European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0120OS00136.18V.1206.000
Spruch:
Das Urteil des Landesgerichts Steyr als Berufungsgericht vom 27. August 2018, AZ 17 Bl 15/18y (ON 27), verletzt das Gesetz in § 88 Abs 2 Z 2 StGB.
Gründe:
Mit Strafantrag vom 9. Oktober 2017, AZ 14 BAZ 944/17y (ON 9 des Bezugsakts AZ [nunmehr:] 5 U 185/18b des Bezirksgerichts Steyr), legte die Staatsanwaltschaft Steyr Andreas S***** und Lukas F***** „Vergehen der Körperverletzung durch Unterlassung nach §§ 2; 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB“ zum Nachteil von Eva-Maria A***** und Stefanie Ar***** zur Last.
Der Angeklagte Andreas S***** wurde mit dem, auch einen in Rechtskraft erwachsenen Freispruch des Mitangeklagten Lukas F***** enthaltenden Urteil des Bezirksgerichts Steyr vom 1. März 2018, GZ 7 U 52/17g‑20, des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach §§ 2, 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB (auf Basis der das „Primat des Tuns“ sowie fahrlässiges Verhalten zum Nachteil zweier Tatopfer zum Ausdruck bringenden Urteilsannahmen richtig: jeweils eines Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB und nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB) schuldig erkannt, weil er am 14. Juli 2017 anlässlich einer Veranstaltung der Bezirksjugendfeuerwehr im Turnsaal der NMS in S***** Eva-Maria A***** in Form von Rissquetschwunden am Hinterkopf und an der Stirn sowie mehrfacher Frakturen der Brustwirbelkörper schwer und Stefanie Ar***** in Form einer Gehirnerschütterung und einer Schädelprellung leicht am Körper verletzt hat, indem er beim Aufbau einer Bühnenbeleuchtung die notwendigen Maßnahmen zur Gewährleistung der Standsicherheit außer Acht ließ und dadurch bewirkt hat, dass, nachdem die Attrappe eines Feuerwehrautos unabsichtlich gegen eines der Stative gelenkt wurde, die gesamte Beleuchtungseinheit auf die beiden auf der Bühne stehenden Mädchen stürzen konnte.
Seiner dagegen erhobenen Berufung gab das Landesgericht Steyr mit Urteil vom 27. August 2018, AZ 17 Bl 15/18y (ON 27), in Ansehung des Tatopfers Eva‑Maria A***** nicht Folge. Aus Anlass der Berufung des Angeklagten wurde jedoch gemäß §§ 471, 290 Abs 1 StPO in amtswegiger Wahrnehmung des Nichtigkeitsgrundes des § 281 Abs 1 Z 9 lit a (richtig: Z 10, weil nach Ansicht des Berufungsgerichts zu Unrecht eine weitere idealkonkurrierende strafbare Handlung angenommen wurde [RIS-Justiz RS0099947; Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 9.194]) StPO iVm § 468 Abs 1 Z 4 StPO das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt blieb, im Schuldspruch wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach §§ 2, 88 Abs 1 StGB betreffend das weitere Tatopfer Stefanie Ar*****, demzufolge auch in den Aussprüchen über die Strafe und über dessen privatrechtliche Ansprüche aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.
Das Berufungsgericht erblickte „bezugnehmend auf § 88 Abs 2 Z 2 StGB“ einen Rechtsfehler mangels Feststellungen zur Frage, ob das zuletzt erwähnte Tatopfer eine Gesundheitsschädigung von mehr als 14-tägiger Dauer erlitten hat, und erachtete die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens für geboten (US 4 dritter Absatz).
Im zweiten Rechtsgang ist ein Urteil noch nicht ergangen.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, steht das Urteil des Landesgerichts Steyr als Berufungsgericht im Umfang der amtswegigen teilweisen Aufhebung des Urteils erster Instanz mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Nach den Feststellungen des Erstgerichts verursachte der Angeklagte Andreas S***** durch Außerachtlassen notwendiger Maßnahmen zur Gewährleistung der Standsicherheit beim Aufbau einer Bühnenbeleuchtung (US 8), somit durch einen (einzigen) Sorgfaltsverstoß, fahrlässig schwere Verletzungen der Eva-Maria A***** und leichte Verletzungen der Stefanie Ar***** (US 12), wobei ihm grobe Fahrlässigkeit (§ 6 Abs 3 StGB) oder der von § 81 Abs 2 StGB bezeichnete Fall (§ 88 Abs 3 StGB) nicht zur Last gelegt wurde.
