European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0110OS00152.23X.0213.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Gründe:
[1] Soweit zur Erledigung des Antrags von Bedeutung wurde * M* mit Urteil der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 28. Februar 2023, GZ 75 Hv 3/23v‑32.2, des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 dritter Fall StGB (I/) und der Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB (II/1/ und II/2/) schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
[2] Der dagegen vom (damals) Angeklagten erhobenen Berufung unter anderem wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe gab das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht mit Urteil vom 22. August 2023, AZ 21 Bs 144/23i (ON 42 der Hv‑Akten), nicht Folge. Ein Vorbringen aus § 281 Abs 1 Z 4 iVm § 489 StPO wurde weder bei der Anmeldung der Berufung noch in der Berufungsschrift erstattet, weshalb das Berufungsgericht in seiner Entscheidung nicht auf die Abweisung von in der Hauptverhandlung gestellten Anträgen einging. Explizit setzte es sich (unter anderem) mit dem Vorbringen der Schuldberufung auseinander, das Erstgericht hätte aufgrund der leugnenden Verantwortung des Angeklagten, dessen (behaupteten) Alkoholkonsums und dessen psychiatrischer Vorerkrankung von Amts wegen ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zur Frage der Zurechnungsfähigkeit im Tatzeitpunkt einholen müssen. Zudem legte es dar, aus welchen Gründen es (erkennbar: ohne weitere Beweisaufnahmen) die auf Aussagen von Zeugen, eine sichergestellte (zielgerichtetes, emotionsgeladenes und gewaltbereites Verhalten des Angeklagten dokumentierende) Videoaufzeichnung des Geschehens und Angaben des Angeklagten zu seinen Erinnerungen an den Vorfall gestützte Beweiswürdigung der Erstrichterin zum objektiven und subjektiven Tatgeschehen für überzeugend hielt (ON 42 S 7 f).
Rechtliche Beurteilung
[3] Mit seinem nicht auf ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gestützten Antrag begehrt der Verurteilte die Erneuerung des Strafverfahrens betreffend dieerwähnten Entscheidungen des Landesgerichts für Strafsachen Wien (ON 32.2.) und des Oberlandesgerichts Wien (ON 42), wobei er eine Verletzung von Art 6 MRK reklamiert.
[4] Zum Gegenstand eines Erneuerungsantrags im (wie hier) erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO (vgl RIS‑Justiz RS0122228) kann nur eine als grundrechtswidrig bezeichnete letztinstanzliche Entscheidung oder Verfügung eines dem Obersten Gerichtshof untergeordneten Strafgerichts gemacht werden (vgl dazu Rebisant, WK‑StPO §§ 363a–363c Rz 34 ff; zur sinngemäßen Geltung aller gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen vgl RIS‑Justiz RS0122737). Ein weiteres Zulässigkeitskriterium ist die (horizontale und vertikale) Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs (RIS-Justiz RS0122737 [T2, T13]). Der Antrag hat überdies – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein (Grabenwarter/Pabel EMRK7 § 13 Rz 16) – eine Grundrechtsverletzung deutlich und bestimmt darzulegen (RIS‑Justiz RS0122737 [T17]) und sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS‑Justiz RS0124359).
[5] Die Behandlung eines Erneuerungsantrags bedeutet daher nicht die Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung oder Verfügung nach Art einer zusätzlichen Beschwerde- oder Berufungsinstanz (vgl 11 Os 47/19z; 12 Os 117/21d). Sie beschränkt sich vielmehr auf die Prüfung der reklamierten Verletzung eines Rechts nach der MRK oder einem ihrer Zusatzprotokolle (vgl RIS‑Justiz RS0129606 [T2, T3], RS0132365).
[6] Soweit sich der Erneuerungsantrag ausdrücklich auch gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 28. Februar 2013 (ON 32.2) richtet, ist er schon deshalb zurückzuweisen, weil Erneuerungsanträge gegen Entscheidungen, die der Erneuerungswerber im Instanzenzug anfechten kann, unzulässig sind.
[7] An der Nichtausschöpfung des (horizontalen und vertikalen) Instanzenzugs (vgl § 489 iVm § 281 Abs 1 Z 4 StPO) in der Berufungsschrift (ON 33.2) scheitert der Erneuerungsantrag auch, soweit sich der Verurteilte dadurch verletzt erachtet, dass vom Erstgericht seinem in der Hauptverhandlung am 28. Februar 2023 gestellten Antrag auf Vertagung der Hauptverhandlung zur Ermöglichung der Bevollmächtigung eines Wahlverteidigers nicht stattgegeben wurde (ON 32.1 S 3 f).
