OGH 13Os125/10x

OGH13Os125/10x18.11.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Lässig, Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Saadati als Schriftführerin in der Strafsache gegen Ardian I***** wegen des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 8. September 2010, GZ 605 Hv 1/10b-76, sowie die Beschwerde des Angeklagten gegen den gemeinsam mit dem Urteil gefassten Beschluss auf Widerruf einer bedingten Strafnachsicht nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil, das im freisprechenden Teil unberührt bleibt, im Schuldspruch, demgemäß auch im Strafausspruch einschließlich der Vorhaftanrechnung, im Kostenausspruch und im Adhäsionserkenntnis sowie der dem Schuldspruch zugrunde liegende Wahrspruch und der unter einem gefasste Widerrufsbeschluss aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Geschworenengericht des Landesgerichts für Strafsachen Wien verwiesen.

Mit ihren Berufungen werden die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte, dieser auch mit seiner Beschwerde auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde Ardian I***** - soweit für das Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde von Bedeutung - des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er am 1. Jänner 2010 in Wien Aljbert K***** zu töten versucht, indem er mit einem „zirka 25 cm langen Militärmesser“ wiederholt auf ihn einstach, wodurch dieser im Urteilsspruch näher beschriebene Verletzungen im Bereich des Brustkorbs erlitt.

Rechtliche Beurteilung

Die auf die Gründe der Z 6 und 8 des § 345 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten ist berechtigt.

Zunächst macht die Fragenrüge (Z 6) nicht klar, weshalb die anklagekonforme (vgl ON 35) Hauptfrage A nach „wiederholten Messerstichen“ der Vorschrift des § 312 Abs 1 StPO widersprechen soll.

Im Ergebnis zu Recht vermisst jedoch das weitere Beschwerdevorbringen (Z 6) mit Hinweis auf die Verantwortung des Beschwerdeführers (ON 54 S 9 ff) und die Aussage des Zeugen Emrah Ö***** (ON 75 S 11) die Stellung von „sowohl Zusatzfragen nach Notwehr und irrtümlicher Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes (Notwehr) als auch Eventualfragen nach Notwehrüberschreitung und Putativnotwehrüberschreitung“.

Unter dem in §§ 313, 314 Abs 1 und 316 StPO verwendeten Begriff des „Vorbringens“ von Tatsachen ist nichts anderes zu verstehen als das Vorkommen einer erheblichen Tatsache in der Hauptverhandlung, einer Tatsache also, die, wäre sie im schöffengerichtlichen Verfahren vorgekommen, bei sonstiger Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO erörterungsbedürftig gewesen wäre. Dabei genügt es, wenn die Aussage des Angeklagten oder sonstige Beweisergebnisse auf einen solchen Tatumstand hinweisen, also der Klärung bedürftige Indizien enthalten (RIS-Justiz RS0100396 [T1]; Ratz, WK-StPO § 345 Rz 42).

Eine solcherart erhebliche Tatsache ergibt sich aus der ins Treffen geführten Verantwortung des Beschwerdeführers, derzufolge er - während er von Sicherheitspersonal, das ihn zuvor aus dem Lokal gebracht habe, festgehalten worden sei - vom späteren Opfer mit den Worten „jetzt bist du tot“ bedroht und mit einem Pfefferspray attackiert worden sei. Er habe sich dann befreien können, das Opfer - ohne dieses genau sehen zu können - festgehalten, damit dieses ihn „nicht schlägt“ und dabei „einen Gegenstand“ (die Tatwaffe) gespürt, diesen an sich genommen und in weiterer Folge damit auf das Opfer eingestochen (ON 54 S 9 ff). Dass der Beschwerdeführer mit einem Pfefferspray angegriffen worden sei und die Tatwaffe (erst) in einem Handgemenge an sich gebracht habe, wurde im Wesentlichen auch vom Zeugen Emrah Ö***** (ON 75 S 11) ausgesagt.

Da die Würdigung der für die Entscheidung der Schuldfrage zu berücksichtigenden Verfahrensergebnisse allein den Geschworenen zukommt, hätte diesen die Möglichkeit zur Beurteilung dieses an sich denkbaren Geschehensablaufs - ungeachtet der Glaubwürdigkeit seiner Darstellung - durch entsprechende Fragestellung gegeben werden müssen. Ob im Zeitpunkt der inkriminierten Handlungen (der Messerstiche) tatsächlich ein (noch) gegenwärtiger oder unmittelbar drohender rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut (hier Leben oder körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers) vorlag oder von diesem irrtümlich angenommen wurde und dieser (bloß) notwendige (im Fall des § 3 Abs 1 zweiter Satz StGB: nicht offensichtlich unangemessene) Verteidigungshandlungen setzte oder - aus einem in § 3 Abs 2 StGB genannten Grund - die zulässige Abwehr überschritt (vgl zum Ganzen: Lewisch in WK2 § 3 Rz 34, 62 ff, 87, 143 ff, 159; Höpfel in WK2 § 8 Rz 6 f), wäre demnach in Form einer - alternativ gefassten - Zusatzfrage (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 619; vgl zum Grundsatz der Totalabstimmung bei mehreren Strafausschließungs- oder -aufhebungsgründen: RIS-Justiz RS0102740) nach Notwehr, Notwehrüberschreitung (aus asthenischem Affekt), Putativnotwehr und Putativnotwehrüberschreitung (aus asthenischem Affekt) sowie einer Eventualfrage nach fahrlässiger Körperverletzung (unter besonders gefährlichen Verhältnissen) zu klären gewesen.

Die in der unterlassenen Fragestellung gelegene Nichtigkeit (Z 6) erfordert die Kassation des Schuldspruchs und des zugrunde liegenden Wahrspruchs, demzufolge auch des Strafausspruchs und des Adhäsionserkenntnisses sowie des unter einem gefassten Beschlusses auf Widerruf einer bedingten Strafnachsicht bereits bei der nichtöffentlichen Beratung (§§ 285e erster Satz, 344 StPO). Das weitere Vorbringen der Nichtigkeitsbeschwerde bedarf damit keiner Erörterung.

Mit ihren Berufungen waren die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte, dieser auch mit seiner Beschwerde auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.

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