European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0120OS00113.16H.0922.000
Spruch:
Das Urteil des Landesgerichts Leoben als Schöffengericht vom 5. Juli 2016, GZ 34 Hv 7/16a‑39, verletzt in den Schuldsprüchen I./ bis IV./ § 31 Abs 1 EU‑JZG.
Gemäß § 292 letzter Satz StPO sowie aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde wird dieses Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt,
- in den Schuldsprüchen I./ bis IV./
- in Betreff des Schuldspruchs V./ in der rechtlichen Annahme mehrerer Verbrechen der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 StGB und mehrerer Vergehen der Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 15 Abs 1 StGB
- sowie demzufolge auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) und im Ausspruch nach § 369 Abs 1 StPO aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung der Schuldsprüche I./ bis IV./ und des Ausspruchs nach § 369 Abs 1 StPO wird in der Sache selbst erkannt:
Roland S***** wird vom Vorwurf, er habe
I./ von 17. bis 27. Juli 2015 in L*****, T***** und an anderen Orten Österreichs in zahlreichen Angriffen Karin St***** durch gefährliche Drohung teils mit zumindest einer Verletzung am Körper, teils mit einer Verletzung am Vermögen, zu Handlungen und Unterlassungen zu nötigen versucht, nämlich durch zahlreiche per SMS gesendete sinngemäße Ankündigungen, „er werde sie so lange dreschen, bis sie es kapiere“, „sie solle es kappieren, ansonsten werde ihr Kopf rollen“ bzw „ansonsten werde es tscheppan“, „er werde sie fertigmachen“, „er werde ausbrechen und dann werde sie fix sterben“, „er werde morgen kommen und dann sei sie fällig“, „sie sei tot, wenn sie nicht mache, was er sage“, „wenn sie einen anderen Hawara habe, würde sie mit ihm sterben“, „wenn sie Probleme mache, sei sie einen Kopf kürzer“ und „wenn sie nicht komme, werde er ihr Auto nehmen“, zur Aufrechterhaltung des telefonischen Kontakts mit ihm bzw zur Aufhebung der Anrufsperre ihres Mobiltelefons, zur Anfertigung und Übermittlung einer Nachricht, wonach sie seinen Penis küsse, zum Unterlassen einer Anzeigenerstattung bei der Polizei, zum Unterlassen des Kontaktes zu anderen Männern, zur Weiterbezahlung der Miete für eine Garage, zur Rückkehr in ihre Wohnung, zur Unterlassung weiterer „Drohungen“ und der Verwendung seiner Sachen sowie dazu, ihn bei genehmigten Freigängen von der Justizanstalt L***** abzuholen;
II./ von 17. bis 27. Juli 2015 in L*****, T***** und an anderen Orten Österreichs Karin St***** außer den Fällen des § 201 StGB durch gefährliche Drohung mit zumindest einer Verletzung am Körper zur Vornahme einer geschlechtlichen Handlung genötigt, nämlich dazu, sich einen Vibrator in die Vagina einzuführen und ihm ein Foto davon zu schicken, indem er sie in mehreren Angriffen per SMS dazu aufforderte, ihm ein „vibsiinmuschfoto“ bzw „das Foto“ zu schicken, widrigenfalls er sie vernichten bzw umbringen werde;
III./ zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt zwischen 24. und 27. Juli 2015 in T***** Karin St***** fremde bewegliche Sachen durch Einbruch in eine Wohnstätte mit dem Vorsatz weggenommen, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem er in deren Wohnhaus eine Tür im Erdgeschoß sowie die Küchentüre gewaltsam aufbrach und Lebensmittel unbekannten Wertes sowie 210 Euro Bargeld an sich nahm;
IV./ zu nicht näher bekannten Zeitpunkten zwischen Dezember 2014 und Ende Juni 2015 in T***** Karin St***** mit Gewalt zur Vornahme dem Beischlaf gleichzusetzender Handlungen genötigt, indem er sie in zwei bis drei Angriffen dazu aufforderte, ihn oral zu befriedigen und sie, als sie ihm explizit zu verstehen gab, dies nicht zu wollen, trotz ihrer Gegenwehr am Kopf erfasste, sie nach unten in Richtung seines Penis drückte, sie dazu zwang, ihn oral zu befriedigen und sie festhielt, als sie versuchte, sich seinem Griff zu entziehen gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Die Privatbeteiligte Karin St***** wird mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen.
Im darüber hinausgehenden Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Einzelrichter des Landesgerichts Leoben verwiesen.
Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Gründe:
Mit dem angefochtenen – auch einen rechtskräftigen Freispruch enthaltenden – Urteil wurde Roland S*****, der aufgrund des von der Staatsanwaltschaft Leoben am 17. Mai 2016 erlassenen Europäischen Haftbefehls (ON 8 in ON 28) in Italien festgenommen und von den italienischen Justizbehörden an Österreich übergeben worden war (ON 28 in ON 28), mehrerer Vergehen der Nötigung nach §§ 15 Abs 1, 105 Abs 1 StGB (I./), der Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs 1 StGB (II./), des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs 1 Z 1 und Abs 2 Z 1, 15 Abs 1 StGB (III./), der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB (IV./) sowie „mehrerer Verbrechen der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 StGB und mehrerer Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB, § 15 Abs 1 StGB“ (V./) schuldig erkannt.