[8] Eine Verletzung in seinen Verteidigungsrechten durch das Berufungsgericht erblickt der Beschwerdeführer weiters darin, dass (auch) dieses keine amtswegige Beiziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur Klärung der Zurechnungsfähigkeit des (damals) Angeklagten im Tatzeitpunkt und zu dessen „Fähigkeit, einen deliktstypischen Vorsatz zu fassen“, verfügt hat. Weiters sei vom Berufungsgericht (ebenso wie vom Erstgericht) die amtswegige Erhebung und Auswertung „sämtlicher verfügbarer objektiver Beweismittel“ verabsäumt worden, namentlich von weiteren Videoaufzeichnungen, welche dem – nicht näher fundierten – Vorbringen des Erneuerungswerbers zufolge vorhanden sein sollen.
[9] Dem ist zu erwidern, dass im Rahmen einer Schuldberufung gegen das Urteil eines Einzelrichters (§ 489 StPO iVm § 473) neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden dürfen (RIS‑Justiz RS0101867), wobei solches Vorbringen bis zum Schluss der Berufungsverhandlung gestattet ist (RIS‑Justiz RS0101780 [T1]; zum Beweisantragsrecht im Rechtsmittelverfahren vgl Hinterhofer/Oshidari; Strafverfahren Rz 6.43 ff; Kirchbacher, StPO15 Rz 1, 4). Einen Antrag auf Aufnahme der nunmehr vermissten Beweise stellte der durch einen Verteidiger vertretene Angeklagte nach der Aktenlage weder in seiner vor dem Berufungsgericht mündlich vorgetragenen Berufungsschrift (ON 33.2) noch sonst im Rahmen der Berufungsverhandlung (ON 41.1). Auch in Bezug auf das von ihm kritisierte Unterbleiben von bestimmten Beweisaufnahmen hat er somit den Instanzenzug nicht ausgeschöpft (vgl bereits 15 Os 96/11y; 11 Os 80/11s).
[10] Denn das Berufungsgericht ist (im Rahmen der Anfechtungsrichtung) gesetzlicher Richter mit voller Kognitionsbefugnis und in der zur Sachentscheidung führenden Beweiswürdigung aufgrund einer Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld völlig frei. Nur im Fall von Bedenken gegen die erstinstanzliche Feststellung entscheidender Tatsachen ist es vor eigener meritorischer Entscheidung zur Beweiserhebung verpflichtet. Ohne einen die Erfordernisse des § 55 Abs 1 StPO erfüllenden Antrag entsteht keine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (potentiellen) weiteren Beweismitteln durch das Berufungsgericht, soweit es nicht von sich aus Bedenken gegen die Feststellungen des Erstgerichts zu entscheidenden Tatsachen hegt (vgl § 473 Abs 2 StPO sowie instruktiv: 11 Os 82/18w mit weiteren Nachweisen sowie einer Glosse von Ratz in EvBl 2019/7).
[11] Soweit der Erneuerungswerber das (vermeintliche) Fehlen einer ordnungsgemäßen Pflichtverteidigung durch (angebliche) Versäumnisse des ihm vom Staat beigegebenen Verfahrenshilfeverteidigers (ON 17; ON 23.2 S 1; ON 32.1 S 1) in der Hauptverhandlung und damit einhergehend (hinreichend erkennbar) die Verletzung einer Fürsorgepflicht der Gerichte (dazu näher etwa 12 Os 182/10x [12 Ns 91/10v]; 12 Os 113/13d; RIS‑Justiz RS0116665) releviert, ist er zunächst auf die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Nichtwahrnehmung einer habituellen Untüchtigkeit des Verfahrenshilfeverteidigers im erstgerichtlichen Verfahren zu verweisen (ON 42 S 5; RIS‑Justiz RS0096569 [T4]), mit welchen sich der Erneuerungsantrag nicht auseinandersetzt.
[12] Mit Blick auf die – für die Zulässigkeit des vorliegenden Erneuerungsantrags entscheidende –Unterlassung der Ausschöpfung des Rechtswegsbleibt anzumerken, dass der Erneuerungswerber im gesamten Berufungsverfahren ohnehin durch einen Wahlverteidiger vertreten war (ON 30.2; ON 33.2; ON 41.1). Dessen Verhältnis zum Angeklagten ist von der angesprochenen Garantie des Art 6 Abs 3 lit c MRK nicht umfasst (vgl 14 Os 51/12z mit weiteren Nachweisen; RIS‑Justiz RS0096569 [T5]).
[13] Der Erneuerungsantrag war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO).
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