OGH 11Os135/10b

OGH11Os135/10b16.11.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Fries als Schriftführer, in der Strafsache gegen Mustafa U***** wegen Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 5. Mai 2010, GZ 428 Hv 2/09x-127, ferner über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerde werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde Mustafa U***** der Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er am 3. April 2009 in Wien andere zu töten versucht, und zwar

1./ Serap U*****, indem er zwei gezielte Schüsse auf sie abgab, wodurch sie Verletzungen im linken Schulterbereich und der linken Oberschenkel- und Gesäßbackenregion erlitt;

2./ Fabian R*****, indem er einen gezielten Schuss auf ihn abgab, wodurch dieser einen Mehrsegmenttreffer mit Durchschuss des Unterkiefers und einen Steckschuss im Bereich der linken Schulter erlitt;

3./ Amid A*****, indem er, zur Schussabgabe bereit, in die Wohnung stürmte und versuchte, die Tür jenes Zimmers, in dem sich A***** versteckt hielt, zu öffnen und in der Folge drei Schüsse durch ein Fenster in das Zimmer abgab.

Die Geschworenen hatten die anklagekonform gestellten Hauptfragen nach dem Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB bejaht.

Diese Schuldsprüche bekämpft der Angeklagte mit auf § 345 Abs 1 Z 4 und 5 StPO gestützter Nichtigkeitsbeschwerde, die fehlschlägt.

Rechtliche Beurteilung

Die Verfahrensrüge (§ 345 Abs 1 Z 4 StPO) zeigt zwar eingangs zutreffend auf, dass entgegen § 252 Abs 1 StPO die vor der Polizei im Ermittlungsverfahren (ON 48 S 3 ff) getätigte Aussage des Zeugen Hasan U***** in der Hauptverhandlung vorgetragen (ON 126 S 65, 69) wurde, obwohl sich dieser Zeuge in der Hauptverhandlung am 28. Jänner 2010 gemäß § 156 Abs 1 Z 1 StPO berechtigt der Aussage entschlagen hatte (ON 98 S 75), doch ist unzweifelhaft erkennbar, dass diese Formverletzung keinen dem Angeklagten nachteiligen Einfluss üben konnte (RIS-Justiz RS0112987, RS0121890).

Die unter § 345 Abs 1 Z 3 bis 6 und 10 StPO erwähnten Nichtigkeitsgründe können nämlich in diesem Fall zum Vorteil des Angeklagten gemäß § 345 Abs 3 StPO nicht erfolgreich geltend gemacht werden. Ein in solchem Sinn nachteiliger Einfluss ist etwa dann auszuschließen, wenn eine entgegen § 252 Abs 1 StPO verlesene Aussage mit der Verantwortung des Beschwerdeführers übereinstimmt (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 746).

Der Zeuge Hasan U***** gab (lediglich) an, dass der Angeklagte zwei Tage vor der Tat und am Tattag selbst in sein Lokal gekommen sei, Alkohol konsumiert hätte, sichtlich erzürnt und „fertig mit den Nerven“ gewesen sei, wobei ihn das Verhältnis seiner Tochter Serap zu „dem Bulgaren“ (Amid A*****) wütend gemacht habe (ON 48 S 13). Nichts anderes aber brachte der Angeklagte selbst in der Hauptverhandlung zum Ausdruck, wenn er angab, am Tattag das Lokal seines Vaters besucht und dort Alkohol getrunken zu haben, schließlich aber, wenngleich nicht stark betrunken, so doch in alkoholisiertem Zustand „die Selbstbeherrschung verloren“ zu haben und in die Wohnung gegangen zu sein, wo er seiner Tochter eine Lektion erteilen wollte, weil er mehrere Monate unter deren Beziehung zu Amid A***** gelitten habe (ON 98 S 27, 29, 33 f).

Dem weiteren Vorbringen zuwider ist keine nichtige Aussage (§ 159 Abs 3 StPO) der Zeugin Behidze W***** gegeben, der mangels Vorliegens der Angehörigeneigenschaft zutreffend die Aussagebefreiung nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO nicht zuerkannt wurde. Obwohl diese Zeugin nämlich die Frage, ob sie die Lebensgefährtin des Angeklagten sei, zunächst bejaht hatte, hat sie dann ergänzend angegeben, dass Mustafa U***** am Tag vor der Tat ausgezogen sei (ON 98 S 65), was mit der Einlassung des Angeklagten („Vom A***** die Mutter war meine Lebensgefährtin, ich habe mit ihr zusammengelebt. Zwei Tage vor dem Vorfall habe ich meine Wäsche von ihr abgeholt“ [ON 98 S 7]) übereinstimmt.

In der Hauptverhandlung begehrte die Verteidigerin die „Einvernahme des Zafer U***** zum Beweis dafür, dass bei dem Vorfall mit der Gaspistole weder er noch der Angeklagte eine Waffe hatte“, und mit der Begründung, die Aussage könne dem Beweis des Affekts, nämlich der Furcht des Angeklagten, sowie als Kontrollbeweis für die (mangelnde) Glaubwürdigkeit des Zeugen Amid A***** dienen.

Diese Beweisaufnahme konnte - dem Beschwerdevorbringen (§ 345 Abs 1 Z 5 StPO) zuwider - ohne Verletzung von Verteidigungsrechten unterbleiben, weil der unter Beweis zu stellende Umstand, der Angeklagte sei bei einem früheren Treffen mit dem - damals bewaffneten - Tatopfer Amid A***** seinerseits unbewaffnet gewesen, keinen Anhaltspunkt für eine den Angeklagten zur Tat motivierende Furcht geboten hätte. Die Frage der Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist überdies vom Gericht grundsätzlich aufgrund des von diesem gewonnenen Eindrucks zu beurteilen und nur in - hier nicht gegebenen - Ausnahmefällen einer Beweisführung überhaupt zugänglich (RIS-Justiz RS0120634).

Schließlich entzieht sich der nicht prozessordnungsgemäß erhobene Einwand, die Zurückweisung der Frage der Verteidigerin, „ob Frau U***** die Wohnung der gesamten Familie gekündigt hat“, verletze Art 6 MRK, einer inhaltlichen Erwiderung, weil der Beschwerde weder zu entnehmen ist, an wen diese Frage gerichtet war, noch die entsprechende Fundstelle in den Akten angegeben ist (RIS-Justiz RS0124172).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher gemäß §§ 285d Abs 1, 344 StPO bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen, woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen und die Beschwerde folgt (§§ 285i, 498 Abs 3 StPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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