Danach hat er
zu I./ bis IV./: die oben im Spruch näher dargestellten Tathandlungen begangen und
zu V./: von 18. bis 29. April 2016 in P***** und an anderen Orten Bettina G***** in zahlreichen Angriffen durch die im angefochtenen Urteil detailliert dargestellten, telefonisch, per SMS und via „WhatsApp“ abgegebenen Äußerungen (US 3–5), somit durch gefährliche Drohung mit zumindest einer Verletzung an ihrem bzw am Körper von Sympathiepersonen zu Handlungen und Unterlassungen genötigt und zu nötigen versucht, die teils besonders wichtige Interessen der Bettina G***** verletzten, nämlich zur Aufrechterhaltung des Kontaktes mit ihm, zur Bekanntgabe ihrer Arbeitszeiten und weiterer Informationen, dazu, die von ihr erstattete Anzeige zurückzuziehen, sowie zur Abstandnahme davon, eine neue Beziehung einzugehen.
Über die gegen dieses Urteil vom Angeklagten ergriffene Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe (ON 40, 45) hat das Oberlandesgericht Graz noch nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur
Wahrung des
Gesetzes zutreffend ausführt, verletzen die Schuldsprüche I./ bis IV./ des angefochtenen Urteils das Gesetz.
§ 271 Abs 1 Z 5 StPO ermöglicht es dem Obersten Gerichtshof, sich über den Inhalt eines in der Hauptverhandlung verlesenen Schriftstücks ein Bild zu machen. Solcherart ist er in der Lage, sich vom Fehlen einzelner Spezialitätserfordernisse zu überzeugen ( Ratz , WK‑StPO § 290 Rz 17). Wenn die für die Feststellungen über prozessuale Tatsachen notwendigen Beweismittel in der Hauptverhandlung vorgekommen sind, kann der Oberste Gerichtshof aus den Akten eigenständige Feststellungen treffen und aufgrund dieser in der Sache selbst entscheiden ( Ratz , WK-StPO § 288 Rz 40 ff). Ein solcher Fall liegt hier vor.
Nach den in der Hauptverhandlung vorgekommenen Verfahrensergebnissen (ON 38 AS 5) war Grundlage für die Übergabe des am 23. Mai 2016 in Italien festgenommenen (und seither durchgehend in Haft befindlichen) Angeklagten an die österreichische Justiz die entsprechende „Anordnung“ des Berufungsgerichts Triest (ON 16 AS 3 in ON 28). Darin wurde die Übergabe allerdings nur zum Zweck der Strafverfolgung wegen der im Europäischen Haftbefehl vom 17. Mai 2016 (ON 8 in ON 28) bezeichneten Straftaten bewilligt, wobei sich keine Hinweise für vorliegende Ausnahmen von der Spezialität der Übergabe (vgl § 31 Abs 2 EU-JZG) finden.
Da im erwähnten Europäischen Haftbefehl allein die im Schuldspruchpunkt V./ umschriebenen Straftaten Deckung finden, lag hinsichtlich der in den Schuldsprüchen I./ bis IV./ erfassten Verhaltensweisen das (prozessuale) Verfolgungshindernis der Spezialität nach § 31 Abs 1 EU-JZG (vgl Hinterhofer in WK² EU-JZG § 31 Rz 37 ff) vor.
Mit Blick auf den offensichtlichen Nachteil für den Angeklagten war der Feststellung der Gesetzesverletzung konkrete Wirkung zuzuerkennen (§ 292 letzter Satz StPO).
Mangels aktenkundiger Hinweise für ein zum Urteilszeitpunkt anhängiges Nachtragsübergabeverfahren sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die betroffenen Schuldsprüche aufzuheben und gemäß § 288 Abs 2 Z 3 StPO in der Sache selbst mit Freispruch vorzugehen (RIS-Justiz RS0098426, RS0092340).
Aufgrund des Freispruchs vom Vorwurf III./ war das bezughabende Adhäsionserkenntnis aufzuheben und die Privatbeteiligte mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg zu verweisen. Wird über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit der Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer im Sinn des Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen. Bei untrennbar mit dem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten (RIS‑Justiz RS0124740 [T3]).
Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde überzeugte sich der Oberste Gerichtshof zudem von nicht geltend gemachter Nichtigkeit (§ 281 Abs 1 Z 10 StPO) in Ansehung der Subsumtion der Taten laut Schuldspruch V./ (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO).
Denn die Feststellungen (US 11) lassen nicht erkennen, ob das Erstgericht bei der angenommenen fortlaufenden Verwirklichung des Tatbestands in kurzer zeitlicher Abfolge von einer einheitlichen Motivationslage des Angeklagten im Sinn einer tatbestandlichen Handlungseinheit (RIS‑Justiz RS0122006, RS0127374) ausgegangen ist oder nicht. Von der sachverhaltsmäßigen Klärung dieses Umstands hängt aber die Beantwortung der Frage ab, ob dem Angeklagten nur eine schwere Nötigung im Sinn der §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 StGB oder mehrere derartige strafbare Handlungen in Realkonkurrenz zur Last zu legen sind (zur bloß einmaligen Verwirklichung des Tatbestands bei fortgesetzten oder eskalierenden Nötigungshandlungen vgl Kienapfel/Schroll StudB BT I 4 § 105 Rz 94).
Insoweit war daher mit Urteilskassation vorzugehen.
Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.
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