OGH 10ObS73/20p

OGH10ObS73/20p28.7.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Angela Taschek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch Mag. Petra Smutny, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei, Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Waisenpension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Februar 2020, GZ 9 Rs 18/20 p‑13, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 31. Oktober 2019, GZ 2 Cgs 158/19h‑9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129163

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die am 21. 12. 1964 geborene Klägerin hat aufgrund einer geistigen Behinderung niemals die Erwerbsfähigkeit erlangt. Am 9. 8. 1980 verstarb ihr Vater. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Neunkirchen vom 18. 12. 2013, AZ 11 P 73/13v, wurde für die Klägerin der NÖ Landesverein für Sachwalterschaft und Bewohnervertretung zum Sachwalter gemäß § 268 Abs 3 Z 3 ABGB für alle Angelegenheiten bestellt.

[2] Erstmals am 21. 8. 2014 (somit in ihrem 50. Lebensjahr) stellte die Klägerin vertreten durch den Sachwalter den Antrag auf Waisenpension nach ihrem verstorbenen Vater. Aus dem Antrag ergibt sich weder eine explizite Einschränkung auf den Zeitraum ab Antragstellung (21. 8. 2014) noch wird explizit die Zuerkennung der Waisenpension bereits ab dem Todestag des Vaters (9. 8. 1980) begehrt.

[3] Mit Bescheid vom 10. 10. 2014 anerkannte die Beklagte den Anspruch der Klägerin auf Waisenpension ab 21. 8. 2014. Dieser Bescheid erwuchs (unbekämpft) in Rechtskraft.

[4] Am 5. 2. 2019 beantragte die Klägerin (vertreten durch ihre nunmehrige Erwachsenenvertreterin) im Hinblick auf die Änderung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch das Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz (ErwSchAG BMASGK), BGBl I 2018/59, die (rückwirkende) Zuerkennung der Waisenpension nach ihrem verstorbenen Vater für den Zeitraum ab Eintritt des Versicherungsfalls (Todestag des Vaters) bis 20. 8. 2014. Sie sei seit dem Zeitpunkt des Ablebens ihres Vaters in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Dieser Zustand bestehe weiterhin, weshalb sie bisher selbst nicht in der Lage gewesen sei, einen Antrag auf Gewährung der Waisenpension zu stellen

[5] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 15. 4. 2019 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt diesen Antrag ab.

[6] In ihrer dagegen gerichteten Klage brachte die Klägerin vor, der Bescheid vom 10. 10. 2014 habe ausschließlich über den Zeitraum ab Antragstellung abgesprochen, nicht auch über den Zeitraum von 9. 8. 1980 bis 20. 8. 2014. Ein rechtskräftiger Bescheid, der der neuerlichen Entscheidung entgegenstehe, liege deshalb nicht vor. Erst seit dem Inkrafttreten des novellierten § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF des ErwSchAG BMASGK, BGBl I 2018/59, mit dem der Gesetzgeber das Erkenntnis des VfGH vom 4. 12. 2017, G 125/2017, mit 15. 8. 2018 umgesetzt habe, ende die darin genannte Antragsfrist für geschäftsunfähige erwachsene Personen sechs Monate nach Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit. Ihrem Standpunkt nach müsse weder der Versicherungsfall nach Inkrafttreten dieser Regelung eingetreten noch der Antrag nach diesem Zeitpunkt gestellt worden sein. Ihr die Ergänzung auf eine Leistung vorzuenthalten, die ihr zustehe, nur weil sie bereits im Jahr 2014 durch einen Sachwalter vertreten gewesen sei und von den ihr nach damaligem Recht offenstehenden Möglichkeiten Gebrauch gemacht habe, wäre sachlich nicht zu rechtfertigen. Eine anderslautende (einschränkende) Auslegung widerspräche dem Grundsatz der verfassungskonformen Interpretation und liefe auf eine neuerliche sachliche Ungleichbehandlung hinaus. Die erste Möglichkeit, die Hinterbliebenenpension rückwirkend geltend zu machen, habe für sie erst mit dem Inkrafttreten des (novellierten) § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF des ErwSchAG BMASGK bestanden. Ihr am 5. 2. 2019 – somit innerhalb von 6 Monaten ab dessen Inkrafttreten – gestellter Antrag auf rückwirkende Zuerkennung der Waisenpension sei fristgerecht. Zuvor sei sie von der Geltendmachung ihres Anspruchs auf Waisenpension in verfassungswidriger Weise ausgeschlossen gewesen.

