European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0110OS00111.19M.1008.000
Spruch:
Die Urteile des Landesgerichts Leoben vom 16. Februar 2012, GZ 34 Hv 83/11w‑42, und des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 6. Juni 2012, AZ 8 Bs 172/12y (ON 51), verletzen § 212 Abs 2 Z 1 StGB idF BGBl I 2006/56.
Die Urteile werden aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Liezen verwiesen.
Gründe:
Mit – auch in Rechtskraft erwachsene Freisprüche enthaltendem – Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts Leoben vom 16. Februar 2012, GZ 34 Hv 83/11w-42, wurde H***** der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach §§ 212 Abs 2 Z 1, 15 StGB (idF BGBl I 2006/56) schuldig erkannt und zu einer unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.
Danach hat er
I./ zu nachangeführten Zeiten in L***** „als Angehöriger eines Gesundheits- und Krankenpflegeberufs“, nämlich als gemäß § 6b MTD-Gesetz zur Berufsausübung zugelassener Physiotherapeut, mit von ihm berufsmäßig betreuten Patientinnen unter Ausnützung seiner Stellung diesen Personen gegenüber geschlechtliche Handlungen vorgenommen, indem er im Zug der Therapie
A./ intensiv die nackten Brüste massierte, und zwar
1./ am 22. September 2008 der K*****, wobei er immer wieder ihre Brustwarzen berührte und dadurch auch stimulierte;
2./ zu nicht näher bekannten Zeitpunkten im Jahr 2009 der Ke***** im Zug von insgesamt sieben Therapieeinheiten in einer unbekannten Anzahl von Angriffen, wobei diese „Massagen“ jeweils ca zehn Minuten dauerten und H***** dabei teilweise auch die Brustwarzen berührte;
3./ am 21. Mai 2010 der M*****;
4./ entweder am 13. oder am 17. September 2010 der G*****, wobei er auch die Brustwarzen mitmassierte;
B./ zu einem unbekannten Zeitpunkt im September 2010 die nackten Brüste der Ke***** intensiv für die Dauer von zumindest 15 Minuten mit Berührung der Brustwarzen massierte und ihr nach Massagebewegungen in Richtung Schambereich und innerer Leisten mit beiden Händen für die Dauer von ca fünf Minuten die Schamlippen massierte und streichelte;
C./ am 26. April 2011 die nackten Brüste der R***** intensiv massierte, seinen erigierten Penis an ihrer rechten Hand rieb und mit einer Hand unter ihrer Unterhose kurz ihren Scheidenbereich berührte, wobei „die Tatvollendung, für die eine längere und intensive Berührung der Scheide erforderlich ist, scheiterte, weil R***** durch ihr Aufspringen eine längere Berührung verhinderte“.
Der Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe wurde mit Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 6. Juni 2012, AZ 8 Bs 172/12y (ON 51 der Hv‑Akten), ebenso wenig Folge gegeben wie jener der Staatsanwaltschaft wegen des Ausspruchs über die Strafe.
Mit rechtskräftigem Beschluss des Landesgerichts Leoben vom 25. Juni 2015 wurde die Strafe endgültig nachgesehen (ON 55).
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, stehen die Urteile beider Gerichte mit dem Gesetz nicht in Einklang.
Nach dem im allgemeinen Umfang seit 1. Jänner 1975 (BGBl 1974/60) unverändert in Geltung stehenden § 212 Abs 1 StGB ist unter anderem zu bestrafen, wer als Angehöriger einer der von § 212 Abs 2 Z 1 StGB bezeichneten, in der Folge durch Gesetzesnovellen erweiterten und präzisierten Berufsgruppen mit einer berufsmäßig betreuten Person unter Ausnützung seiner Stellung dieser Person gegenüber – soweit hier von Interesse – eine geschlechtliche Handlung vornimmt.
Durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2004, BGBl I 2004/15, wurde der Berufsgruppenkatalog des § 212 Abs 2 Z 1 StGB dahingehend neu gefasst, dass als Subjekte von Taten „mit einer berufsmäßig betreuten Person“ Ärzte, klinische Psychologen, Gesundheitspsychologen oder Psychotherapeuten oder sonstige Angehörige eines Gesundheits- oder Krankenpflegeberufs in Betracht kamen.
