OGH 11Os136/15g

OGH11Os136/15g1.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. Dezember 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Jukic als Schriftführerin in der Strafsache gegen Markus R***** wegen des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 StGB, AZ 11 Hv 83/14f des Landesgerichts Leoben, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 26. August 2014, ON 18, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Staatsanwältin Mag. Wenger, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0110OS00136.15G.1201.000

 

Spruch:

Im Verfahren AZ 11 Hv 83/14f des Landesgerichts Leoben verletzen die am 26. August 2014 erfolgte Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils in Abwesenheit des Angeklagten § 427 Abs 1 StPO.

Das Urteil wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Leoben führte ab 21. Februar 2014 zu AZ 9 St 40/14i gegen Markus R***** ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 StGB.

Er stand in Verdacht, am 16. Jänner 2014 in J***** mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz eine Vertreterin der Bezirkshauptmannschaft M***** durch die wahrheitswidrige Behauptung der teilweisen Begleichung eines Unterhaltsrückstands nach Überweisung von 2.500 Euro an die Bezirkshauptmannschaft unter Vorlage eines abgestempelten Zahlscheinabschnitts zur Reduktion des gerichtlich geltend gemachten Unterhaltsrückstands um diesen Betrag sowie zur Abstandnahme von der Geltendmachung der Unterhaltszahlungen für einundzwanzig Monate verleitet zu haben, welche die Bezirkshauptmannschaft in diesem Betrag am Vermögen schädigte (vgl den in der Folge eingebrachten Strafantrag ON 10).

Markus R***** wurde am 28. März 2014 in der Hauptverhandlung des gegen ihn wegen des Verdachts der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB geführten Strafverfahrens, AZ 3 U 139/12d des Bezirksgerichts J*****, vom Richter mit der nicht erfolgten Überweisung an die Bezirkshauptmannschaft konfrontiert und in Kenntnis gesetzt, dass die Staatsanwaltschaft Leoben gegen ihn „wegen allfälliger Urkundenunterdrückung bzw. Urkundenfälschung“ Ermittlungen „einleiten werde“ (ON 6 S 2).

Am 2. Juni 2014 erfolgte eine Vernehmung des R***** durch das Stadtpolizeikommando S***** „wegen Urkundenfälschung“ (ON 8 S 3, 5). Die Fälschung des Zahlungsabschnitts des Erlagscheins stellte er in Abrede (ON 8 S 5 ff). Zum Verdacht eines allfälligen betrügerischen Vorgehens anlässlich der Vorlage der Zahlungsbestätigung über 2.500 Euro erfolgte keine Befragung.

Die Staatsanwaltschaft legte R***** als das Vergehen des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 10); der Strafantrag wurde diesem am 4. August 2014 samt der Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt (ON 1 S 4; Rückschein bei ON 10).

Zum Termin der Hauptverhandlung am 26. August 2014 erschien der Angeklagte unentschuldigt (er hatte bloß eine ärztliche Bestätigung über seine Arbeitsunfähigkeit vorgelegt ‑ ON 15) nicht; das Gericht führte die Hauptverhandlung in Abwesenheit gemäß § 427 Abs 1 StPO mit der Begründung durch, dass es sich beim zum Sachverhalt vernommenen Angeklagten um einen Erwachsenen handle und ein Vergehen angeklagt sei (ON 17 S 2).

Nach Modifikation des Strafantrags hinsichtlich der nicht entscheidenden Tatsache des intendierten Geschädigten (ON 17 S 3) sprach das Gericht den Angeklagten des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 StGB schuldig und verurteilte ihn unter Bedachtnahme auf das Urteil des Bezirksgerichts J***** zu AZ 3 U 139/12d zu einer Zusatzfreiheitsstrafe in der Dauer von neun Monaten. Unter einem fasste es den Beschluss „gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO“ vom Widerruf zu der in genau diesem Verfahren des Bezirksgerichts J***** ausgesprochenen bedingten Strafnachsicht abzusehen.

Das Abwesenheitsurteil (ON 18) wurde dem Angeklagten samt Rechtsmittelbelehrung am 5. September 2014 durch Hinterlegung zugestellt (ON 1 S 5; ON 18).

