, auch vom Termin der Hauptverhandlung ‑ voraussetzt (vgl erneut 14 Os 145/13z mwN; 15 Os 117/07f).
Die Zulässigerklärung einer Auslieferung mit Beziehung auf ein im ersuchenden Staat durchgeführtes Strafverfahren, das den von Art 6 Abs 1 MRK geforderten Verfahrensgarantien nicht entsprochen hat („flagrant denial of justice“), verstößt (ihrerseits) gegen Art 6 Abs 1 MRK (erneut 14 Os 145/13z; 15 Os 117/07f).
Das Vorgehen der Gerichte, die Auslieferung auf Basis der unzureichenden Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation für (nicht un‑)zulässig zu erklären, ohne die Konventionskonformität des in Russland geführten Abwesenheitsverfahrens zu prüfen, verstößt daher gegen Art 3 Abs 1 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Auslieferungsübereinkommen und Art 6 Abs 1 MRK.
Da sich diese Gesetzesverletzung zum Nachteil der betroffenen Person auswirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst (§ 292 letzter Satz StPO), deren Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen.
Mit Blick auf den Erfolg der von der Generalprokuratur aus Anlass des Erneuerungsantrags erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes kann der Erneuerungswerber auf deren Erledigung verwiesen werden, weil sich die Nichtigkeitsbeschwerde in Ansehung der reklamierten Grundrechtsverletzung mit dem Erneuerungsantrag deckt und die nach § 292 letzter Satz StPO verfügte konkrete Wirkung einen angemessenen Ausgleich für die Grundrechtsverletzungen darstellt.
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