[7] Die Beklagte wendete zusammengefasst ein, die Zuerkennung der Waisenpension für den Zeitraum von 1. 8. 1980 bis 20. 8. 2014 sei bereits mit dem Bescheid vom 10. 10. 2014 (implizit) rechtskräftig abgelehnt worden, weshalb die Klage wegen entschiedener Rechtssache zurückzuweisen sei. Eventualiter werde die Abweisung der Klage beantragt. Sowohl das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 4. 12. 2017, G 125/2017, mit dem Teile des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF des SRÄG 1993, BGBl 1993/335, aufgehoben wurden, als auch der durch das Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz 2018 BGBl I 2018/59, geänderte § 86 Abs 3 Z 1 ASVG seien mangels jedweder Rückwirkung ohne Einfluss auf den im Jahr 2014 rechtskräftig entschiedenen Anspruch auf Waisenpension. Abzustellen sei auf die zum Todestag des Versicherten im Jahr 1980 (dem Stichtag) geltende Fassung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG, nach der bei einem mehr als sechs Monate nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellten Antrag eine Zuerkennung der Waisenpension ab dem auf den Eintritt des Versicherungsfalls folgenden Tag nicht vorgesehen gewesen sei. Die Erreichung der allgemeinen Leistungsvoraussetzungen zu einem späteren Stichtag als dem durch den Todestag ausgelösten Stichtag sei für Hinterbliebenenpensionen ausgeschlossen. Im Übrigen sei die Klägerin bereits im Zeitpunkt der ersten Antragstellung im Jahr 2014 besachwaltet gewesen, sodass der am 5. 2. 2019 gestellte Antrag nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten nach dem Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit gestellt worden sei. Selbst bei rückwirkender Anwendung des neu gefassten § 86 Abs 3 Z 1 ASVG wäre diese Regelung nicht anwendbar.

[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung einer Waisenpension für den Zeitraum von 1. 8. 1980 bis 20. 8. 2014 ab. Der (in Rechtskraft erwachsene) Bescheid vom 10. 10. 2014 spreche ausdrücklich nur über den Anspruch auf Waisenpension ab 21. 8. 2014 ab. Sollte der Antrag auch die Zeit davor umfasst haben, liege darüber keine Entscheidung vor. Dem Klagebegehren stehe daher nicht die Bindungswirkung dieses Bescheids entgegen, weshalb es nicht zurückzuweisen, sondern in der Sache selbst zu entscheiden war. In der Sache schloss sich das Erstgericht im Wesentlichen dem inhaltlichen Rechtsstandpunkt der Beklagten an.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Da die in den Gründen der erstgerichtlichen Entscheidung enthaltene Verwerfung der Einrede der entschiedenen Rechtssache von der Beklagten nicht bekämpft worden sei, stehe das Vorliegen dieser Prozessvoraussetzung für das Berufungsgericht bindend fest. Dies ändere nichts daran, dass bereits im Bescheid vom 20. 8. 2014 der Anspruch auf Waisenpension für den Zeitraum ab Todestag bis 20. 8. 2014 (wenn auch nur implizit) rechtskräftig verneint worden sei. Die Änderung der Rechtslage könne einen neuen Anspruch vom Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit gewähren, erfasse aber niemals die vor ihrer Wirksamkeit liegenden Zeitabschnitte und die diese betreffenden Entscheidungen. Nur wenn im Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz BMASGK ausdrücklich ausgesprochen worden wäre, dass die Rechtskraft von nach der alten Rechtslage ergangenen Entscheidungen kein Hindernis für die Geltendmachung der Ansprüche aus dem geänderten Gesetz bildete, stünde die Rechtskraft derartigen Ansprüchen nicht entgegen. Mangels eines derartigen Hinweises hindere die Rechtskraft des Bescheides vom 10. 10. 2014 die neuerliche Prüfung der Grundlagen dieser Entscheidung im Leistungsverfahren. Die Neuregelung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch das Erwachsenenschutz‑Anpassungsgesetz BMASGK BGBl I 2018/59 sei nur auf „echte“ Neuanträge zu beziehen.

[10] Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Wirkung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF des ErwSchAG BMASGK auf rechtskräftig abgeschlossene Verfahren bestehe.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist im Hinblick auf das Fehlen von Rechtsprechung zu § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF des ErwSchAG BMASGK zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

[12] Auch in ihrer Revision hält die Revisionswerberin an ihrem Standpunkt fest, es sei nicht einzusehen, warum ihr der Anspruch nur deshalb nicht zustehen sollte, weil sie im Jahr 2014 von den ihr nach damaligem Recht offenstehenden Möglichkeiten Gebrauch gemacht habe. Ein rechtskräftiger Bescheid über den Zeitraum 1980 bis 2014 liege nicht vor. Die Neuregelung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG sei zur Hintanhaltung einer neuen verfassungsrechtlich bedenklichen Ungleichbehandlung so auszulegen, dass die Waisenpension zuzuerkennen sei.