Am 1. Oktober 2014 langte bei Gericht ein mit „Berufung und Nichtigkeit“ tituliertes Schreiben des Angeklagten ein (ON 19); diese Berufung wurde am 22. Dezember 2014 vom Oberlandesgericht Graz gemäß § 470 Z 1 iVm § 489 Abs 1 StPO wegen Verspätung als unzulässig zurückgewiesen (ON 23).

In Stattgebung mehrerer Anträge (ON 25, 28, 30) wurden dem Verurteilten Aufschübe des Strafantritts bis (zuletzt) 17. August 2015 bewilligt (ON 29, 32). Gegen den zuletzt genannten Beschluss brachte R***** Beschwerde ein, über die bisher nicht entschieden wurde (AZ 8 Bs 206/15b des Oberlandesgerichts Graz).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, wurde im Verfahren AZ 11 Hv 83/14f des Landesgerichts Leoben das Gesetz verletzt:

Gemäß § 427 Abs 1 StPO setzt die Durchführung der Hauptverhandlung und die Fällung des Urteils in Abwesenheit des Angeklagten ‑ unter anderem ‑ dessen Vernehmung gemäß §§ 164 oder 165 StPO zum Anklagevorwurf voraus.

Die (inhaltliche) Qualität der Vernehmung gemäß § 164 StPO und deren Vollständigkeit sind insofern für die Zulässigkeit des Abwesenheitsverfahren bedeutsame Kriterien, als davon die umfassende Beurteilungsmöglichkeit des Anklagevorwurfs durch den erkennenden Richter abhängt (§ 427 Abs 2 StPO; 11 Os 192/08g, SSt 2009/4). Darüber hinaus wahrt nur die förmliche Vernehmung als Beschuldigter, der eine Belehrung über die entsprechenden Rechte und Pflichten vorauszugehen hat, den durch Art 6 EMRK auf Verfassungsebene gehobenen Grundsatz des beiderseitigen Gehörs (RIS‑Justiz RS0129629; Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 8).

Gemäß § 164 Abs 1 StPO ist dem Beschuldigten vor Beginn der Vernehmung mitzuteilen, welcher Tat er verdächtig ist. Dieses Gebot verlangt mit Blick auf Art 6 Abs 3 lit a EMRK eine detaillierte Information sowohl über den Sachverhalt, dessen Verwirklichung dem Beschuldigten angelastet wird, als auch über dessen rechtliche Beurteilung (Kirchbacher, WK‑StPO § 164 Rz 14; Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 24 Rz 99).

R***** wurde lediglich wegen eines rechtlich als das Vergehen der „Urkundenfälschung“ (ON 8 S 3, 5) nach „§ 223 StGB“ (ON 8 S 1) qualifizierten Sachverhalts als Beschuldigter vernommen, jedoch wegen von einem auf Täuschung, Schädigung und unrechtmäßige Bereicherung gerichteten Vorsatz getragenen Tathandlungen des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 StGB schuldig erkannt (ON 18). Die Voraussetzungen für die Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit gemäß § 427 Abs 1 StPO lagen daher mangels Vernehmung zum Anklagevorwurf gemäß §§ 164 oder 165 StPO nicht vor.

Diese Gesetzesverletzung gereicht dem Angeklagten zum Nachteil, sodass sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah (§ 292 letzter Satz StPO), das Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Leoben zu verweisen.

Einer förmlichen Aufhebung (auch) der von dem Urteil rechtslogisch abhängigen Anordnungen, Verfügungen und Beschlüsse bedurfte es nicht (RIS‑Justiz RS0100444; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 28).

Mit Blick auf die Neudurchführung des Verfahrens bleibt anzumerken, dass sich die Zuständigkeit zur Entscheidung über den Widerruf bei nachträglicher Verurteilung (§ 55 StGB) nach § 495 Abs 2 StPO und nicht nach § 494a StPO richtet (RIS‑Justiz RS0111521; Jerabek in WK² StGB § 55 Rz 5). Demnach obliegt die Beschlussfassung über einen Widerruf im Fall einer nachträglichen Verurteilung jenem Gericht, dessen Urteil eine bedingte Nachsicht enthält (§ 495 Abs 2 StPO). Daher wäre vorliegend zur Entscheidung über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht das Bezirksgericht J***** berufen gewesen.

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