Spruch:
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch, im Strafausspruch und im Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.
Mit seiner Berufung gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Die Berufung „wegen Schuld“ wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Mit dem auch einen Freispruch enthaltenden angefochtenen Urteil wurde Alfred R***** des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2 StGB schuldig erkannt.
Danach hat er am 6. Februar 2003 im Raum München mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz Franz B***** durch Täuschung über Tatsachen, nämlich durch die Vorspiegelung, ein rückzahlungsfähiger und -williger Darlehensnehmer zu sein, zur Gewährung eines Darlehens von 50.000 Euro, somit zu einer Handlung verleitet, die Franz B***** um den genannten, 3.000 Euro übersteigenden Betrag am Vermögen schädigte.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen wendet sich der Angeklagte mit einer auf Z 1, nominell Z 3 (der Sache nach Z 8), Z 5a und „Z 9, 9a, 9b, 9c“ (inhaltlich Z 9 lit b) des § 281 Abs 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde. Sie bezieht sich aus all diesen Gründen auf die von der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung vorgenommene Ausdehnung der Anklage.
Letztere war der Anklageschrift (ON 4) zufolge ursprünglich auf eine Verurteilung wegen Finanzvergehen der Abgabenhinterziehung nach §§ 11 zweiter Fall, 33 Abs 1, 38 Abs 1 lit a FinStrG und §§ 11 zweiter Fall, 33 Abs 2 lit a, 38 Abs 1 lit a FinStrG gerichtet, die der Angeklagte 2002 und 2003 im Zusammenhang mit dem Betrieb eines Fahrzeughandels begangen haben soll (Bestimmung des gesondert verfolgten Gerd D***** zum Nichterklären von Umsätzen und zum Nichtentrichten von Umsatzsteuervorauszahlungen).
In der Hauptverhandlung dehnte der Staatsanwalt nach Vernehmung des Zeugen Franz B*****, der zu den Fahrzeuggeschäften befragt worden war und dabei Alfred R***** bezichtigt hatte, ihm betrügerisch ein Darlehen von 50.000 Euro herausgelockt zu haben (ON 12 S 19 ff), die Anklage auf den Vorwurf der nunmehr abgeurteilten Tat aus (ON 12 S 27).
Der Verteidiger erklärte hierauf, er spreche sich „gegen die rechtliche Möglichkeit der Ausdehnung aus, da dieses Faktum bereits im Verfahren 13 Hv 71/09z angezeigt“ worden sei „und noch keine Entscheidungsreife“ vorliege, da „noch angeforderte Belege ausständig“ seien und die Echtheit eines von B***** in der Hauptverhandlung vorgelegten, das Darlehen betreffenden Vertrags (ON 12 S 22, 32; Blg ./2 zum Hauptverhandlungsprotokoll) bestritten werde (ON 12 S 27).
Die mit dem Vorbringen (Z 1), bei früherer Verfolgung des Betrugsvorwurfs durch die Staatsanwaltschaft hätte der Angeklagte „ein anderes Gericht für diese Causa zugewiesen bekommen, da die Gerichtszuständigkeit für diesen Deliktstypus und für diesen Angeklagten ein anderer Gerichtshof gewesen wäre“, reklamierte Unzuständigkeit des Schöffengerichts spricht zwar keinen Nichtigkeitsgrund an (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 93, 111).
Soweit die Beschwerde aber nominell aus Z 3 einwendet, dass dem Angeklagten durch die Ausdehnung der Anklage in der Hauptverhandlung „jegliche Vorbereitungszeit und jegliche Verteidigungsmöglichkeit von vornherein weggenommen“ und er in seinem Recht verletzt worden sei, „sich ordentlich auf die Verhandlung vorzubereiten“, macht sie der Sache nach erkennbar Nichtigkeit des Urteils nach § 281 Abs 1 Z 8 iVm 263 StPO geltend.
Die letztgenannte Bestimmung erfasst den Fall, dass der Angeklagte bei der Hauptverhandlung noch einer anderen Tat beschuldigt wird, als wegen der er angeklagt ist.
Wird in einem solchen Fall die Anklage auf die neue Tat ausgedehnt, so kann das Schöffengericht die Verhandlung und das Urteil auch auf diese Tat ausdehnen (§ 263 Abs 1 erster Satz StPO).