[13] In ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, der Revision nicht Folge zu geben und die Urteile der Vorinstanzen zu bestätigen.

[14] Dazu wurde erwogen:

[15] I. Zur Einrede der entschiedenen Rechtssache:

[16] Die Beklagte hat die in den Gründen des erstinstanzlichen Urteils enthaltene Verwerfung der Einrede der entschiedenen Rechtssache unbekämpft gelassen, sodass darüber eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt (§ 42 Abs 3 JN; RS0040199 [T2]).

[17] II.1 Der Anspruch auf Waisenpension (§ 260 ASVG) geht als Hinterbliebenenpension auf die Versicherung des Verstorbenen zurück und stellt einen abgeleiteten Anspruch dar, bei dem die sekundären Leistungsvoraussetzungen durch den verstorbenen Versicherten erfüllt sein müssen. Der Versicherungsfall gilt als mit dem Tod eingetreten (§ 223 Abs 1 Z 3 ASVG). Stichtag ist der Todestag, wenn dieser auf einen Monatsersten fällt, sonst der dem Todestag folgende Monatserste (§ 223 Abs 2 ASVG).

[18] II.2.1 Ausgelöst wird der Anspruch auf Waisenpension erst durch die Antragstellung (Anfall der Leistung). Wenngleich die Antragstellung keine materielle Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs auf Waisenpension darstellt, ist sie Voraussetzung der Leistungspflicht und bestimmt in den Fällen des § 86 Abs 3 ASVG den Beginn der Leistungsgewährung (RS0083687). Wird kein Antrag gestellt, kommt es nicht zum Anfall (§ 361 Abs 1 Z 1 ASVG; RS0085092). Für die Gewährung der Waisenpension über das vollendete 18. Lebensjahr hinaus ist ein „besonderer Antrag“ erforderlich (§ 260 zweiter Satz ASVG).

[19] II.2.2 Zum Anfallszeitpunkt:

[20] Hinterbliebenenpensionen (Waisen- und Witwen‑/Witwerpensionen) fallen grundsätzlich mit dem Todestag an, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach dem Todestag gestellt wird; bei späterer Antragstellung mit dem Tag der Antragstellung (§ 86 Abs 3 Z 1 1. Satz ASVG). Dies ist sachlich durch das in der Pensionsversicherung geltende Antragsprinzip gerechtfertigt. Dass die Versicherungsträger und die Versichertengemeinschaft mit hohen Pensionsnachzahlungen für Zeiträume belastet werden, für die erst nachträglich ein Leistungsantrag gestellt wurde, soll vermieden werden (10 ObS 278/94, SSV-NF 8/126; 10 ObS 91/06i SSV‑NF 20/41).

[21] II.2.3 Anders als bei den Versicherungsfällen des Alters und der geminderten Arbeitsfähigkeit wird die Fixierung des Stichtags bei der Waisenpension durch die Antragstellung nicht beeinflusst. Die Antragstellung ist bei diesem Versicherungsfall lediglich für den Anfall der Leistung von Bedeutung (10 ObS 5/90 SSV‑NF 4/21 mwN). Sie kann auch nicht zur Entstehung eines nicht mehr bestehenden (durch Zeitablauf erloschenen) Anspruchs auf Leistung der Waisenpension führen (10 ObS 12/09a SSV-NF 23/18).

[22] II.3 Zu den Änderungen des § 86 ASVG:

[23] II.3.1 Um Härtefälle bei verspäteter Antragstellung auf Waisenpension zu entschärfen und den Schutz Minderjähriger zu erweitern, wurde im SRÄG 1993, BGBl I 1993/335, vorgesehen, dass die Waisenpension bei einer nicht fristgerechten Antragstellung bereits mit dem Eintritt des dem Versicherungsfall folgenden Tag anfällt, sofern der Antrag längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit der Waise gestellt wurde (§ 86 Abs 3 Z 1 Satz 2 ASVG). Für Personen, die aus Gründen einer geistigen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage waren, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu besorgen, war mangels einer entsprechenden Sonderregelung eine rückwirkende Antragstellung aber weiterhin ausgeschlossen (RS0053931 [T4]).

