European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129054
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Gründe:
Mit Beschluss vom 15. Oktober 2019, GZ 314 HR 31/18s- 43, erklärte das Landesgericht für Strafsachen Wien die Auslieferung des Boris M* an die Russische Föderation zur Strafverfolgung wegen der in der – dem Auslieferungsersuchen vom 7. Dezember 2018 (ON 21) zu Grunde liegenden – Verordnung zur Strafverfolgung vom 21. Mai 2018 beschriebenen und durch Note vom 8. August 2019 konkretisierten (ON 37) Tatvorwürfe für (nicht un‑)zulässig.
Das Oberlandesgericht Wien gab der dagegen vom Betroffenen erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom 18. Februar 2020, AZ 22 Bs 295/19x, nicht Folge (ON 55).
Rechtliche Beurteilung
Gegen diese Entscheidungen richtet sich der Erneuerungsantrag des Betroffenen analog § 363a Abs 1 StPO, der eine Verletzung der Art 3 und 6 MRK sowie des Art 47 GRC behauptet.
Ihm kommt – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – keine Berechtigung zu:
Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten Erneuerungsantrag (RIS‑Justiz RS0122228), bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen (Art 34 und 35 MRK) sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737, RS0128394). Dem Erfordernis der Ausschöpfung des Rechtswegs wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; RIS‑Justiz RS0122737 [T13]).
Da Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein (Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 16), hat ein Erneuerungsantrag nach § 363a StPO deutlich und bestimmt darzulegen, worin die (vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS‑Justiz RS0122737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS‑Justiz RS0124359) und – soweit er (auf Grundlage der Gesamtheit der Entscheidungsgründe) nicht Begründungsmängel aufzuzeigen oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen zu wecken vermag – seine Argumentation auf der Basis der Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung zu entwickeln (RIS‑Justiz RS0125393 [T1]).
Diesen Erfordernissen wird das Antragsvorbringen nicht gerecht:
Die Einwendungen gegen den genannten Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15. Oktober 2019 verfehlen den Bezugspunkt (RIS‑Justiz RS0124739 [T2], RS0122737 [T41]).
Der erstmals im Erneuerungsantrag angesprochene – laut Antragsteller bereits zum Zeitpunkt der Auslieferungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht am 18. Februar 2020 erkennbare – Umstand mangelnder Vorkehrungen der Russischen Föderation gegen die aktuelle Corona-Pandemie, aus welchen eine dem Betroffenen drohende Verletzung des Art 3 MRK abgeleitet wird, muss– mangels horizontaler Erschöpfung des Rechtswegs – dahingestellt bleiben.
Soweit der Erneuerungswerber das Bestehen eines hinreichenden Verdachts einer auslieferungsfähigen strafbaren Handlung in Abrede stellt, hält er der – den Kriterien des § 33 Abs 2 ARHG entsprechenden – (Schlüssigkeits‑)Prüfung (RIS‑Justiz RS0087119 [T2]) des Beschwerdegerichts bloß den eigenen Prozessstandpunkt entgegen. Die Kritik „vorweggreifender Beweiswürdigung“ wegen unterlassener Prüfung der „zahlreichen“ vorgelegten „Beweise“, insbesondere des Urteils des Basmanny District Court/Moskau vom 9. Oktober 2017, der Charta der Erimitage, diverser Zeitungsartikel und Internetlinks, sowie wegen unterbliebener Beischaffung anderer Auslieferungsakten verkennt, dass Urkunden, die der Annahme des Tatverdachts allenfalls entgegenstehen könnten, diesen aber noch nicht unmittelbar und zweifelsfrei entkräften, keine Prüfpflicht des ersuchten Staates auslösen (RIS‑Justiz RS0125233) und die (insofern angesprochene) Garantie des Art 6 MRK im Auslieferungsverfahren selbst keine Anwendung findet (RIS‑Justiz RS0123200 [T2, T3 und T15]).
Die vom Betroffenen thematisierten Haftbedingungen in russischen Gefängnissen, aus welchen er eine ihm – zufolge Verschlechterung des eigenen Gesundheitszustands – drohende gravierende Menschenrechtsverletzung ableitet, erachtete das Oberlandesgericht mit Blick auf die von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation erteilten und für zuverlässig eingestuften Garantien nicht als geeignet, die individuelle Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung in der Russischen Föderation hinreichend konkret und schlüssig nachzuweisen, zumal eine dem Erneuerungswerber drohende Gefahr von Folter oder sonstiger schwerer Misshandlung gar nicht behauptet wurde (BS 7 f; vgl Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 20 Rz 79).
Indem der Erneuerungswerber den Erwägungen des Beschwerdegerichts den eigenen Standpunkt entgegenhält, wonach die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die MRK in der Russischen Föderation nicht mehr vorbehaltlos akzeptiert werden, sodass eine Auslieferung dorthin unzulässig sei und eine sich ohnedies nur auf das Strafverfahren, nicht jedoch auf den Strafvollzug beziehende Garantieerklärung in diesem Licht ihre Bedeutung verliere, bekämpft er bloß in unzulässiger Weise die Tatsachenannahmen der Beschwerdeentscheidung, ohne formale Mängel in Richtung von Anhaltspunkten für die Annahme einer Situation systematischer Menschenrechtsverletzungen im Zielstaat aufzuzeigen, die diplomatische Zusicherungen generell wertlos erscheinen ließe. Mit dem Hinweis auf die „jüngste Verfassungsänderung“ in der Russischen Förderation und die Judikatur des russischen Verfassungsgerichtshofs, wonach Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an der russischen Verfassung zu messen wären, wird ein konkretes – entgegen den erteilten diplomatischen Zusicherungen bestehendes – Risiko der auszuliefernden Person nicht aufgezeigt (vgl 12 Os 154/15m; 14 Os 53/17a ; Göth‑Flemmich in WK² ARHG Vor §§ 10–25 Rz 7 f).
Die Verfahrensgarantien des Art 6 MRK können– unbeschadet seiner grundsätzlichen Unanwendbarkeit im Auslieferungsverfahren selbst – für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) droht (RIS‑Justiz RS0123200; Göth‑Flemmich in WK2 ARHG § 19 Rz 14). Indem der Antragsteller eine politisch motivierte Strafverfolgung aufgrund eines Konflikts zwischen russischen Geheimdiensten behauptet und wiederum einwendet, die von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation erteilten Garantien würden aufgrund der nicht mehr vorbehaltlosen Akzeptanz der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der EMRK in der Russischen Föderation ihre Bedeutung verlieren, setzt er sich nicht mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung des Oberlandesgerichts in den relevanten Punkten (BS 3 ff) auseinander und zeigt somit auch unter diesem Aspekt keine Fehlbeurteilung im bekämpften Beschluss auf.
Mit dem Antrag vorgelegte russische Zeitungsartikel, die aus Sicht des Erneuerungswerbers eine mediale Vorverurteilung in der Russischen Föderation dokumentieren, bleiben als Neuerungen unbeachtlich (vgl RIS‑Justiz RS0127726).
Eine Berufung auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (hier: nach Art 47 GRC) scheidet im erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO aus (RIS‑Justiz RS0132365 [T2 und T3]).
Der Erneuerungsantrag des Betroffenen war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).
Ein Antrag auf Zuerkennung der hemmenden Wirkung ist gesetzlich nicht vorgesehen (RIS‑Justiz RS0125705), weshalb das darauf bezogene Begehren des Betroffenen als unzulässig zurückzuweisen war.
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