Dafür ist nach § 263 Abs 1 zweiter Satz StPO die Zustimmung des Angeklagten - die auch konkludent erteilt werden kann (RIS-Justiz RS0098866; Lewisch, WK-StPO § 263 Rz 87), bei einem unvertretenen Angeklagten unter der Voraussetzung entsprechender Belehrung (§ 6 Abs 2 StPO; vgl die Rechtsprechung zu § 252 Abs 1 Z 4 StPO: RIS-Justiz RS0099242; idS auch Birklbauer, Der Prozessgegenstand im österreichischen Strafverfahren [2009] 182) - „nur dann erforderlich, wenn er bei seiner Verurteilung wegen dieser Tat unter ein strengeres als das Strafgesetz fiele, das auf die in der Anklageschrift angeführte strafbare Handlung anzuwenden wäre.“
Ob der Angeklagte in diesem Sinn unter ein „strengeres Strafgesetz“ fiele, ergibt sich - anders als vom Erstgericht angenommen, das die Strafdrohung der Abgabenhinterziehung jener des Betrugs gegenüberstellte (US 10 f) - durch Vergleich der Strafdrohungen, denen der Angeklagte mit Blick auf alle jeweils inkriminierten Taten, würden sie zu einem Schuldspruch führen, einerseits vor und andererseits nach Anklageausdehnung unterliegt.
Trifft ihn nach der Ausdehnung eine größere Strafdrohung (was zufolge §§ 28 Abs 1 oder 29 StGB oder § 21 Abs 1 und Abs 2 FinStrG der Fall sein kann) oder die Androhung einer zusätzlichen Strafe (wie nach § 28 Abs 2 StGB oder - im gegebenen Fall aktuell - § 22 Abs 1 FinStrG), liegt ein Fall des § 263 Abs 1 zweiter Satz StPO vor. Es kommt demnach für das Zustimmungserfordernis nach dieser Vorschrift darauf an, ob dem Angeklagten, auf die Strafrahmen bezogen, nach der Anklageausdehnung mehr Strafe droht als davor (im Ergebnis ebenso Fabrizy StPO10 § 263 Rz 11).
Im vorliegenden Fall war der Angeklagte ab der Anklageausdehnung im Hinblick auf die Kumulierungsregel des § 22 Abs 1 FinStrG mit einer zusätzlichen Strafe bedroht, nämlich über die von § 38 Abs 1 FinStrG idF BGBl I 1999/28 vorgesehene Geld- und (an die Voraussetzungen des § 15 Abs 2 FinStrG gebundene) Freiheitsstrafe hinaus nach Maßgabe der §§ 147 Abs 2 und (wegen eines früheren Urteils) 31 Abs 1 StGB mit einer weiteren Freiheits- oder (nach § 37 StGB) Geldstrafe.
Demnach stand ab der Anklageausdehnung fest, dass der Angeklagte bei seiner Verurteilung (auch) wegen der neuen Tat im Sinn des § 263 Abs 1 zweiter Satz StPO unter ein strengeres als das Strafgesetz fiele, das (nur) auf die in der Anklageschrift genannten Taten anzuwenden wäre.
Dieser Bestimmung zufolge durften, weil der Angeklagte seine Zustimmung verweigerte, Verhandlung und Urteil nicht auf die neue Tat ausgedehnt werden. Vielmehr war nach § 263 Abs 2 StPO vorzugehen, das heißt das Urteil auf den Gegenstand der Anklageschrift zu beschränken und dem Ankläger die selbstständige Verfolgung wegen der hinzugekommenen Tat vorzubehalten, oder nach § 263 Abs 3 StPO zu verfahren, also die Hauptverhandlung abzubrechen und die Entscheidung über alle dem Angeklagten zur Last fallenden Straftaten einer neuen Hauptverhandlung vorzubehalten.
Materiellrechtlich gesehen können sich übrigens daraus, ob das Gericht nach § 263 Abs 2 StPO vorgeht, der (falls wegen der vom Verfolgungsvorbehalt erfassten Tat Anklage erhoben wird, Fabrizy StPO10 § 263 Rz 5 mN) zu gesonderter Aburteilung führt, oder nach § 263 Abs 3 StPO, der gemeinsame Aburteilung aller unter Anklage gestellten Taten nach sich zieht, im Fall von Schuldsprüchen zwar nicht für das Absorptionsprinzip nach § 28 Abs 1 StGB (und das Kumulationsprinzip des § 28 Abs 2 StGB oder des § 22 Abs 1 FinStrG), wohl aber im Bereich des § 29 StGB (und zwar zugunsten des Angeklagten) verschiedene Konsequenzen ergeben:
Dem Absorptionsprinzip wird im Ergebnis aufgrund des § 31 StGB (Ratz in WK² § 31 Rz 1) und dem Kumulationsprinzip ohne weiteres auch im Fall gesonderter Aburteilung entsprochen.