[24] II.3.2 Mit Erkenntnis vom 4. 12. 2017, G 125/2017, hob der Verfassungsgerichtshof in § 86 Abs 3 Z 1 idF BGBl I 2015/2 im ersten Satz die Wortfolge „wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalls gestellt wird“ und den zweiten und sechsten Satz ersatzlos als verfassungswidrig auf.

[25] Dem an den Verfassungsgerichtshof herangetragenen Fall lag zugrunde, dass nach Bekanntwerden der beschränkten Geschäftsfähigkeit einer volljährigen Halbwaise (infolge deren geistiger Behinderung) ein Sachwalter bestellt wurde, der unverzüglich rückwirkend die Zuerkennung der Waisenpension ab Eintritt des Versicherungsfalls (Todestag des Elternteils) beantragte. Den Grund für die Gesetzesaufhebung sah der Verfassungsgerichtshof in der sachlichen Ungleichbehandlung geschäftsunfähiger volljähriger Personen, soweit für die rückwirkende Gewährung von Waisenpensionen eine sechsmonatige Antragsfrist vorgesehen war. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs befinde sich eine aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts- und prozessunfähige Person mit einer minderjährigen Person in einer rechtlich vergleichbaren Lage. Ein sachlicher Grund dafür, dass der Gesetzgeber zwar weitreichende Schutzvorschriften für mündige Minderjährige vorsehe, hingegen für den genannten Personenkreis keinen vergleichbaren Schutz vorsehe, sei nicht zu erkennen. Da der Gesetzgeber die Ausnahmen von dem grundsätzlich mit dem Eintritt des Versicherungsfalls gesetzten Beginn des Laufs der sechsmonatigen Antragsfrist zu wenig weit gezogen und geschäftsunfähige Erwachsene unberücksichtigt gelassen habe, also eine entsprechende Ausnahme fehle, könne der verfassungskonforme Zustand nur durch die Beseitigung der Regel hergestellt werden.

[26] II.3.3 Die Aufhebung trat mit Ablauf des 30. 6. 2018 in Kraft, frühere gesetzliche Bestimmungen traten nicht in Kraft. Ohne Tätigwerden des Gesetzgebers hätte diese Aufhebung im Ergebnis bedeutet, dass ab diesem Zeitpunkt alle Hinterbliebenenpensionen unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalls folgenden Tag anfallen (Weißensteiner, Anmerkung zu VfGH G 125/2017,DRdA‑infas 2018/61, 108).

[27] II.4.1 Dieser Situation begegnete der Gesetzgeber mit der Novellierung des § 86 ASVG mit dem Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz (ErwSchAG BMASGK), BGBl I 2018/59, dahin, dass die Fristverlängerung nicht nur für Minderjährige, sondern auch für beschränkt geschäftsfähige Erwachsene gilt. Ist die anspruchsberechtigte Person bei Ablauf der Frist von sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalls minderjährig oder in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt, so endet die Frist zur Antragstellung mit Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit oder dem Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit. Nach dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales sollte mit der vorgeschlagenen Änderung die vom Verfassungsgerichtshof aufgezeigte sachliche Ungleichbehandlung geschäftsunfähiger volljähriger Personen beseitigt werden (AB 231 BlgNR 26. GP  2).

[28] II.4.2 Ist der Versicherungsfall (der Tod des Versicherten) nach dem Datum des Inkrafttretens am 15. 8. 2018 eingetreten, ist nach der neuen Rechtslage somit eine rückwirkende Antragstellung so lange möglich als die Geschäftsunfähigkeit der volljährigen Waise besteht; diese Möglichkeit endet erst nach Ablauf von sechs Monaten nach Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit.

[29] II.4.3 Die neue Regelung trat mit Ablauf des Tages der Kundmachung im Bundesgesetzblatt mit 15. 8. 2018 in Kraft. Eine Übergangsbestimmung findet sich nicht im Gesetz.

[30] II.5.1 Grundsätzlich sind nur nach dem Inkrafttreten eines Gesetzes verwirklichte Sachverhalte nach dem neuen Gesetz zu beurteilen (§ 5 ABGB), außer es wäre eine Rückwirkung – etwa in Übergangsvorschriften – angeordnet. Auch im Bereich des Sozialversicherungsrechts ist eine geänderte gesetzliche Bestimmung ohne besondere Übergangsregelung nur auf jene Fälle anwendbar, die einen Sachverhalt zum Gegenstand haben, der sich nach dem Wirksamkeitsbeginn der geänderten Bestimmung ereignet (RS0008706).