Werden durch dieselbe Tat eine Person leicht und eine andere schwer verletzt, so treten § 88 Abs 1 StGB und § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB in echte (Ideal-)Konkurrenz (Kienapfl/Schroll StudB BT I4 § 88 Rz 28; Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 88 Rz 94; Fabrizy, StGB12 § 88 Rz 8; vgl RIS-Justiz RS0112161).
Demnach hat der Angeklagte nach den erstgerichtlichen Urteilsannahmen durch eine Tat in rechtlicher Hinsicht zwei strafbare Handlungen, nämlich die Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB sowie nach § 88 Abs 1 StGB verwirklicht.
Nach § 88 Abs 2 Z 2 StGB ist der nicht grob fahrlässig handelnde Täter nach § 88 Abs 1 StGB nicht zu bestrafen, wenn aus der Tat keine Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit einer anderen Person von mehr als 14‑tägiger Dauer erfolgt.
Der Begriff „Tat“ bezeichnet nach ständiger (von Gesetzen jüngeren Datums in der Regel auch berücksichtigter) Terminologie des Obersten Gerichtshofs den historischen Sachverhalt, der darauf hin geprüft wird, ob er der gesetzlichen Kategorie (zumindest) einer strafbaren Handlung, also eines tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens, das auch allfälligen zusätzlichen Voraussetzungen für die Strafbarkeit genügt, subsumiert werden kann (Ratz in WK² StGB Vor §§ 28–31 Rz 1; zum [prozessualen] Tatbegriff vgl auch 13 Os 53/02; RIS‑Justiz RS0113754; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 1.11 f). Demgemäß bezieht sich auch der Tatbegriff des § 88 Abs 2 Z 2 StGB (idF BGBl I 2010/111) auf den historischen Sachverhalt, womit er bedeutungsgleich ist mit jenem in § 28 StGB und §§ 260 Abs 1 Z 1, 262, 267 StPO (vgl RIS‑Justiz RS0090571). Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber von einer abweichenden Begrifflichkeit ausgegangen wäre, liege nicht vor.
§ 88 Abs 2 Z 2 StGB findet daher keine (auch nur teilweise) Anwendung, wenn bei einem Unfallgeschehen mehrere Personen fahrlässig verletzt werden und nicht nur eine unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des § 88 Abs 2 Z 2 StGB liegende Verletzung einer Person, sondern darüber hinausgehende Verletzungen (oder der Tod) wenigstens einer weiteren Person entstanden sind. Denn dann sind „aus der Tat“ im Sinn eines historischen Ereignisses auch Folgen in einem über § 88 Abs 2 Z 2 StGB hinausgehenden Umfang eingetreten (RIS‑Justiz RS0096829; Kienapfel/Schroll StudB BT I4 § 88 Rz 49; Fabrizy StGB12, § 88 Rz 4; Oshidari in Fucik/Hartl/Schlosser, Verkehrsunfall VII² Rz 385; Leukauf/Steiniger/Nimmervoll StGB4 § 88 Rz 15b; aM Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 88 Rz 37; Bertel/Schwaighofer/Venier BT I14 § 88 Rz 6; Mayerhofer StGB6 § 88 Rz 42; OLG Innsbruck 4 Bs 63/84).
Es war daher festzustellen (§ 292 StPO), dass das Berufungsgericht § 88 Abs 2 Z 2 StGB verletzt hat.
Hat das Berufungsgericht zu Unrecht von der ihm gemäß §§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall, 471 StPO zustehenden Befugnis, materielle Nichtigkeitsgründe von Amts wegen wahrzunehmen, Gebrauch gemacht und gereicht diese Gesetzesverletzung dem Angeklagten zum Vorteil, muss es mit deren Feststellung das Bewenden haben. Daraus ergibt sich für das Erstgericht (RIS-Justiz RS0100309), dass es aufgrund der Bindung an die – wenn auch verfehlte – Rechtsansicht des Berufungsgerichts (§§ 293 Abs 2, 447 Abs 1 StPO) im Verfahren gegen Andreas S***** die Sachverhaltsgrundlage zur Dauer der Verletzung der Stefanie Ar***** zu verbreitern und – wenn im zweiten Rechtsgang eine mehr als 14-tägige Verletzung nicht festgestellt werden sollte – lediglich eine Strafe auf Grundlage des unberührt gebliebenen Schuldspruchs zum Nachteil der Eva-Maria A***** (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) festzusetzen und die Privatbeteiligte Stefanie Ar***** auf den Zivilrechtsweg zu verweisen haben wird. Im umgekehrten Fall wäre der Schuldspruch um ein weiteres Vergehen nach § 88 Abs 1 StGB zum Nachteil der genannten Privatbeteiligten zu ergänzen, davon ausgehend die Strafe zu bemessen und der Privatbeteiligtenzuspruch vorzunehmen.
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