Das Strafrechtsänderungsgesetz 2006, BGBl I 2006/56, ersetzte die Wortfolge „Angehöriger eines Gesundheits- oder Krankenpflegeberufes“ durch „Angehöriger eines Gesundheits- und Krankenpflegeberufes“. Diese sprachliche Änderung diente (ausdrücklich nur) der Anpassung an § 1 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG), der die „Gesundheits- und Krankenpflegeberufe“ definiert; demnach wurde klargestellt, dass nur Gesundheits- und Krankenpflegeberufe im Sinn des GuKG der Strafbarkeit nach § 212 Abs 2 Z 1 StGB unterstehen sollen (ErläutRV 1325 BlgNR XXII. GP 6; Hinterhofer SbgK § 212 Rz 33).
Erst durch die gegenständlich – weil weder zum Tat‑ noch zum Urteilszeitpunkt in Geltung gestandene (vgl §§ 1 Abs 2, 61 StGB) nicht anzuwendende Strafgesetznovelle 2017, BGBl I 2017/117, wurde der Kreis der nach § 212 Abs 2 Z 1 StGB als Täter in Betracht kommenden Personen auf (alle) „Angehörigen eines gesetzlich geregelten Gesundheitsberufes“ ausgedehnt.
Nach den wesentlichen Urteilsannahmen war der Verurteilte zu den Tatzeitpunkten ein gemäß § 6b des Bundesgesetzes über die Regelung der gehobenen medizinisch-technischen Dienste (MTD-Gesetz) zur Berufsausübung zugelassener Physiotherapeut (US 5). Die rechtliche Beurteilung der befassten Gerichte, ihm würde daher als Angehörigem eines Gesundheits- und Krankenpflegeberufes Subjektqualität im Sinn des § 212 Abs 2 Z 1 StGB (idF BGBl I 2006/56) zukommen (ON 42 S 5, 10; ON 51 S 4), ist verfehlt, weil er gerade nicht als Angehöriger eines Gesundheits- und Krankenpflegeberufs im Sinn des § 1 GuKG praktiziert hat.
Das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht argumentiert auf Basis des § 212 Abs 2 Z 1 StGB idF BGBl I 2004/15, vernachlässigt aber die zu den Tatzeitpunkten (und im Urteilszeitpunkt) bereits in Geltung stehende Novellierung des § 212 Abs 2 Z 1 StGB durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2006, BGBl I 2006/56 (ON 51 S 4), das – wie aufgezeigt – eine erst 2017 (wieder) geschlossene Lücke aufwies.
Mangels Subjekteigenschaft ist das Tatbild nach § 212 Abs 2 Z 1 StGB (idF BGBl I 2006/56) somit in objektiver Hinsicht nicht erfüllt worden.
Da sich die Gesetzesverletzung für H***** nachteilig ausgewirkt hat, war der Feststellung der Gesetzesverletzungen konkrete Wirkung zuzuerkennen (§ 292 letzter Satz StPO).
Die inkriminierten Taten wären nach dem bisherigen Tatsachensubstrat als Vergehen der sexuellen Belästigung und öffentlicher geschlechtlicher Handlungen nach § 218 Abs 1 Z 1 StGB zu beurteilen (zur irrigen Annahme bloß versuchter Tat im Schuldspruch C./ [US 6] vgl zutreffend ON 51 S 4, 6).
Ergänzend wird angemerkt, dass hinsichtlich der Fakten A./1./ und 2./ die Verjährung (§§ 57 Abs 3 letzter Fall, 58 Abs 2 StGB) zu prüfen und zu beachten sein wird, dass die Zeugin G***** (ON 11 S 13) im Unterschied zu allen anderen Tatopfern erklärt hat, keine Ermächtigung zur Strafverfolgung nach § 218 Abs 3 StGB zu erteilen (vgl im Übrigen zur Verjährungsfrage RIS-Justiz RS0091834; Marek in WK² StGB § 58 Rz 26; Schallmoser SbgK § 58 Rz 70 f sowie zum Verschlechterungsverbot des § 290 Abs 2 StPO: Ratz, WK-StPO § 293 Rz 22 und § 290 Rz 55).
Von den aufgehobenen Urteilen rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen bedürfen keiner formellen Aufhebung (RIS-Justiz RS0100444).
Klarstellend wird darauf hingewiesen, dass – weil das Urteil des Landesgerichts Leoben bereits in Rechtskraft erwachsen und damit die Probezeit in Gang gesetzt worden war – der Beginn einer (gegebenenfalls ausgesprochen werdenden) Probezeit mit jenem Zeitpunkt festzuhalten sein wird (RIS‑Justiz RS0092039).
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