[31] II.5.2 Eine Rückwirkungsanordnung ist – wie erwähnt – im ErwSchAG BMASGK, BGBl I 2018/59, nicht enthalten. Die neue Bestimmung kommt somit erst für Fälle in Betracht, in denen der Versicherungsfall nach dem 15. 8. 2018 eingetreten ist.

[32] II.6.1 Daraus folgt für den vorliegenden Fall:

[33] Nach der zum Todestag des Versicherten (dem 9. 8. 1980) geltenden Fassung des § 86 ASVG (BGBl I 1976/704), war für Personen, die aus Gründen einer geistigen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage waren, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu besorgen, keine Sonderreglung vorgesehen, sodass nach Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt des Versicherungsfalls eine auf den Todeszeitpunkt zurückwirkende Antragstellung ausgeschlossen war (10 ObS 260/95 SSV‑NF 10/6). Diese Rechtslage hat durch die zum Zeitpunkt der Antragstellung im Jahr 2014 geltende Fassung des § 86 ASVG, BGBl I 1993/335, keine Änderung erfahren.

[34] II.6.2 Durch die neuerliche Antragstellung im Jahr 2019 kann die Klägerin die Anwendung der durch das ErwSchAG BMASGK (BGBl I 2018/59) novellierten Fassung des § 86 Abs 3 ASVG (die erstmals nunmehr auch für geschäftsunfähige Erwachsene eine Sonderregelung enthält) nicht herbeiführen und somit auch nicht einen den auf den Todestag (Stichtag) zurückwirkenden Anfall der Leistung erreichen:

[35] Wird durch einen Antrag auf Pensionsgewährung ein Stichtag ausgelöst und damit ein Leistungsanspruch erworben, ist nach der (zur Alterspension ergangenen) Rechtsprechung der Versicherungsfall „konsumiert“. Dass jemand, der bereits einen Anspruch auf Alterspension realisiert hat, auch dann, wenn er später weitere Versicherungszeiten erworben hat, neuerlich einen Anspruch auf Alterspension geltend machen kann, ist ausgeschlossen. Die Voraussetzung (des Erreichens des Regelpensionsalters) ist in beiden Fällen dieselbe, sodass es sich um einen identen Versicherungsfall handelt, über den bereits entschieden wurde (10 ObS 2315/96f; RS0107674).

[36] II.6.3 Auch beim Anspruch auf Waisenpension kann nach dem Anfall und dem Bezug der Waisenpension kein weiterer Anspruch auf eine solche entstehen. Die 2019 erfolgte neuerliche (rückwirkende) Antragstellung kann nicht zur Entstehung des nicht mehr bestehenden Anspruchs auf Waisenpension führen, die daher auch nicht „neu“ anfallen kann (10 ObS 12/09a, SSV‑NF 23/18).

[37] II.7 Im Hinblick darauf ist auf die (von den Vorinstanzen unterschiedlich beurteilte) Frage, ob der Bescheid vom 10. 10. 2014 als teilweise stattgebender Bescheid implizit eine Abweisung des Restantrags enthält oder ob die Entscheidung insoweit unvollständig ist (siehe RS0114922 [T1]), nicht mehr einzugehen.

[38] II.8 Die Waisenpension wäre nur dann mit dem Tod des Vaters der Klägerin angefallen, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach dem Todestag gestellt worden wäre. Hat die Klägerin diesen Antrag tatsächlich nicht gestellt, lässt sich die Fiktion eines derartigen Antrags auch nicht aus dem Grundsatz der sozialen Rechtsanwendung ableiten (RS0086446 [T1]). Das Gesetz kennt kein Institut, das einen Versicherten von versicherungsrechtlichen Nachteilen bewahrt, wenn ihm ohne sein Verschulden eine zeitgerechte Antragstellung nicht möglich war (RS0085841).

[39] II.9 Die Neuregelung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch das ErwSchGAG BMASGK, BGBl I 2018/59, gibt somit keine Rechtsgrundlage für den von der Klägerin rückwirkend geltend gemachten Anspruch auf Waisenpension. Zur Durchsetzung ihres Rechtsstandpunkts hätte die Klägerin gegen den Bescheid vom 10. 10. 2014 Klage erheben und im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens einen Parteiantrag auf Normenkontrolle zu § 86 Abs 3 ASVG an den Verfassungsgerichtshof stellen müssen, um in den Genuss der Anlassfallwirkung zu kommen.

[40] II.10 Der Revision der Klägerin ist daher nicht Folge zu geben.

[41] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch aus Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

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