Letztere schließt jedoch eine bei gemeinsamer Aburteilung allenfalls - je nach den konkreten Werten oder Schadensbeträgen - stattfindende qualifikationsbegründende Zusammenrechnung iSd § 29 StGB stets aus. Eine solche kommt im Verhältnis des früheren Urteils zu dem auf dieses dann gemäß § 31 StGB Bedacht nehmenden nicht in Betracht (RIS-Justiz RS0120469, RS0090853; Ratz in WK² § 31 Rz 9).
Indem das Schöffengericht wie aufgezeigt gegen § 263 Abs 1 zweiter Satz StPO verstieß, überschritt es iSd § 281 Abs 1 Z 8 StPO die Anklage (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 543, 545).
Daher war der Nichtigkeitsbeschwerde Folge zu geben und wie aus dem Spruch ersichtlich mit Teilaufhebung des Urteils sowie demgemäß (§ 288 Abs 2 Z 3 StPO) mit Anordnung neuer Verhandlung und Entscheidung vorzugehen, womit sich die Erörterung der übrigen Einwände erübrigt.
Mit der Berufung gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche war der Angeklagte auf die teilweise Urteilsaufhebung zu verweisen, die auch den Bezugspunkt dieses Rechtsmittels erfasste.
Die angemeldete Berufung „wegen Schuld“ (ON 14) war zurückzuweisen, weil die Verfahrensordnung ein solches Rechtsmittel zur Anfechtung des Urteils eines Schöffengerichts nicht kennt (§§ 280, 283 Abs 1 StPO).
Anzumerken bleibt noch:
1. Sofern sich das eingangs der Tatsachenrüge (Z 5a) erstattete Vorbringen, bereits im Strafverfahren gegen den Angeklagten Gerd D*****, AZ 13 Hv 71/09z des Landesgerichts Steyr, habe der Zeuge B***** die von ihm auch hier behauptete, der Verurteilung zu Grunde liegende Tat beschrieben, der Staatsanwalt habe schon dort die Möglichkeit gehabt, sich die Verfolgung vorzubehalten oder Ermittlungen einzuleiten, jedoch nichts getan, inhaltlich ebenso wie jenes zur Rechtsrüge auf Verschweigung bezieht (Z 9 lit b), nimmt es nicht Maß am Gesetz, das eine weitere Beschuldigung des Angeklagten in einem gegen ihn geführten Verfahren voraussetzt (§ 263 Abs 1 und Abs 2 StPO).
2. Grundrechtskonformes Verständnis der Verfahrensordnung ermöglicht Gewährleistung des dem Angeklagten durch die MRK garantierten Rechts auf Verteidigung (auch) bei Ausdehnung der Anklage in der Hauptverhandlung über den auf Fälle der Anwendbarkeit eines strengeren Strafgesetzes abstellenden Wortlaut des § 263 Abs 1 zweiter Satz StPO („... nur dann ...“) hinaus, um der von Lewisch (WK-StPO § 263 Rz 77) aufgezeigten Grundrechtsproblematik verfassungskonform zu begegnen.
Das Recht des Angeklagten, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen (Art 6 Abs 3 lit b MRK), kann nämlich - übrigens gleich, ob die Ausdehnung der Anklage zur Anwendbarkeit eines im dargelegten Sinn strengeren Strafgesetzes führt oder nicht - durch entsprechende Antragstellung in der Hauptverhandlung effektuiert und bei Antragsabweisung zum Gegenstand einer Urteilsanfechtung aus § 281 Abs 1 Z 4 StPO gemacht werden. Denn dieser Nichtigkeitsgrund rekurriert seit dem StrafprozeßänderungsG 1993, BGBl 1993/526, direkt auf Art 6 MRK, womit auch ohne Rückgriff auf eine einfachgesetzliche Bestimmung der StPO ein subjektives Recht des Angeklagten auf Vertagung bloß zur Vorbereitung auf die Verteidigung gegen die neue Beschuldigung bejaht werden kann (RIS-Justiz RS0098367 [T1 und T2]; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 551; vgl Kühne in Karl, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtkonvention, Art 6 Rz 529; Grabenwarter in Korinek/Holoubek Komm zum B-VG Art 6 MRK Rz 189 ff).
3. Das Dargelegte ändert übrigens daran nichts, dass eine Anklageausdehnung nach § 263 Abs 1 StPO keinen Verstoß gegen die nach § 221 Abs 1 StPO zu gewährende, aus dem Nichtigkeitsgrund nach § 281 Abs 1 Z 3 StPO geschützte Mindestvorbereitungsfrist bewirkt (RIS-Justiz RS0097981).
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